Alexandra Kollontai

Die Situation der Frau in der
gesellschaftlichen Entwicklung

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13. Vorlesung

Die Diktatur des Proletariats:
Die Revolutionierung der
Lebensgewohnheiten


Wir sprachen während der letzten Vorlesung über die Revolutionierung der Lebensgewohnheiten unter der Diktatur des Proletariats. Natürlich beschränkt sich dieser Prozess nicht nur auf die Einrichtung von öffentlichen Volkskantinen und Kinderkrippen und auf die Einführung des gesetzlichen Mutterschutzes und des staatlichen Schulsystems. Die momentanen gesellschaftlichen Veränderungen sind weit umfassender und wesentlich durchgreifender und erfassen nahezu sämtliche Lebensbereiche. Dieser Prozess zeigt sich besonders deutlich bei der Umwälzung der traditionellen Lebensgewohnheiten und Denkweisen. Die Generationen der zukünftigen Geschichtswissenschaftler werden deshalb unsere heutige Epoche mit besonders großem Interesse studieren: Denn wir leben in einer Zeit, in der wir mit dem Althergebrachten konsequent brechen. Wir bauen eine neue Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung auf, und zwischen den Menschen entstehen neue Beziehungen. Und all dies entwickelt sich ungeheuer schnell. Deshalb sind wir auch zur Zeit außerstande, selbst zu entscheiden, inwiefern unsere heutige Gesellschaft bereits Ansätze für eine hoffnungsvollere Zukunft entwickelt hat. Denn wir sind ganz einfach noch blind für die zahlreichen jungen, aber schon lebensfähigen Pflanzkeime einer kommunistischen Zukunft, die auf den Schlachtfeldern des Bürgerkrieges herangereift sind. Wir können diese Keime deshalb noch nicht sehen, weil sie von den Trümmern der Vergangenheit noch zugedeckt sind und weil unsere eigenen Augen noch blind sind von Tränen und Blut. Aber auch noch dort, wo diese Pflanzkeime unter dem Staub der letzten Jahrhunderte verschüttet waren, wurden diese Ablagerungen durch einen gewaltigen Orkan – der durch den erbitterten Kampf zweier Welten ausgelöst worden ist – zuerst aufgepeitscht und endlich abgetragen. Und wenn auch unsere großartige Initiative mit dem vergossenen Blut teuer bezahlt worden ist: Wir haben den Anfang gemacht. Wir haben das jahrtausendealte Eis aufgesprengt und die Strahlen der wärmenden Frühlingssonne umschmeicheln nun die freigegebene Erde. Die lebenslustigen Frühlingsbäche schwemmen die Eisschollen weg und waschen die Erde rein. Schaut euch doch selbst in Russland um: Ist dies etwa noch dasselbe Land wie vor fünf Jahren? Sind dies etwa noch dieselben Arbeiter, Bauern oder gar „Kleinbürger“, wie wir sie unter der Diktatur des Zarismus gekannt haben? Ihre Gedanken, ihre Gefühle und die Inhalte ihrer Arbeit haben sich verändert. Mit einem Wort, in der Sowjetrepublik herrscht heute eine ganz andere Atmosphäre als früher. Jedes Mal wenn heute einer von uns in ein bürgerlich-kapitalistisches Land fährt, hat er dort das Gefühl, plötzlich wieder in einem anderen Jahrhundert zu leben; denn wir beurteilen die Gegenwart dieser historisch zurückgebliebenen Länder von der hohen Warte der Zukunft aus. Wir haben durch unsere eigenen Erfahrungen die Zukunft konkret kennengelernt, die unsere Schwestern und Brüder in den bürgerlich-kapitalistischen Ländern eben nur verstandesmäßig begriffen haben und nicht aufgrund ihrer eigenen Praxis. Manchmal erschaudern wir, wenn wir uns dessen bewusst werden, wie „klug“ wir eigentlich schon sind und welch ungeheuren Erfahrungsschatz uns die Revolution doch gebracht hat. Genau diese Erfahrungen haben uns nämlich einerseits von unserer eigenen Vergangenheit, die tatsächlich zeitlich noch gar nicht so lange zurückliegt und die nach wie vor äußerst aktuell ist, entfremdet und andererseits zu gleicher Zeit unserer eigenen Zukunft näher gebracht. Deshalb fällt es uns auch leichter, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu blicken. Im Vergleich mit den Genossen, denen die Erfahrungen des vierjährigen Bürgerkrieges fehlen, haben wir einen gewaltigen Vorsprung: Aufgrund unserer fieberhaften Experimente und unserem Suchen nach dem „kürzesten Weg“ zum Kommunismus begreifen wir heute die Probleme wesentlich schneller als vor der Revolution. Obwohl wir viele Fehler gemacht haben, ist unser revolutionäres Experiment ein kühner und wichtiger Versuch, die Lebensbedingungen so zu verändern, dass ein viele Millionen umfassendes Kollektiv durch eine organisierte Willensanstrengung die blinden Kräfte der kapitalistischen Wirtschaft unter Kontrolle bringt. Mit der Arbeiterrevolution in Russland beginnt ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte, auch wenn der Weg zum Kommunismus noch sehr lange und anstrengend ist: Wir haben zumindest das Fundament für die kommunistische Gesellschaftsordnung gelegt, und das Proletariat wird von den eigenen Fähigkeiten überzeugt und im Bewusstsein seiner historischen Rolle dieses Endziel ohne Zaudern anstreben. Denn dieses Endziel ist schon längst nicht mehr eine bloße Zukunftsträumerei; die Arbeiterklasse kann bereits heute, wenn sie ihre Hände der Zukunft tastend entgegenstreckt, die kommunistische Wirklichkeit mit ihren Fingerspitzen berühren.

Die gesellschaftlichen Veränderungen, die durch die Oktoberrevolution ausgelöst worden sind, spiegeln sich besonders deutlich im subjektiven Denken der Arbeiter und ihrer Einstellung zum Leben wider. Sprecht mit den Arbeitern! Denken sie noch genauso wie vor der Revolution? Vor der Revolution hatten die Arbeiter kein Selbstvertrauen. Diese Arbeiter glichen oft gehorsamen Sklaven, sie waren verbittert, verarmt, eingeschüchtert und vereinzelt. Im Bewusstsein dieser Arbeiter waren die Rechtsnormen der ungerechten Gesellschaftsordnung, durch die die Arbeiter ständig unterdrückt wurden, zeitlos und unveränderbar. Hätte irgendjemand damals zu den Arbeitern gesagt: „Ihr könnt die Macht ergreifen, wenn das Millionenheer des Proletariats nur will“, dann hätten die Arbeiter nur misstrauisch mit dem Kopf geschüttelt.

