Alexandra Kollontai

Die Situation der Frau in der
gesellschaftlichen Entwicklung

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3. Vorlesung

Die Stellung der Frau
im geschlossenen Naturhaushalt


Genossinnen, unser letztes Gespräch endete mit der Beschreibung der Stellung der Frau in der Antike; als Privateigentum, Handel und Handwerk bereits existierten und die Arbeit durch Unfreiheit und Sklaverei geprägt war. Neben der Sklavenarbeit gab es natürlich bereits erste Ansätze eines freien Handwerks. Die produktive Arbeit der Unfreien war jedoch das Fundament dieses ökonomischen Systems. Die Frau war zu einem Leben zwischen den vier Wänden ihres Heimes verbannt und verlor mit der Zeit jegliche Bedeutung für das ökonomische System. Sie war nicht länger eine „Arbeitseinheit“, die auf die eine oder andere Art zum Wohlstand des Staates und der Gesellschaft beitrug. Ihre Rolle beschränkte sich darauf, entweder das „Weibchen“ zu sein, das dem Manne Kinder gebiert oder aber das Lustobjekt, in seiner groben Variante repräsentiert durch die Sklavin als Geliebte und in veredelter Ausgabe in Gestalt der Hetäre. Die herrschenden ökonomischen Verhältnisse verwandelten die Frau zum Parasiten der Gesellschaft.

Das Leben der Sklavinnen verlief außerhalb der Grenzen der etablierten Gesellschaft. Gebeugt unter das Joch schwerer Arbeit teilten sie das Los ihrer Leidensgefährten, der männlichen Sklaven. Sie mochten sich anstrengen wie sie wollten, ihr Arbeitseinsatz wurde nie als das gewürdigt, was er tatsächlich war: nämlich die eigentliche Quelle allen Wohlstandes.

Nicht die Arbeit, sondern das Einkommen, der Profit wurden gewürdigt. Mit der Zeit entstand in diesen alten, vorchristlichen Gesellschaften das erste Proletariat der Geschichte, und der Kampf zwischen den Klassen entflammte. Die antiken Staaten wurden sowohl auf Grund dieser Klassenkämpfe zerstört als auch wegen der Unvollkommenheit ihres Produktionssystems, das auf der höchst unproduktiven Zwangsarbeit von Sklaven basierte. Ein Staat nach dem anderen fiel diesem inneren Zerfallsprozess zum Opfer, wurde geschwächt und ging unter. Die Staaten der Antike wurden durch neue Völker mit anderen ökonomischen Systemen und Formen der Haushaltung verdrängt. Wir lassen deshalb die antiken Zivilisationen jetzt hinter uns zurück und gehen zu einer Periode über, die uns zeitmäßig näher liegt, dem Mittelalter.

In ganz Europa dominierte damals – das heißt vor 800 bis 900 Jahren – der Naturhaushalt, der von der Arbeit leibeigener Bauern und nicht mehr, wie während der Antike, der Sklavenarbeit abhängig war. Die Bauern lieferten nicht mehr ihren gesamten Arbeitsertrag an den Großgrundbesitzer ab. Ein Teil der Produkte wurde nun dazu benutzt, die Lebensbedingungen der Leibeigenen zu verbessern. Zwar musste der Leibeigene Steuern in Form von Naturalien oder Tagewerk an den Feudalherrn entrichten. Ein Teil der Produkte verblieb jedoch in seinen Händen. Mit diesen konnte er tun, was er wollte. Er konnte sie, insofern Handel überhaupt vorkam und Gebrauchswaren vorhanden waren, nach Belieben eintauschen. An solchen Umschlagplätzen entstanden Märkte für die Bauern. Diese entwickelten sich nach und nach zu festen Tausch- und Handelsplätzen, d. h. Städten. Befanden sich diese Städte auf dem Boden des Gutsherrn, so betrachtete sich dieser als ihr Herrscher und besteuerte auch sie. Es gab jedoch auch freie Städte, die sich von dem Zugriff der Bojaren und Ritter befreit hatten. Unsere freien Städte Nowgorod und Pskow sind Beispiele dafür.