Und heute? Das Proletariat leidet natürlich augenblicklich noch sehr unter dem herrschenden Mangel an Lebensmitteln, Textilien und Schuhen. Natürlich bringt die Arbeiterklasse zur Zeit noch große Opfer, und trotzdem hat die Arbeiterklasse ein Selbstbewusstsein gewonnen und ist heute eine gesellschaftliche Kraft. Aber von all diesen Veränderungen ist die Einsicht des Proletariats, dass die Gesellschaft von Grund auf verändert werden kann, wenn die Arbeiterklasse sich nicht mit der Reform der Gesetzgebung oder der zwischenmenschlichen Beziehungen zufriedengibt, sondern unter seiner Führung die gesamte Gesellschaft verändert, weitaus am wichtigsten. Die Diktatur der Zaren, Industriellen und Gutsherren unterscheidet sich inhaltlich völlig von der Diktatur des Proletariats. Und heutzutage ist die Arbeiterklasse der Bauherr einer neuen Gesellschaft. Es ist zwar gut möglich, dass die Arbeiterklasse nicht immer der geschickteste Bauherr ist; entscheidend ist im Moment aber, dass sie die Macht im Staate in Besitz genommen hat. Es ist der bisher größte Sieg in der Geschichte der arbeitenden Menschheit, dass die gesetzmäßige Entwicklung der ursprünglichen Akkumulation in der Übergangsperiode durch das Kollektiv gemeistert wird. Wir wollen diesen Prozess anhand der Rolle, die die Arbeiterinnen heute haben, verdeutlichen, denn ihr Bewusstsein hat sich ja noch deutlicher wahrnehmbar verändert als das der Arbeiter. Für die Mehrheit unserer Frauen ist es durchaus typisch, dass die Arbeit im Kollektiv ein gesellschaftliches Bewusstsein und eine zwischenmenschliche Solidarität hervorgebracht.hat. Diese Frauen fühlen sich für ihre Gesellschaft verantwortlich. Wenn wir uns daran erinnern, dass die Frauen jahrhundertelang dazu erzogen worden sind, die Einzelfamilie als wichtigsten Lebensinhalt zu verinnerlichen, dann ist diese Entwicklung etwas Revolutionäres. Sowohl die Industriearbeiterin als auch die nichtberufstätige Ehefrau des Arbeiters sind sich heute sehr wohl darüber im Klaren, dass sie gleichberechtigte Staatsbürgerinnen sind. Auch wenn die Frauen heute noch keine gesellschaftliche Arbeit ausüben, so haben sie doch sehr wohl ein Bedürfnis nach Selbstbestätigung. Diese Frauen weisen uns dann regelmäßig auf ihre Arbeiten im Haushalt und auf die Kindererziehung hin und kritisieren, dass wir noch nicht über genügend Betreuungsstellen für Kinder verfügen und dass das Essen in den öffentlichen Volkskantinen wirklich miserabel sei. Wenn wir dies alles erst einmal richtig in Ordnung gebracht hätten, dann bestünde auch für sie die Möglichkeit, politische Arbeit in einer Frauenabteilung der Partei oder der Gewerkschaft zu leisten.

Die Revolution hat die Frau also nicht nur aus der abgeschlossenen und erstickenden Atmosphäre der Einzelfamilie befreit und ihr endlich Zutritt zur Gesellschaft verschafft, sondern sie hat der Frau auch unglaublich schnell ein Solidaritätsgefühl mit dem Kollektiv vermittelt. Der große Erfolg der Subbotnikbewegung ist für diese Entwicklung ein eindrucksvolles Beispiel. Sowohl Arbeiterinnen, die in der Partei organisiert sind, als auch parteilose Arbeiterinnen, nichtberufstätige Ehefrauen aus Arbeiterfamilien und Bäuerinnen haben an unseren kommunistischen Samstagen freiwillig mitgearbeitet. Im Jahre 1920 nahmen z. B. in 16 Gouvernements insgesamt 150.000 berufstätige Frauen teil. Natürlich ist auch dies ein Zeichen dafür, dass das gesellschaftliche Bewusstsein der Frauen sich entwickelt und dass die Frau einsieht, dass die allgemeine Bürgerkriegsverwirrung, die Massenerkrankungen, der Hunger und die Kälte nur durch gemeinsame Anstrengungen des Kollektivs bekämpft und schließlich überwunden werden können. Diese freiwillige Subbotnikbewegung ergänzt die allgemeine Arbeitspflicht und die notwendige Arbeit, und sie wird von der Arbeiterklasse nicht mehr wie früher als Zwang erlebt wie etwa zu der Zeit als die Arbeiter noch Lohnsklaven waren. Die Arbeit ist zu einer gesellschaftlichen Pflicht geworden, nur noch vergleichbar mit jener Arbeit, die während der Frühgeschichte der Menschheit jedes Stammesmitglied für das Gesamtkollektiv geleistet hat. Beobachtet doch einmal die Kolonnen der parteilosen Frauen, die ihren Herd verlassen, um nur ja pünktlich zum Beginn ihres Subbotniks zu kommen. Diese Frauen schleppen Brennholz, schippen Schnee, nähen Uniformen für Soldaten unserer Roten Armee, putzen in den Krankenhäusern und Kasernen, etc. Viele dieser Frauen haben selbst eine Familie und wenn sie nach Hause gehen, dann wartet dort schon wieder Arbeit auf sie, die unbedingt sofort erledigt werden muss. Trotzdem ist aber bei unseren Frauen ein Bewusstsein dafür entstanden, dass es für die Frauen am vorteilhaftesten ist, wenn sie ihren eigenen kleinen Einzelhaushalt vernachlässigen und stattdessen im Volkshaushalt mitarbeiten. Deshalb lassen die Frauen ihre Haushaltsarbeiten halbfertig zuhause liegen und verrichten innerhalb der Subbotnikbewegung gesellschaftlich nützliche und dringende Arbeiten, Nun werden einige von euch aber wahrscheinlich sagen: „Na ja, das trifft doch tatsächlich nur auf eine Minderheit der parteilosen Arbeiterinnen und Bäuerinnen zu.“ Natürlich habt ihr mit dieser Bemerkung völlig recht. Aber es werden eben laufend mehr Frauen und nicht weniger, und außerdem ist es halt sehr wichtig, dass es nicht nur Kommunistinnen, sondern auch Frauen sind, die nicht in der Partei organisiert sind. Diese Minorität erzieht durch ihre Aktivitäten die Majorität der Frauen. Redet doch einmal mit einer Arbeiterin, die sich noch nie an einem Subbotnik beteiligt hat. Wie leidenschaftlich und heftig verteidigt diese Arbeiterin ihr Recht, die freiwillige Arbeit für die Gesellschaft zu vernachlässigen. Diese Arbeiterin hat unglaublich viel Argumente zur Verfügung, warum gerade sie das moralische Recht habe, sich dieser Arbeit zu entziehen. Die letzten vier Jahre haben das Bewusstsein unserer Frauen über den Zusammenhang zwischen dem Wiederaufbau unsrer Volkswirtschaft und der Befriedigung ihrer persönlichen Bedürfnisse dermaßen geschärft, dass sie auf diese Frage alle sehr ähnlich reagieren. Denn es gibt einerseits kein Brennholz, andererseits stehen jedoch mehrere Güterwagen mit Brennholz auf dem örtlichen Bahnhof herum. Ein Subbotnik ist also fällig, denn diese Güterwagen müssen entladen werden. Ein anderes Beispiel: Eine ansteckende Seuche bricht in der Stadt aus. Die Bevölkerung muss also einen Subbotnik organisieren, um die Straßen der Stadt ordentlich zu säubern. In einer solch zugespitzten Situation verurteilt die Arbeiterklasse natürlich diejenigen, die selbst nicht bereit sind, einen an und für sich unbedeutenden Beitrag an dieser freiwilligen, aber gleichwohl gesellschaftlich nützlichen Arbeit zu leisten. Denn genau dieselben Leute fordern vom örtlichen Sowjet, dass ihre Bedürfnisse befriedigt werden. Aufgrund dieser Entwicklung entsteht ein neuer Moralkodex in der Arbeiterschaft, und ein neuer Begriff setzt sich mehr und mehr durch: Produktionsdeserteur.

In der bürgerlichen Gesellschaft wird der faule und schlechte Arbeiter zwar einerseits getadelt, andererseits aber vertritt die Bourgeoisie die Auffassung, dass Arbeit eine Privatsache ist. Wenn du arbeiten willst, bitte sehr. Wenn du aber keine Lust hast zu arbeiten, dann musst du eben verhungern, oder du lässt andere für dich arbeiten. Die letztere Einstellung, der sogenannte „Unternehmergeist“, genießt in den kapitalistischen Ländern besonderes Ansehen und die Bourgeoisie verurteilt einen Leichtfuß auch nur dann, wenn er nicht auf eigene Rechnung sondern auf die eines kapitalistischen Unternehmers arbeitet. Wenn z. B. ein Arbeiter seine Arbeitskraft an einen Unternehmer verkauft, aber seine Arbeitskraft nur teilweise in den Arbeitsprozess einbringt, dann vertritt der Unternehmer den Standpunkt, dass er betrogen worden ist, weil sein Mehrwert verringert worden ist. Natürlich verurteilt die Bourgeoisie eine solch nachlässige Haltung des Arbeiters. Andererseits aber kann der Sohn eines Bourgeois oder Aristokraten, der seinen Arbeitsplatz sowieso nur aufgrund seines Namens und gesellschaftlichen Ranges erhalten hat, der übelste Drückeberger und Leichtfuß sein, ohne dass die Bourgeoisie seine Produktionsdesertion rügt. Denn: „Der Mensch darf selbst bestimmen, ob er arbeiten will oder nicht. Es ist seine eigene persönliche und höchst private Angelegenheit.“ Dies war und ist die Auffassung der Bourgeoisie. Beachtet bei diesem Argument auch bitte, dass z. B. ein selbständiger Bauer, der seine Landwirtschaft miserabel verwaltet, oder ein kleiner Unternehmer, der seine Firma herunterwirtschaftet, nicht wegen der wirtschaftlichen Schäden, die sie der Volkswirtschaft zufügen, kritisiert werden, sondern weil sie nicht fähig waren, ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen besser wahrzunehmen.

Die Produktionsweise in unserer Arbeiterrepublik unterscheidet sich prinzipiell von der der bürgerlichen Gesellschaften. In der Praxis des sozialistischen Produktionsprozesses werden die Werktätigen in einem völlig neuen Geist erzogen, sie denken und fühlen anders als früher, und natürlich fordert diese Einstellung gegenüber der Arbeit sehr viel Selbstdisziplin. Dieses Bewusstsein hat übrigens zu grundsätzlich neuen Beziehungen der Menschen untereinander geführt, die auch das Verhältnis zwischen dem Kollektiv und dem Individuum neu regeln. Im Gegensatz dazu regeln die zwischenmenschlichen Verhaltensnormen der bürgerlichen Gesellschaften zumeist nur die Beziehungen der einzelnen Individuen untereinander, während dem Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtgesellschaft nur eine zweitrangige Bedeutung zukommt. Es gab im Zarenreich wesentlich weniger Verhaltensregeln, die die Pflichten des Individuums gegenüber der Gemeinschaft regelten als entsprechende Normen, die das Verhältnis der Menschen untereinander festlegten. Zu den Pflichten des Einzelnen gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft gehörte im zaristischen Russland insbesondere die Pflicht, das Vaterland zu verteidigen und dem Zaren treu zu dienen. Das Gebot: „Du sollst nicht töten“ wurde in der Praxis durch die jeweiligen Umstände relativiert. Besonders wichtig war damals natürlich die lange Liste von Gesetzen und Verordnungen, die das Recht auf Privateigentum und andere private Vorrechte garantierten: Du sollst nicht stehlen. Du darfst nicht faul sein. Lass deine Finger von einer verheirateten Frau. Betrüge nicht beim Geschäftemachen. Du musst sparsam sein.

In unserer proletarischen Gesellschaft verdeutlichen die Verhaltensnormen dagegen die Interessen der Gemeinschaft. Wenn deine Handlungen dem Kollektiv nicht schaden, dann gehen sie auch keinen Bürger etwas an. Andererseits wird aber in unserer Arbeiterrepublik so manche Verhaltensweise, die in der bürgerlichen Gesellschaft als respektabel gilt, allgemein abgelehnt. Welche Einstellung hat z. B. die bürgerliche Moral dem Geschäftsmann gegenüber? Solange er seine Buchhaltung korrekt führt, keinen betrügerischen Konkurs gemacht hat, sich nicht beim Betrügen erwischen lässt oder auf andere Art und Weise seine Kunden offen hintergeht, erhält der Geschäftsmann von der bürgerlichen Gesellschaft den Ehrentitel „tadelloser Bürger“ oder „ehrlicher Mann“.