Die Bevölkerung war in drei Klassen aufgeteilt: die der Grundbesitzer, die der Bauern und die der Bürger. Während der Blütezeit des Mittelalters, d. h. zwischen 900–1300, war die Stellung der Frau höchst unterschiedlich, je nachdem, welcher Klasse sie angehörte. Innerhalb jeder einzelnen gesellschaftlichen Klasse wurde sie jedoch durch denselben Faktor bestimmt: und zwar durch ihre Rolle in der Produktion. Wir wollen als erstes die Lebensbedingungen des Hochadels und der Bojaren untersuchen. Das ökonomische System baute, als der Feudalismus seinen Höhepunkt erreichte und die Macht in den Händen der Großgrundbesitzer und des Adels lag, auf dem Naturhaushalt auf. Das bedeutete jedoch, dass alle Gebrauchsgüter, die der adlige Großgrundbesitzer – Feudalherr über riesige Ländereien – und dessen leibeigene Bauern benötigten, von den Leibeigenen selbst innerhalb der Grenzen des Gutes hergestellt wurden. Tauschhandel war ungewöhnlich. Lebensweise und Haushaltung jener Zeit sind uns durch zeitgenössische Schilderungen überliefert.

Damals war die Burg des feudalen Gutsbesitzers das ökonomische Zentrum. Die Dienerschaft bestand aus leibeigenen Bauern. Alles, was für ein Leben in der Burg benötigt wurde – und diese hatte zahlreiche Bewohner, zunächst einmal die Familie und Verwandtschaft des Burgherrn, dann die Gäste, die Dienerschaft, Wächter und Soldaten –, wurde auf dem Gebiet des Gutes hergestellt. Die leibeigenen Bauern bezahlten ihre Pacht, indem sie Rohwaren – Tierhäute, Wolle, Fleisch und Getreide – an die Burg, in Russland an den Herrenhof des Adeligen lieferten. Die eigentliche Bearbeitung und Veredelung dieser Rohwaren wurde in der Burg vorgenommen. Der Haushalt des Feudalherren war äußerst kompliziert und erforderte deshalb einen geschickten Organisator. Wer war für gewöhnlich während des Mittelalters in Frankreichs. Englands und Deutschlands Burgen der Organisator der Burghaushaltung? Etwa der Gutsbesitzer, Feudalherr, Ritter selbst? Im Allgemeinen war der Herr des Hauses als Krieger oder Straßenräuber auswärts beschäftigt. Die komplizierte Verwaltung der Burg überließ er deshalb seiner Frau. Sie überwachte, dass die Bauern rechtzeitig ihre Steuern bezahlten. Unter ihrer Aufsicht arbeiteten Schneider, Schuhmacher, Schmied und andere Handwerker. Man webte feines Tuch und grobes Leinen, klöppelte Spitzen und schmiedete Helme. Die Burgfrau war auch dafür verantwortlich, dass das Getreide gemahlen wurde und die Vorräte für den Winter oder eine eventuelle Belagerung ausreichten. Im Keller der Burg lagerten tausende Liter Wein und Bier, in den Magazinen waren alle erdenklichen Waren gespeichert. Was immer auch in der Burg verbraucht wurde, sei es nun vom Hausherrn selbst oder seinen Gästen, sei es von den Dienern oder den Soldaten, es musste zunächst einmal aus eigenen Kräften hergestellt werden. Gekauft konnte nichts werden. Zwar besuchte der Kaufmann, ein seltener, gern gesehener Gast, bisweilen die Burg. Doch für gewöhnlich handelte er nur mit ausländischen Waren und Luxusartikeln: orientalischer Seide, geschliffenem venezianischen Glas, wertvollen Waffen und Edelsteinen. Über die Stellung der Frauen, die der herrschenden Klasse angehörten, lässt sich zweifellos sagen, dass sie als Organisatoren der Produktion respektiert wurden. Das ging so weit, dass nach deutschem, englischem und französischem Recht die Ehefrau Titel und Besitztümer ihres Mannes erben konnte.

Zu Beginn des 11. Jahrhunderts wurde dieses feudale Erbrecht in England, Flandern, Burgund und Kastilien Gesetz, nachdem die blutigen Kreuzzüge die männlichen Erben von Titeln und Besitztümern stark dezimiert hatten. Die Chroniken des Mittelalters besingen eifrig die Klugheit und Menschenfreundlichkeit der weiblichen Verwalter jener feudalen Besitztümer. Ihr ganzes Volk trauerte, als Eleonore, Herrscherin von Aquitanien, den König von Frankreich ehelichte. Aus den Chroniken erfahren wir, wie Eleonore sich um ihre Untertanen kümmerte, wie sie versuchte, den Handel durch Abschaffung allzu hoher Zölle zu erleichtern und dass sie die Selbstverwaltung der Städte gesetzlich garantierte, um diese vor der Willkür der Großgrundbesitzer zu schützen. Wir erfahren auch, welch große Wohltäterin sie war. Ähnlich rühmt Geschichtsschreibung und Volksmund Anna von Bretagne. Die Fürstin Olga, die als erste Russin aus fürstlichem Haus zum Christentum übertrat, lebt noch immer in der Erinnerung des Volkes als eine weise Herrscherin. Nach altem französischen Recht ging die Macht des Vaters über seine Familie im Falle seines Todes oder während seiner Abwesenheit auf die Mutter über. Sie wurde als Vormund ihrer Kinder betrachtet. Wie ihre Männer, die regierenden Grafen und Fürsten, so hatten auch die Frauen der führenden Familien Richterfunktionen. Äbtissinnen hatten entsprechende Privilegien. Dieses Recht der Urteilssprechung wurde innerhalb der Familien sogar an junge Mädchen vererbt. Frauen saßen als Beisitzer in den Gerichten jener Zeit und trugen Richterhüte. Während der Abwesenheit des Fürsten war die Gattin nicht nur Herrin über seine Leibeigenen, sondern auch über seine sogenannten Vasallen, die Besitzer jener kleinen Ländereien, die direkt vom Feudalherrn abhängig waren. Es war die Pflicht der Gattin, die Ehre des Familienwappens zu bewahren. Bei Festen und Turnierspielen saß sie auf dem Ehrenplatz. Ritterduelle waren nämlich für die damalige „high Society“ ein beliebter Zeitvertreib. Die Frauen jener Kreise wurden von Rittern schwärmerisch verehrt, von Troubadouren und Minnesängern gepriesen. Höchste Pflicht jedes Ritters war es, „die Frau zu verteidigen“. Begegnete ein Ritter einer Frau, so stieg er vom Pferde. Jeder Ritter hatte eine „Dame seines Herzens“, die er auf Abstand bewunderte ohne die geringste Hoffnung auf Erwiderung seiner Gefühle. Solche Ehrerbietung wurde jedoch nur den Frauen der besitzenden Klasse oder Frauen von adeligem Blut zuteil. Pflichtgefühl und Ehrerbietung der Ritterschaft galten niemals den Frauen der übrigen Bevölkerungsschichten.

Während man der Frau in ihrer Eigenschaft als Repräsentantin des adeligen Standes einen gewissen Status einräumte, da ja ihre Rolle als Organisatorin des Burghaushaltes zur Stärkung der Macht des Feudalherren beitrug, trat man gleichzeitig ihre Rechte als Mensch und Individuum mit Füßen. Die mächtige Herzogin oder Markgräfin, vor der Hunderte von leibeigenen Bauern zitterten, und der auch die jungen Adelsherren nicht zu trotzen wagten, da sie der damaligen Sitte entsprechend bei Abwesenheit ihres Mannes das Ruder in der Hand hielt, bebte und zitterte vor ihrem eigenen Manne und war den Sitten und Gesetzen jener Zeit entsprechend seine Sklavin und sein Eigentum.

Während jener Jahrhunderte, als der Adel an der Macht war, herrschte das Faustrecht, das Recht des Stärkeren. Der Ritter, der Grundbesitzer war, verdankte seine Macht Raubzügen und Gewaltverbrechen. Das Familienoberhaupt war gezwungen, die Herrschaft über seine Untertanen, Vasallen und Leibeigenen aufrechtzuerhalten und seine unbestrittene Autorität auf sämtlichen Gebieten zu wahren. Die Macht des Vaters und Ehemannes hatte in der Antike niemals solche grotesken Formen angenommen, wie es im Mittelalter der Fall war. Das Familienoberhaupt, der Großgrundbesitzer, paralysierte mit seinem Schreckensregiment alle. Sein Recht über Gattin und Kinder war uneingeschränkt. Er durfte z. B seine Frau foltern, sie lächerlich machen, verjagen oder sie mit seinem Lieblingspferd oder seinem von den Sarazenen eroberten Säbel zusammen einem Freund vermachen. Noch bis ins 12. Jahrhundert konnte er sie verschachern. War sie ihm gar untreu oder machte sie sich auf andere Art schuldig, so war es sein gutes Recht, sie zu töten. So allmächtig war der Mann jener Zeit. Jene stolze und vornehme Gräfin, die sich nicht einmal dazu herabließ, den Gruß eines untergebenen Ritters zu beantworten, kroch auf den Knien vor ihrem Gatten, wenn dieser schlecht gelaunt sein sollte und fügte sich wortlos seinen Schläger und Folterungen.