Wir waren während der Revolution gezwungen, unsere Einstellung gegenüber den Geschäftsleuten grundsätzlich zu ändern, denn der „tadellose Bürger“ von Anno dazumal entpuppte sich als Spekulant. Wir teilen an solche Bürger bestimmt keine Ehrentitel aus. Ganz im Gegenteil. Denn bei uns werden solche Herren der Tscheka übergeben, die sie dann in ein Arbeitslager einweist. Und warum tun wir dies? Weil wir eben ganz genau wissen, dass wir den Kommunismus nur dann aufbauen können, wenn alle erwachsenen Staatsbürger produktive Arbeit leisten. Wer aber, anstatt selbst zu arbeiten, auf Kosten der anderen leben möchte, ist für die Gesellschaft und den Staat ein Schädling, und deshalb verfolgt die Polizei auch alle Aktionäre, Händler, Grossisten, d. h. alle Individuen, die ohne selbst zu arbeiten von der Arbeit der anderen leben.Solche Menschen werden von uns aufs Schärfste verurteilt.

Aufgrund der neuen Produktionsweise entstehen aber auch neue sittliche Normen. Natürlich können wir unmöglich alle Menschen innerhalb von drei, vier oder sogar zehn Jahren zu herausragenden Kommunisten machen. Aber wir sehen doch andererseits, dass bei den meisten Menschen ein neues Bewusstsein entsteht. Dieser Prozess ist sehr wichtig, und wir sollten wirklich darüber erstaunt sein, wie schnell unser aller Denken und Fühlen sich der neuen gesellschaftlichen Entwicklung angepasst haben und dass bereits jetzt neue Verhaltensnonnen entstanden sind. Diese Entwicklung merken wir am deutlichsten, wenn wir die Beziehung zwischen Mann und Frau studieren. Die Widerstandsfähigkeit der Einzelfamilie hat bereits während dem Weltkrieg nachgelassen; und diese Entwicklung können wir nicht nur in Russland, sondern auch in allen anderen Staaten, die an dem Krieg beteiligt waren, studieren. Zunächst nahm der Anteil der Frauenarbeit in der Produktion zu. Diese Entwicklung führte natürlich zu einer größeren wirtschaftlichen Selbständigkeit der Frauen und außerdem zu einem Anstieg der Anzahl der unehelichen Kinder. Menschen, die sich liebten, fanden jetzt zueinander, ohne sich noch lange um die Vorurteile der bürgerlichen Gesellschaft oder der Kirche zu kümmern. Sogar der bürgerliche Staat sah sich gezwungen, die unehelichen Kinder in den Soldatenfamilien, zumindest finanziell,genauso zu behandeln wie die ehelichen Kinder.

In der Sowjetrepublik verliert die Ehe immer mehr an Bedeutung. Bereits in den ersten Monaten nach der Revolution wurde die kirchliche Trauung abgeschafft und alle bisherigen gesetzlichen Unterschiede zwischen den unehelichen und den ehelichen Kindern aufgehoben. Die mit diesen Maßnahmen einhergehende Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht trug ebenfalls dazu bei, dass die Frau als eigenständiger Faktor in unserer Gesellschaft anerkannt wurde. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die Eheschließung ein gegenseitiger Vertrag zwischen Mann und Frau, durch Trauzeugen bekräftigt und durch den göttlichen Segen für unverletzlich und unauflösbar erklärt. Einerseits verpflichtet sich der Ehemann dazu, seine Ehefrau zu versorgen, und andererseits verpflichtet sich die Ehefrau dazu, das Eigentum des Ehemannes zu schützen und zu pflegen, den Mann und seine Kinder – also die Erben seines Vermögens – zu bedienen, ihm ewige Treue zu halten und die Familie nicht durch uneheliche Kinder zusätzlich zu belasten. Denn durch einen Ehebruch der Frau könnte das Gleichgewicht des Familienhaushaltes gestört werden. Deshalb ist es auch durchaus logisch, dass die Ehebrecherin durch das bürgerliche Gesetz schonungslos verfolgt wurde, während es gleichzeitig dem Ehebrecher gegenüber recht großzügig verfuhr. Denn die Seitensprünge des Ehemannes gefährdeten ja schließlich nicht die Existenz des privaten Familienhaushaltes. Habt ihr euch eigentlich schon einmal darüber Gedanken gemacht, warum die bürgerliche Gesellschaftsordnung die unverheiratete Mutter diskriminiert? Die Antwort ist sehr einfach. Wer soll denn für das Kind aufkommen, wenn das Liebesverhältnis nicht legalisiert worden ist? Entweder müssen die Eltern des „gefallenen Mädchens“ für das Kind sorgen, was natürlich nicht im Interesse der Familie des Mädchens ist, oder aber die örtlichen staatlichen Stellen müssen für die Kosten aufkommen. Dies ist aber wiederum nicht im Interesse des bürgerlichen Staates, der sich grundsätzlich davor scheut, soziale Aufgaben zu finanzieren.

Andererseits müsst ihr natürlich berücksichtigen, dass seit Mitte des letzten Jahrhunderts die Frau vom Manne immer stärker wirtschaftlich und finanziell unabhängig wurde, weil sie sich durch eigene Arbeit ernährte. Genau seit diesem Zeitpunkt hat sich auch die Einstellung der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem unehelichen Kind etwas geändert. In einer Reihe von Romanen und wissenschaftlichen Studien wurde nun das „Recht“ der Frau und Mutter diskutiert und das Existenzrecht der unverheirateten Mütter verteidigt. Heute gibt es in unserer Arbeiterrepublik (zumindest in den Städten) die Tendenz, den privaten Einzelhaushalt durch neue gesellschaftliche Formen des kollektiven Lebens und Konsums – d. h. durch die Einrichtung von Hauskommunen, öffentlichen Volkskantinen, etc. – zu ersetzen. Die berufstätige Frau erhält ihre eigene Lebensmittelkarte und ein dichtes Netz von sozialen staatlichen Einrichtungen ist im Entstehen. Deshalb hat sich der Charakter der Ehe verändert, die Partnerschaft beruht auf gegenseitiger Sympathie und nicht mehr auf wirtschaftlicher Berechnung. (Natürlich gibt es noch Ausnahmen von dieser Regel, die ich später noch behandeln, werde.) Es ist deshalb auch nicht mehr notwendig, dass ein Liebespaar heiratet, da jeder von ihnen einen Anspruch auf Wohnraum, Brennholz, Lebensmittel und Textilien hat, die aufgrund der Bezugsscheine und durch Sonderzulagen des eigenen Betriebs garantiert werden. Die Höhe der Zuteilung hängt von der Arbeitsleistung ab. Durch eine Heirat verbessert sich die materielle Situation der Partner nicht. In den Landesteilen, wo unsere Arbeiterrepublik aufgrund der großen Armut noch nicht in der Lage ist, diese sozialen Verpflichtungen einzuhalten und die geplanten Produktionsziele zu erreichen, sind die Menschen natürlich nach wie vor auf das Warenangebot auf dem freien Markt angewiesen. Das hat aber zur Konsequenz, dass der private Familienhaushalt weiter existiert, dass die Familienmitglieder z. B. selbst Brennholz organisieren müssen, etc. Aufgrund dieser Tatsache ist die Ehe auch noch immer ein wirtschaftliche Einrichtung, und eine Frau kann z. B. in eine Situation kommen, in der sie sich dazu durchringen muss, mit einem Mann zusammenzuleben, nicht etwa weil sie ihn liebt, sondern weil er ein eigenes Zimmer in einer Hauskommune besitzt. Oder aber ein Mann heiratet eine Frau einfach deshalb, weil man mit einer doppelten Brennholzration das Zimmer besser heizen kann. Solche Erscheinungen sind entwürdigend und abstoßend. Wir werden aber dies Überbleibsel aus unserer Vergangenheit so lange nicht überwinden, wie es uns noch nicht gelungen ist, das allgemeine wirtschaftliche Chaos in unserer Arbeiterrepublik zu beseitigen. Trotzdem weist die allgemein vorherrschende Entwicklungstendenz darauf hin, dass der offizielle Ehevertrag in der heutigen Sowjetrepublik kaum noch materielle Vorteile mit sich bringt und dass deshalb auch die freien Liebesverhältnisse ständig zunehmen.