In England hatten bei den Parlamentswahlen außer den feudalen Grafen und Fürsten auch noch die Besitzer größerer Ländereien ein Stimmrecht. Ihre Frauen verloren diese Rechte erst nach und nach, und zwar in dem Maße, wie die gesellschaftliche Gesamtstruktur sich so veränderte, dass die Voraussetzungen für die bürgerliche Gesellschaft entstanden. (Noch zu einem so späten Zeitpunkt wie dem 17. Jahrhundert bemühte sich die englische Großgrundbesitzerin Anne Clifford um die Rückerstattung ihrer ursprünglichen Rechte.) Gleichzeitig konnte der betrogene Ehemann seine Frau auf dem Markt zum Verkauf anbieten. Wie aber kann man diesen widersprüchlichen Charakter der Stellung dieser Frauen aus der Klasse der Großgrundbesitzer erklären? Ganz einfach: Familie und Sippe hatten im Feudalismus völlige Kontrolle über die einzelnen Mitglieder, und innerhalb der Familie hatte zu jener Zeit, die durch allgemeine Rechtsunsicherheit und Räubermentalität geprägt war, derjenige die größte Macht, der am besten die Interessen der Familie und Verwandtschaft gegenüber der feindlichen Umwelt verteidigen konnte.

Wie nützlich und notwendig auch immer die organisatorischen Leistungen der Frau für den Burghaushalt gewesen sein mögen, so wurde dennoch das Kriegshandwerk höher bewertet. Denn auf welche Art wuchsen nun einmal die Einnahmen und Reichtümer eines Fürsten oder regierenden Grafen am bequemsten und sichtbarsten? Ganz klar, die Ausplünderung der Nachbarn und der Bauernschaft vergrößerte das Vermögen der Familie schneller als friedliche ökonomische Arbeit. Deshalb hatte auch die organisatorische Arbeit der Frau in den Augen des Adels nur eine zweitrangige und untergeordnete Bedeutung. Dass es möglich war, sich auf diese Weise, das heißt durch Plünderung fremden Eigentums, zu bereichern, festigte natürlich die Popularität des arbeitsfreien Einkommens. Dies wiederum führte zur Verachtung gegenüber jeder Form von Arbeit. Diese Umstände erklären den widersprüchlichen Charakter der Stellung der Frau: auf der einen Seite hatte sie als Gattin des Feudalherrn Anrecht auf Titel und Eigentum und war absolut Herrin über ihre Untertanen – es kam häufig vor, dass Frauen über Königreiche herrschten –, sie hatte die gleiche uneingeschränkte Macht über Leibeigene wie ein Mann in entsprechender Stellung, das heißt, dass sie ihre Leibeigenen verjagen, bestrafen, foltern, ja totschlagen konnte, auf der anderen Seite jedoch besaßen diese Frauen, was ihr Verhältnis zum Familienoberhaupt betraf, nicht einmal die elementaren menschlichen Rechte. Was ihre Stellung in der Ehe betraf, so waren die Ehefrauen der Großgrundbesitzer im Mittelalter genauso rechtlos und unterdrückt wie einst die Frauen der viehzüchtenden Stämme.

In Russland war die Stellung der Frauen aus dem Adel noch weniger beneidenswert. Diese hatten nämlich nur während einer äußerst kurzen Übergangsperiode in der russischen Geschichte an der Arbeit aktiv teilgenommen und als Organisatoren der Wirtschaft fungiert. Sie wurden frühzeitig von männlichen Verwandten und Verwaltern verdrängt. Die Aufgabe der Bojarenfrau bestand seitdem einzig und allein darin, für Nachkommen zu sorgen, die den Namen des berühmten alten Geschlechtes weitertragen sollten.