Zwar sieht das Dekret Über die Zivilehe noch vor, dass beide Partner verpflichtet sind, für den jeweils anderen zu sorgen, wenn dieser nicht arbeiten kann; diese Bestimmung berücksichtigt jedoch den spezifischen Charakter der Übergangsperiode, in der nämlich die Arbeiterrepublik noch nicht in der Lage ist, die notwendigen sozialen Einrichtungen zu entwickeln, den kollektiven Lebensstandard zu erhöhen und die arbeitsunfähigen Bürger zu versorgen. Die jetzigen Verhältnisse aber werden in der Zukunft von allein verschwinden, sobald die Volkswirtschaft wieder in Gang gekommen ist. Dann werden wir auch sofort die sozialen Einrichtungen ausbauen und die obige Bestimmung wird in der Praxis bald keine Rolle mehr spielen. Denn was besagt diese Bestimmung „den arbeitsunfähigen Ehepartner zu versorgen“ eigentlich genau, wenn jeder Ehepartner seine eigene Ration zugeteilt bekommt? Es bedeutet nichts anderes, als dass der eine Ehepartner seine Ration mit dem anderen teilen muss. Tatsächlich sind dazu nur wenige Menschen bereit. Außerdem würden sich in einer normalisierten gesellschaftlichen Situation beide Ehepartner an die staatlichen Stellen wenden, die für die Versorgung der erkrankten Bürger ja normalerweise auch verantwortlich sind, und den Kranken entweder in ein Krankenhaus, Sanatorium, Alters- oder Kriegsversehrtenheim einliefern würden. Kein vernünftiger Mensch würde in einer solchen Situation dem gesunden Ehepartner daraus einen Vorwurf machen, obwohl die oben zitierte Bestimmung eigentlich noch vorschreibt, dass nicht die Gesellschaft sondern der zweite Ehepartner die wirtschaftliche Versorgung des arbeitsunfähigen Partners übernehmen muss. Es erscheint mir außerdem vollkommen korrekt, dass in einer solchen Situation der Ehepartner von den im Dekret vorgeschriebenen Versorgungspflichten gegenüber seinem Partner befreit wird, mögen sich die beiden Menschen auch noch so lieb haben. In einem solchen Fall ist es die Aufgabe der Gesamtgesellschaft, diese Verantwortungslast zu übernehmen, denn das Gesamtkollektiv ist verpflichtet, seine Mitglieder materiell zu versorgen, so lange sie arbeitsunfähig sind. Solange dieser Mensch nämlich noch arbeitsfähig war, hat er durch seine Arbeit jene Gebrauchsgüter produziert, die heute von der Gesellschaft auch an die kranken, alten oder invaliden Bürger verteilt werden. Er hat also selbst die Vorräte für die notwendigen Rationen produziert.

Vor unseren Augen spielt sich eine gewaltige Veränderung der bisherigen Ehebeziehungen ab. Besonders beachtenswert ist aber, dass sich dieses neue Bewusstsein und die sich abzeichnenden neuen Verhaltensnormen auch in vielen bürgerlichen Familien durchsetzen. Denn von dem Augenblick ab, von dem die bürgerlichen Frauen – diese ehemaligen Schmarotzerinnen – in den sozialen Einrichtungen der örtlichen Sowjets mitarbeiten und viele zum ersten Male ihr eigenes Brot verdienen, gewinnen sie auch eine unabhängigere Stellung gegenüber ihren Männern. Es ist auch gar nicht so selten, dass die Ehefrau mehr verdient als der Ehemann, und in einer solchen Situation verwandelt sich die ehemals unterwürfige und gedemütigte Gattin auf einmal in das Oberhaupt der Familie. Sie geht zur Arbeit, und der Ehemann bleibt zuhause. Er hackt Holz, heizt den Ofen an und geht auf den Markt einkaufen. Früher erlebten diese damals noch sehr eleganten Damen einen hysterischen Anfall, wenn ihr Gatte nicht bereit war, einen neuen Hut für den Frühling oder ein Paar neue Schuhe zu erstehen. Heute wissen diese Frauen selbst sehr gut, dass sie von ihren Männern nichts mehr zu erwarten haben; deshalb sparen sie sich ihre hysterischen Anfälle lieber für den Abteilungsleiter ihrer staatlichen Behörde oder für ihren Bürochef auf und erpressen sich so eine Sonderzuteilung oder Extraration.

Wir müssen aber auch gerechterweise sehen, dass viele der Frauen, die früher zu den besseren Kreisen gehörten, die großen Anstrengungen der Übergangsperiode wesentlich besser bewältigt haben als ihre dahinsiechenden intellektuellen Ehemänner. Denn diese Frauen haben gelernt, einerseits ihren Haushalt und andererseits ihren Beruf miteinander zu vereinen, und sie haben sich trotz aller Schwierigkeiten und Misserfolge tapfer durchs Leben geschlagen. Deshalb ist es auch durchaus typisch, dass wir sogar in den großbürgerlichen Familien Ansätze für eine Rationalisierung der Hausarbeit finden können. Außerdem besteht auch in diesen Familien vielfach die Tendenz, von dem kollektiven Konsum Gebrauch zu machen und z. B. die Kinder in einen öffentlichen Kindergarten zu schicken.

Kurz und gut, wir können also auch hier eine Auflockerung der Familienbande feststellen. Diese augenblickliche Entwicklung wird sich in der Zukunft noch weiter verstärken, und die bürgerliche Familie wird aussterben. An ihre Stelle wird ein neuer Typus von Familie – das arbeitende Kollektiv – treten. In dieser neuen Grundform leben nicht Menschen aufgrund irgendwelcher Blutsbande zusammen, sondern sie sind durch ihre gemeinsame Arbeit, ihre gemeinsamen Interessen und Pflichten solidarisch vereint und erziehen sich gegenseitig.

Unser neues Wirtschaftssystem und die neuen Produktionsverhältnisse schaffen auch ein neues Bewusstsein. Diese neue Gesellschaftsform wird auch einen neuen Menschen schaffen: Den Menschen, der wirklich kommunistisch denkt und fühlt. Sobald die Eheschließung für die Betroffenen keine materiellen Vorteile mehr mit sich bringt, wird die Ehe auch unbeständiger. Beachtet bitte, dass die Anzahl der Scheidungen schon heute wesentlich größer ist als früher. Denn wenn die frühere Liebe und Zuneigung nicht mehr vorhanden sind, dann versuchen die Menschen nicht mehr länger, wie es ja früher durchaus typisch war, das Eheleben um jeden Preis aufrecht zu erhalten, um den Schein zu wahren. Die Gemeinsamkeit besteht nicht mehr im gemeinsamen Haushalt oder in den gemeinsamen Pflichten beider Eltern dem Kind gegenüber. Und auch das Ritual der kirchlichen Trauung wird immer mehr in Frage gestellt. Natürlich hat sich diese neue Einstellung noch nicht überall durchgesetzt. Zweifellos wird sie aber schon von sehr vielen Menschen vertreten, und sie wird sich in unserer Gesellschaft in dem Maße durchsetzen, wie neue kommunistische Verhaltensnormen entwickelt und allgemein akzeptiert werden. Im Kommunismus wird das Eheleben von allen materiellen Überbleibseln gereinigt werden. Deshalb haben wir z. B. in unserer Arbeiterrepublik auch die Küche durch die Errichtung der öffentlichen Volkskantinen vom Eheleben getrennt. Die Intensität der Beziehung zwischen zwei Menschen hängt ja wirklich nicht nur von der Möglichkeit ab, ein „Heim“ zu gründen. Wenn früher ein Mann heiraten wollte, dann musste er sich erst einmal ausrechnen, ob er sich überhaupt einen solchen Luxus leisten konnte. Ob es für ihn überhaupt vorteilhaft war, eine Gattin zu versorgen. Dies hing dann davon ab, ob die Braut auch von ihren Eltern mit einer stattlichen Aussteuer versehen wurde. Aufgrund dieser Voraussetzungen versuchten dann die beiden Ehepartner, sich „ihr eigenes kleines Nest zu bauen“. Wer genügend Geld besaß, kaufte sich eine eigene Wohnung. Wer kein Geld hatte, kaufte sich nur einen Samowar. Beide Paare gründeten aber jeweils einen Familienhaushalt und lebten pflichtgemäß zusammen. Verkrachte sich ein solches Paar, so kam es vor, dass es sich trennte. Meistens lebte es aber trotzdem weiter zusammen. Heute dagegen gibt es viele Paare, die einander sehr lieben, aber trotzdem nicht zusammenleben.

Ziemlich oft geht ein solches Paar zur örtlichen Verwaltung und lässt sich entsprechend dem Dekret vom 18. Dezember 1917 als Ehepaar registrieren, obwohl beide Partner gar nicht zusammen leben. Die Frau wohnt vielleicht an einem Ende der Stadt und der Mann am anderen. Oder aber sie lebt in Moskau und er in Taschkent. Sie lassen ihre Ehe nur deshalb registrieren, weil sie sich gegenseitig zeigen wollen, dass sie es mit ihrer Beziehung „ernst meinen“. Denn wenn man einmal ineinander verliebt ist, dann will man seine Liebe gleich für ewig erklären. Andererseits sehen sie sich aber nur sehr selten, denn beide arbeiten, und die Arbeit und die anderen gesellschaftlichen Pflichten haben gegenüber dem Privatleben Vorrang. Dieser Typus von Ehe ist unter den Parteimitgliedern besonders häufig denn bei den Kommunisten ist das soziale Pflichtgefühl schon jetzt besonders stark entwickelt. Vergesst bitte nicht, dass besonders die Frauen früher einen „eigenen Haushalt“ anstrebten, denn sie konnten sich ein Leben ohne eigenen Herd nicht vorstellen. Die Ehe wäre sonst unvollständig geblieben. Heute dagegen redet vor allem der Mann darüber, wie sinnvoll es doch wäre, wenn man eine eigene Wohnung mit einer eigenen Küche sein Eigentum nennen könnte, und wie schön es doch wäre, wenn die Frau Tag und Nacht in seiner Nähe sein könnte. Die Frauen und ganz besonders natürlich die schnell ansteigende Zahl der Industriearbeiterinnen, die in den Fabriken der Arbeiterrepublik tätig sind, wollen aber nichts mehr vom „eigenen Heim“ hören: „Bevor ich mich in ein Familienleben und den dazu gehörigen Kleinkram stürze, lasse ich mich lieber scheiden. Denn jetzt kann ich endlich für die Revolution arbeiten. Würde ich mich erst einmal auf so eine Geschichte einlassen, dann wäre ich angeschmiert. Nein. In einem solchen Falle ist es wirklich besser, wenn ich mich scheiden lasse.“ Die Männer müssen sich diesem Entschluss fügen. Natürlich akzeptieren nicht alle Männer dieses neue Bewusstsein ihrer Frauen freiwillig, und es ist vorgekommen, dass der Ehemann den Parteiausweis seiner Frau verbrannt hat, weil er sich darüber empörte, dass sie sich mehr um ihre Arbeit in der Frauenabteilung als um ihn und den Familienhaushalt gekümmert hat. Die Frauen dürfen sich von solchen Ausnahmeerscheinungen aber nicht beeindrucken lassen. Denn wir müssen solche Erscheinungen im Gesamtzusammenhang interpretieren: Es gibt in unserer Arbeiterrepublik eine Entwicklungstendenz zur Auflösung der Ehe. Wenn wir die allgemeine gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung bei uns analysieren, dann ist es ganz offenbar, dass das Arbeitskollektiv früher oder später die traditionelle bürgerliche Einzelfamilie zersetzen und schließlich ablösen wird.