Das Vaterrecht setzte sich in Russland sehr früh durch. Die Herrschaft der Tataren (eines viehzüchtenden Nomadenstammes, dessen Frauen völlig unterdrückt waren) bestätigte eigentlich nur die bereits existierenden Verhältnisse, d. h. die uneingeschränkte Macht des Mannes über die Frau. Dennoch wurden lange Zeit, bis ins 11 Jahrhundert hinein, die Überreste eines lange zurückliegenden Matriarchats durch den Volksmund bewahrt. Die russische Frau des Altertums soll ohne besondere Erlaubnis ihres Mannes über Besitz verfügt haben. Sie nahm an Gerichtsverhandlungen teil und fungierte als Schiedsrichter. Und in den ersten russischen Gesetzen – das „russische Recht“ wurde im 12. Jahrhundert aufgezeichnet – wird die Verwandtschaft von der mütterlichen Seite abgeleitet und nicht von der väterlichen. Ein eindeutiger Beweis dafür, dass unter den slawischen Völkern des Altertums eine Kombination von Matriarchat, Urkommunismus und landwirtschaftlicher Ökonomie vorherrschte. Das Vaterrecht setzte sich in Russland erst mit dem Übergang zu komplizierteren Haushaltsformen und nach der Einführung der Viehzucht durch. Die geographischen Bedingungen Russlands waren besonders geeignet für Viehzucht. Die Viehzucht erforderte nicht nur weniger Arbeitseinsatz, sondern war gleichzeitig auch noch ergiebiger. So kam es, dass der Ackerbau bald nur noch eine untergeordnete Rolle im wirtschaftlichen System des alten Russland spielte. Aber unter den Bauernstämmen im nördlichen Russland blieb die Erinnerung an die ursprüngliche Machtstellung und Bedeutung der Frau im wirtschaftlichen System lebendig. Sie lebte weiter in jenen Volksliedern und Balladen, die auch dann noch gesungen wurden, als die Frau des Grundbesitzers unterdrückt und die Bauersfrau zu einem Lasttier in der Produktion herabgewürdigt waren.

Falls Ihr besonders am Schicksal der russischen Frau interessiert seid, so beschafft Euch Schischkows Buch über die Geschichte der russischen Frau. Dort könnt ihr zahlreiche, äußerst interessante Beschreibungen finden, die schildern, wie die Frau mehr und mehr zur Familienmagd wurde. Dies war übrigens ein Prozess, der parallel zur Einführung des Privateigentums und der Durchsetzung des Faustrechts verlief. Die Ahnungslosigkeit der jungen, aristokratischen Frau und ihre untergeordnete Stellung gegenüber der Familie wurden verstärkt durch die Bürde, die die Erwartung der Sippe an sie bedeutete. Über ihr Glück und Schicksal bestimmten andere: Beim Hochadel entschied vor allem der Vater, aber auch andere ältere Familienmitglieder redeten ein Wort mit, wenn es um die Wahl des Partners ging. Ihre Hochzeit war eine Familienangelegenheit. Es ging darum, die Interessen des Hauses zu schützen. Ehen wurden nicht aus Zuneigung, sondern allein auf Grund materieller Überlegungen geschlossen. Entweder versuchte man den eigenen Besitz durch die Mitgift der Schwiegertochter zu erweitern oder einen widerspenstigen Nachbarn zu besänftigen, indem man ihm selbst oder einem seiner Söhne die eigene Tochter zur Frau gab. Es ging darum, Macht, Vermögen oder Titel des eigenen Hauses zu verdoppeln, indem man zwei Titel usw. miteinander vereinte. Das also waren die Gründe, die hinter den Eheschließungen standen. Häufig hatten die Verlobten einander bis zur Eheschließung noch nicht gesehen. Oft kamen die Bräute von entlegenen Gebieten und schon fünf- bis siebenjährige Kinder wurden durch Verlobung gebunden. Im Mittelalter war die Eheschließung zwischen Minderjährigen normal. Der ruinierte und völlig verarmte Graf von Bouillon z. B. heiratete ein 12jähriges Mädchen wegen der reichen Mitgift. Der Marquis d’Eauoise verlobte sich gar mit einem zweijährigen Kinde, da sich der künftige Schwiegervater dazu bereiterklärte, einen Teil der Mitgift schon im Voraus durch jährliche Auszahlungen an den Verlobten zu übergeben. Die kluge und berechnende Gräfin Adelaide von Savoyen versprach dem deutschen Thronfolger die Hand ihrer minderjährigen Tochter Berta, obwohl der Bräutigam und auch die Braut noch keine sechs Jahre als waren. Es kam sogar vor, dass vorausplanende Eltern nach Bräuten für ihre noch ungeborenen Söhne Ausschau hielten. Die Rechtlosigkeit des Jünglings und des jungen Mädchens der Sippe gegenüber war in dieser Frage gleich groß, ihre Eheschicksale wurden von der Sippe gemeinsam entschieden.

Eine derartige Vergewaltigung der individuellen Interessen war bei unseren russischen Bauern noch relativ lange üblich. Dabei ging es um die ökonomischen Interessen des Bauernhofes. Ehen wurden über die Köpfe der Kinder hinweg zwischen den Eltern beschlossen. Erst die Revolution hat mit dieser aus dem Mittelalter stammenden Unsitte aufgeräumt, indem sie das veraltete Vaterrecht völlig abschaffte. Man kann sich vorstellen, was für ein Leben eine Frau führte, die gegen ihren Willen auf Beschluss der Eltern geheiratet hatte und deren Mann außerdem das Gesetz auf seiner Seite hatte. Für den Hochadel jener Zeit hatte die Ehe nur eine Aufgabe: sie sollte garantieren, dass die berühmte Sippe nicht ausstarb. Die Fähigkeit einer Frau, Kinder zu gebären und damit Nachkommen zu gewährleisten, wurde deshalb besonders hoch bewertet. Darum wurde sie auch so grausam für ihre Untreue bestraft. Wenn sie einen Bastard in die Familie einbringen würde, würde sie ja deren edles Blut beschmutzen. Der Mann war nicht nur laut Gesetz dazu berechtigt, seine Frau, wenn sie ihn betrogen hatte, schimpflich zu vertreiben, er durfte sie auch foltern oder gar töten. Die Familieninteressen erzwangen Schutzmaßnahmen gegen etwaige Missheiraten. Sollte ein gewöhnlicher Sterblicher sich dazu erdreisten, sein primitives Blut mit dem einer blaublütigen Aristokratentochter zu vermischen, so wurde sie enterbt und in ein Kloster gebracht oder getötet. Die Kinderlosigkeit einer Frau wurde nicht nur als Unglück angesehen, sondern auch als Scham. Ein Mann, dessen Frau ihm keine Erben geben konnte, durfte sich ohne weiteres scheiden lassen. Zahlreiche Ehefrauen von Gutsherren und Rittern waren zu ewigem Zölibat im Kloster verurteilt, während sich ihre Männer andere Frauen nahmen. Das Frauenideal jener Zeit war eine gesunde und fruchtbare Frau, die außerdem einen Haushalt leiten und verwalten konnte. Wie wichtig die Fruchtbarkeit einer Frau in jener Periode war, geht aus der Legendenflora hervor, die sich um dieses Thema spann. Es wird z. B. erzählt, die Gattin des Grafen Henneberg habe 364 Kindern das Leben geschenkt. Bei der Taufe hätten alle Knaben den Namen Iwan erhalten, die Mädchen den Namen Elisabeth. Kinder zu gebären war jedoch nicht ausreichend. Es gehörte auch zu den Pflichten der Gattin, Mutter und Haushälterin, für die Erziehung der Kinder zu sorgen, ihnen vor allem ein tugendhaftes Beispiel zu sein. Die wichtigste und edelste Lebensregel jener Zeit war, sich völlig und ohne Protest dem Willen des Mannes zu beugen. In zahlreichen mittelalterlichen Schriften wird dieses Frauenideal beschrieben. Tiefsinnige Verteidiger der herrschenden Verhältnisse gaben in Handbüchern Anweisungen für das standesgemäße Benehmen einer anständigen Ritters- oder Gutsbesitzersgattin und erteilten kluge Ratschläge für das Verhältnis zwischen den Gatten.

Wie umfangreich waren eigentlich die Pflichten der Frauen in den Familien einer Gesellschaft, die auf Gewalttätigkeit, auf der Arbeit von Leibeigenen und, was die Frau betraf, dem völligen Fehlen aller menschlichen Grundrechte aufgebaut war? Auf welchem Gebiet der Wirtschaft: durfte die Frau aktiv teilnehmen? Der Schriftsteller Barberino wurde populär, als er im Italien des 14. Jahrhunderts forderte, die jungen Damen mögen doch würdevoll auftreten, d. h. zu Hause bleiben und ihren Müttern bei der Hausarbeit behilflich sein. Barberino war sogar der Ansicht, sie könnten sich das Lesen- und Schreibenlernen völlig ersparen. Der russische Pope Silvester gab in seiner bekannten Schrift Die Hausordnung ähnliche Anweisungen.

Den Männern wurde in allen diesen Handbüchern dazu geraten, dafür zu sorgen, dass ihre Gattinnen sowohl züchtig als auch gottesfürchtig lebten. Und zu diesem Zweck wurde die Anwendung von körperlicher Züchtigung und ähnlichen Maßnahmen keineswegs ausgeschlossen.

Doch während der Blütezeit des Burghaushaltes (900–1200) erhielten die Frauen, trotz aller Unterjochung und Erniedrigung innerhalb der Familie, falls sie von adliger Herkunft waren, dennoch eine verhältnismäßig anständige Ausbildung. Töchter vornehmer Familien lernten nicht nur Nähen, Spinnen und Weben, sondern auch Lesen, Schreiben, Singen und Tanzen. Außerdem erhielten sie einen gewissen Einblick in die Grundzüge der damaligen Wissenschaften. Für gewöhnlich erlernten sie auch Latein.