Die veränderte Einstellung der Gesellschaft gegenüber unverheirateten Müttern ist ein weiteres Indiz für diese Entwicklung, die wir ausschließlich den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen verdanken und natürlich der Tatsache, dass die Frau heute als selbstständige Arbeitskraft anerkannt ist. Zeigt mir den Mann, der sich heute noch weigert, eine Frau zu heiraten, die er liebt, nur weil diese Frau keine Jungfrau mehr ist. Diese „Unschuld“ war in der bürgerlichen Gesellschaft deshalb eine notwendige Voraussetzung für eine Eheschließung, weil nur so das Privateigentum geschützt werden konnte. Die Abstammung des Kindes war nämlich für die bürgerliche Gesellschaft aus zwei Gründen wichtig: erstens um die Erbfolge zu sichern, denn nur den eigenen Kindern sollte das Familienvermögen vererbt werden, und zweitens um die Versorgung des Kindes durch den Vater zu gewährleisten. In unserer Arbeiterrepublik dagegen spielt das Privateigentum keine Rolle mehr. Die Eltern können nämlich ihren Kindern kein Vermögen mehr vererben. Deshalb ist es auch völlig gleichgültig, in welcher Familie ein Kind zur Welt gekommen ist, denn nur das Kind selbst, also der zukünftige Arbeiterast wichtig.

Unsere Arbeiterrepublik hat sich verpflichtet, für die Kinder zu sorgen, unabhängig davon, ob sie aus einer gesetzlich geschlossenen Ehe oder aus einer freien Beziehung stammen. Durch diese Entwicklung ist ein völlig neues Frauen- und Mutterbild entstanden. Wir sorgen in unserer Arbeiterrepublik für jede Mutter, ganz gleich ob sie verheiratet ist oder nicht und auch unabhängig davon, ob der Vater das Kind als sein eigenes anerkennt oder nicht. In der täglichen Praxis stoßen wir aber natürlich immer wieder auf Überreste aus der Vergangenheit. So z. B. beim Ausfüllen der Formulare, wo einem häufig noch die verrückte Frage gestellt wird: Sind sie verheiratet oder ledig? Bei der Miliz wird man sogar nach den Ehepapieren gefragt. Solche Beispiele zeigen natürlich nur, wie stark der Einfluss der Vergangenheit heute noch ist, und dass sich die Arbeiterklasse nicht von heute auf morgen von allen Vorurteilen der bürgerlichen Vergangenheit befreien konnte. Andererseits sehen wir jedoch auch eindeutige Fortschritte. Welches Mädchen oder welche ledige Mutter begeht heute z. B. noch Selbstmord? Früher kam so etwas noch sehr oft vor. Gibt es noch jene unglücklichen Kindermörderinnen? Heute wagt einfach niemand mehr, zu behaupten, dass ein uneheliches Kind eine „Schande“ sei. In unserer Gesellschaft ist also die Ehe mehr und mehr zu einer Privatangelegenheit der Betroffenen geworden, während die Mutterschaft, und zwar unabhängig von der Ehe, eine äußerst wichtige gesellschaftliche Aufgabe ist. In die Ehebeziehungen dagegen darf und soll die Gesellschaft nur eingreifen, wenn beide oder einer der Partner krank ist. Dieses Problem ist aber ein spezielles Kapitel, und die Gesundheitsbehörden müssen noch entsprechende Empfehlungen ausarbeiten.

Aber nicht nur unser Verhältnis zur Ehe und Familie hat sich geändert, sondern auch unsere Einstellung gegenüber der Prostitution. Die verschiedenen Erscheinungsformen der Prostitution, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft existieren und sich ausbreiten, gehen in unserer Arbeiterrepublik immer mehr zurück. Diese Prostitution war eine Konsequenz der unsicheren gesellschaftlichen Stellung der Frau und ihrer Abhängigkeit vom Mann. Seitdem wir uns mit der Einführung der allgemeinen Arbeitspflicht darum kümmern, dass jeder Arbeit bekommt, ist natürlich auch die berufsmäßige Prostitution sehr zurückgegangen. An den Orten, wo die Prostitution in unserer Arbeiterrepublik noch immer vorkommt, wird sie von den Behörden bekämpft. Wir bekämpfen aber die Prostitution nicht als Vergehen gegen die Sittlichkeit, sondern weil es sich hierbei um eine Erscheinungsform der Produktionsdesertion handelt; denn eine professionelle Prostituierte vermehrt durch ihre Arbeit nicht den Reichtum der Gesamtgesellschaft, sondern sie lebt in Wirklichkeit von der Ration der anderen. Deshalb verurteilen wir die Prostitution und bekämpfen sie als eine Form der Arbeitsverweigerung. Die Prostituierten sind in unseren Augen keine besonders verwerfliche Kategorie von Menschen, und es spielt auch in unserer Arbeiterrepublik überhaupt keine Rolle, ob eine Frau ihren Körper nun an mehrere oder nur an einen Mann verkauft, also ob sie sich von einem Ehemann aushalten lässt oder als Berufsprostituierte von mehreren Männern. Denn in beiden Fällen ernähren sich die Frauen nicht durch eigene produktive Arbeit. Deshalb werden alle Frauen, die der allgemeinen Arbeitspflicht nicht nachkommen und die auch keine Kleinkinder in der Familie zu versorgen haben, genau so zu Zwangsarbeit verurteilt wie die Prostituierten. In dieser Frage können und wollen wir nämlich keinen Unterschied machen zwischen einer Hure und einer ordentlich getrauten Gattin, die sich von ihrem Ehemann aushalten lässt. Und da hilft es der Gattin auch gar nichts, wenn sie mit einem politischen Kommissar verheiratet ist, denn wir beurteilen alle Produktionsdeserteure gleich. Die Gesamtgesellschaft macht einer Frau nicht deshalb Vorwürfe, weil sie mit mehreren Männern schläft, sondern weil sie sich genau so wie die gesetzlich getraute, aber nicht berufstätige, Ehefrau vor der produktiven Arbeit für die Gesellschaft drückt. Die Einstellung unserer Gesellschaft zu diesem Problem ist eine völlig neue Betrachtungsweise, da sie diese Frage zum ersten Male unter dem Aspekt gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge diskutiert.