Die Ausbildung in englischen Klöstern umfasste Lesen und Schreiben, Bibelwissenschaft, Musik, Krankenpflege, Zeichnen und Kochen. Es kam häufig vor, dass Mädchen Latein konnten (alle wissenschaftlichen Schriften jener Zeit waren lateinisch abgefasst) oder über Astronomie und andere Wissenschaften gut unterrichtet waren, und dies, obwohl ihre Männer – kühne Ritter und Soldaten – meist Analphabeten waren. Es kam vor, dass Ritter, die gleichzeitig berühmte Feldherren und Besitzer riesiger Ländereien waren, wochenlang den Brief ihrer Liebsten ungelesen mit sich trugen, bis sie endlich auf einen lese- und schreibkundigen Waffenbruder stießen. Viele von ihnen hatten einen Schreiber angestellt, der den Briefverkehr mit der Liebsten besorgte, während die Frau glaubte, sie korrespondiere mit ihrem Schatz. Sie konnte dabei auf Grund dieser Briefe tiefe Sympathie für die „Seele“ ihres Geliebten empfinden. Stellt Euch vor, was gewesen wäre, wenn sie geahnt hätte, dass sie ihr Herz einem Schreiber öffnete. Einer der berühmtesten Minnesänger jener Zeit, Wolfram von Eschenbach, war nicht imstande, seine Gedichte selber aufzuzeichnen, sondern war auf weibliche Schreibhilfe angewiesen.

Die Geschichte berichtet uns von einer langen Reihe berühmter Schriftstellerinnen und weiblicher Denker, die in den finsteren Jahrhunderten des frühen Mittelalters wirkten. Im 10. Jahrhundert, also vor 1000 Jahren, schrieb die Nonne Roswitha religiöse Dramen und hinterließ eine Reihe wissenschaftlicher Schriften. Im 8. Jahrhundert, also noch früher, lebte in England eine Äbtissin, Elfleda, der nachgesagt wurde, sie sei sehr klug gewesen. Sie war eine eifrige Missionarin im Dienste der damals noch jungen Kirche und nahm unter anderem an ökumenischen Konzilen teil, d. h. an internationalen Konferenzen für kirchliche Angelegenheiten. Eine andere Nonne, Hildegard, – sie lebte im 11. Jahrhundert – hatte sich als Philosophin einen Namen gemacht. Sie kümmerte sich nicht um die Machenschaften der Kirche und ignorierte, dass diese einen Glauben, der selbständiges Denken verbot, abverlangte. Ganz offen deklarierte sie ihre Ansichten über die Kräfte der Natur und des Lebens. Ihr Denken war pantheistisch gefärbt, d. h. sie war der Auffassung, Gott sei in Wirklichkeit nichts anderes als jene Kraft, die hinter allem Leben in der Natur stehe. Ungefähr gleichzeitig verfasste die deutsche Äbtissin Herrada ihr wissenschaftliches Werk „Der Lustgarten“ und schuf so die Voraussetzung für die Astronomie, die Geschichtswissenschaft und andere Disziplinen jener Zeit. Bereits im 11. und 12. Jahrhundert waren den Klöstern Schulen angegliedert, in denen Jugendliche beiderlei Geschlechts von klugen Nonnen unterrichtet wurden. Besonders berühmt waren die Schulen der Nonnenklöster von Alais und Poitiers in Frankreich. Die bekannten Nonnen Gertrud von Nivelles, Aldegonde von Maubeuge und Berthilda von Chelles – alle drei waren Französinnen – hatten auf ihre Schüler einen großen Einfluss

Im 13. Jahrhundert lebte in Frankreich eine Nonne Heloise, die in Briefform mit ihrem Freund Abailard philosophierte. Die Klöster waren damals keine Brutstätte für Müßiggang, Ausschweifungen und Heucheleien. Im Gegenteil, oft waren sie Arbeitszentren, die den ersten Ansätzen naturwissenschaftlicher und philosophischer Studien Schutz gewährten. Ihre Umwelt war von Gewalttätigkeit, Plünderungszügen, der Zügellosigkeit und den Übergriffen der Stärkeren geprägt. Es war deshalb nur natürlich, dass derjenige, der Ruhe und relative Geborgenheit suchte, um nachdenken und neue Wege der Wissenschaft finden zu können, sich ins Kloster flüchtete. Nicht nur unfruchtbare Ehefrauen und geschändete Töchter verschwanden im Kloster, sondern auch jene selbständigen Frauen, die gar keine Lust hatten zu heiraten, da sie Männer als Unterdrücker und Vormünder verabscheuten. Deshalb sind die meisten Frauen des 10. bis 12. Jahrhunderts, die sich in Wissenschaft und Literatur einen Namen gemacht haben, Nonnen gewesen.