Die Prostitution ist bei uns zum Aussterben verurteilt, und in unseren Großstädten, z. B. in Moskau und Petrograd, gibt es heute im Gegensatz zu früher nicht mehr 10.000 Prostituierte, sondern höchstens noch einige Hundert. Dies ist ein großer Fortschritt, aber dennoch dürfen wir uns über dieses Problem keine Illusionen machen und voreilig behaupten, dass das Problem der Prostitution bei uns endgültig gelöst sei. Die jetzigen Arbeitslöhne für Frauen garantieren keine ausreichende soziale Sicherheit. Solange aber die Frau vom Manne aufgrund der chaotischen und verwirrenden wirtschaftlichen Verhältnisse noch abhängig ist, wird die offene und verschleierte Prostitution auch bei uns weiter vorkommen. Ist es etwa keine Form der Prostitution, wenn sich eine Sekretärin des örtlichen Sowjets mit ihrem Vorgesetzten einlässt, obwohl sie ihn nicht liebt, nur weil sie befördert werden will oder eine Sonderration braucht? Oder wenn eine Frau mit einem Mann schläft, um ein Paar kniehohe Stiefel und manchmal auch nur, um ein ein bisschen Zucker oder Mehl zu ergattern? Oder wenn eine Frau einen Mann heiratet, nur weil er ein eigenes Zimmer in einer Hauskommune besitzt? Handelt es sich nicht um eine verschleierte Form von Prostitution, wenn eine Arbeiterin oder Bäuerin, die mit einem leeren Sack hamstern geht, sich dem Zugschaffner hingibt, um einen Platz auf einem Eisenbahnwaggon zu ergattern? Oder wenn eine Frau mit dem Kommandanten einer Kontrollstelle schläft, um ihren Sack Mehl heil durch die Sperre zu bringen?

Natürlich ist auch dies eine Form der Prostitution und sie ist für die Frauen sehr erniedrigend, abscheulich und bitter und außerdem schädlich für das gesellschaftliche Bewusstsein. Hinzu kommt noch, dass diese Art von Prostitution durch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten die Gesundheit des Volkes gefährdet und die Moral der Bevölkerung untergräbt. Trotzdem müssen wir begreifen, dass ein erheblicher Unterschied besteht zwischen der klassischen Form der Prostitution und dieser neuen Erscheinungsform. Denn die Frauen, die früher ihren Körper verkauften, waren aus der Gesellschaft ausgestoßen und als Huren abgestempelt. Die Männer, die diese Frauen missbrauchten, betrachteten es als ihr gutes Recht, diese Frauen obendrein noch zu verhöhnen. Diese Frauen wagten natürlich nicht, dagegen zu protestieren, denn ihr „gelber Ausweis“ stempelte sie als Freiwild ab. Aber auch die Frauen, die diesen „gelben Ausweis“ noch nicht verpasst bekommen hatten, lehnten sich gegen die Demütigungen nicht auf, da sie ja jederzeit von der Polizei als Prostituierte hätten registriert werden können und deshalb erpressbar waren. Diese Verhältnisse haben sich heute grundlegend geändert. Seitdem die Frauen ein eigenes Arbeitsbuch besitzen, unterliegen sie nicht mehr dem Marktgesetz von „Angebot und Nachfrage“ Wenn sich heute noch eine Frau aus materiellen Erwägungen heraus mit einem Mann einlässt, dann sucht sie sich trotzdem einen, der ihr gefällt; denn das ökonomische Motiv, das ja auch bei neun von zehn bürgerlichen Ehen eine wesentliche Rolle gespielt hat, ist heute trotz alledem nicht mehr vorherrschend. Und außerdem benimmt sich der Mann gegenüber einer Frau, mit der er aufgrund einer solchen Absprache ein Verhältnis eingeht, völlig anders, als gegenüber einem „Straßenmädchen“. Der Mann wird versuchen, der Frau zu imponieren, die Frau wird sich nichts gefallen lassen, und wenn sie genug hat, wird sie ihm den Laufpass geben, und dies viel schneller, als es eine Ehefrau je tun würde. Solange die Frauen nach wie vor in den am schlechtesten bezahlten Berufen arbeiten, solange wird es auch die verschleierte Form der Prostitution geben, denn solange braucht die Frau vorerst eine zusätzliche Einnahmequelle, um existieren zu können. Solange dies so ist, ist es auch vollkommen gleichgültig, ob jemand eine Ehe aus wirtschaftlicher Berechnung eingeht oder ob er sich der Gelegenheitsprostitution hingibt.

Der momentane Kurs unserer Wirtschaftspolitik bedroht unsere Frauen allerdings erneut mit dem Gespenst der Arbeitslosigkeit. Diese Entwicklung ist für die Frauen bereits jetzt spürbar, und sie wird letzten Endes auch zu einer Zunahme der professionellen Prostitution führen; unser augenblicklicher Kurs in der Wirtschaftspolitik bremst aber auch die Entwicklung eines neuen Bewusstseins. Wir können tagtäglich beobachten, wie dieser Prozess auch die Entstehung eines neuen und wirklich kommunistischen Verhältnisses zwischen Mann und Frau behindert. Aber es ist hier, nicht der richtige Ort, diese neue politische Entwicklung zu analysieren, obwohl sie eine Renaissance vergangener Verhältnisse hervorrufen könnte. Denn das Wirken der Arbeiterklasse ist auf die Zukunft gerichtet, und für das internationale Proletariat ist es beim Aufbau des Kommunismus möglicherweise weniger wichtig, wie man sich bei uns heute schon wieder an bereits überholte wirtschaftliche Verhältnisse anpasst. Von daher ist für das internationale Proletariat auch von viel größerer Bedeutung, was wir in der Blütezeit der Diktatur des Proletariats bereits erreicht haben. An euch liegt es jetzt zu analysieren, was wir bis jetzt aufgebaut haben.Ihr müsst diesen Versuch, ein neues Bewusstsein zu schaffen, bewusst aufnehmen und für euch nutzen. Trotz alledem ist es eine Tatsache, dass sich der Charakter der Ehe zur Zeit verändert. Die traditionellen Familienbande werden schwächer, und die Mutterschaft ist heute eine gesellschaftliche Pflicht. In der heutigen Vorlesung haben wir natürlich längst noch nicht sämtliche Versuche besprochen, die wir unter der Diktatur des Proletariats eingeleitet haben, um die Traditionen und Gewohnheiten zu verändern. Wir werden auf dieses Thema in der nächsten Vorlesung noch zurückkommen. Ich muss aber noch einmal ausdrücklich betonen: Die praktischen Erfahrungen der Revolutionsjahre beweisen, dass die Stellung der Frau in der Gesellschaft und in der Ehe einzig und allein von ihrer Stellung in der Produktion abhängt. Also davon, ob die Frau an der Arbeit der Gesamtgesellschaft teilnimmt, denn die Arbeit in der privaten Einzelfamilie verwandelt die Frau zur Sklavin. Nur die gesellschaftlich nützliche Arbeit kann die Frau befreien.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020