Etwas später – 1300 bis 1400 – finden wir auch außerhalb der Klostermauern Frauen, die wissenschaftlich arbeiteten, ja sogar Professuren innehatten. Schon im 13. Jahrhundert war eine Frau Professor für Philosophie in Bologna, jener italienischen Stadt, die eine der berühmtesten Universitäten von damals besaß. Diese Frau soll außergewöhnlich schön gewesen sein. Um ihre Studenten nicht abzulenken, hielt sie ihre Vorlesungen verdeckt hinter einem Vorhang ab. Später lehrten an der gleichen Universität die zwei Töchter des Professors d’Andrea, Novella und Bettina. Sie hatten sich als Juristen einen Namen gemacht. Andere Beispiele sind Eleonora Sangvitelli und Theodora Danti, die hervorragendsten Mathematiker ihrer Zeit und Madeleine Buosignore, die ein seriöses Traktat über das damalige Eherecht verfasst hatte. Frauen zeichneten sich jedoch nicht nur auf dem wissenschaftlichen und philosophischen Sektor aus. Repräsentantinnen der Feudalklasse spielten im Mittelalter, besonders zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert, eine nicht unwesentliche Rolle in der Politik. Berühmte Beispiele hierfür sind die regierenden Gräfinnen Margareta von Toscana und Adelaide von Savoyen. Beide lebten zu Beginn des 11. Jahrhunderts im Norden Italiens. Ein anderes Beispiel ist die mächtige und stolze toskanische Gräfin Matilda, Herrscherin über die wohlhabende und blühende Handels- und Handwerkerstadt Florenz. Sie war mit dem Markgrafen von Toskana verheiratet und übernahm nach dessen Tod seine gesamten, gewaltigen Besitztümer, obwohl sie dem Gesetz nach nur den Titel Gräfin innehatte. Sie regierte über Städte, große Landgemeinden und die Eigentümer des niedrigen Adels und der Kleinfürsten. Diese kluge und aktive Gräfin saß, der Sitte jener Zeit folgend, persönlich zu Gericht über ihre Vasallen und Stadtbewohner. In ihrer Eigenschaft als Hauptrichter führte sie bei den Gerichtsverhandlungen den Vorsitz und signierte feierlich alle Urteile. In Florenz werden einige interessante Dokumente über Urteile, die die Gräfin Matilda verkündet hat, aufbewahrt. Wie alle Frauen aus regierendem Adelsmilieu durfte sie nach eigenem Gutdünken über ihren persönlichen Besitz verfügen, das hieß gleichzeitig ohne jede Bevormundung. Diese Periode war auch durch die verschärfte Rivalität zwischen Kaiser und Papst gekennzeichnet, dem Kampf zwischen Staat und Kirche. Matilda, persönlich mit dem schlauen, herrschsüchtigen und mächtigen Papst Gregorius VII. befreundet, widersetzte sich dem Kaiser und überschrieb in ihrem Testament ihren gesamten, beachtlichen Besitz dem Papst, was natürlich dessen Macht stärkte. Die Gräfin Adelaide von Savoyen, ihre Zeitgenossin, verwaltete selbst – obwohl sie zwei Söhne hatte – ihre ausgedehnten Domänen und machte Politik. In den Chroniken wird sie als eine „stolze und entschlossene Frau“ beschrieben, die sich unerschrocken auf einen Streit mit dem allmächtigen Gregorius VII. einließ und auch selbstbewusst genug war, dem Kaiser zu drohen. Ihr wird außerdem nachgesagt, sie sei eine „rechtschaffene und gütige Regentin“ gewesen. Eine weniger tendenziöse Geschichtsschreibung weiß jedoch zu berichten, dass sie zwar bisweilen die Schwächeren beschützte, jedoch das Streben ihrer Städte nach größerer Selbständigkeit konsequent bekämpfte, um ihre eigene Macht nicht zu mindern. Beide Frauen waren wissenschaftlich interessiert und wussten sehr wohl, welche Bedeutung die Wissenschaften für die Entwicklung ihrer Domänen hatten.

Die berühmte Universität von Bologna entwickelte sich zu einem geistigen Zentrum, weil Matilda den bekannten Rechtsgelehrten Irnerius als Professor angeworben hatte. Solche Frauen waren jedoch eine Ausnahme und nicht die Regel. Doch schon allein die Tatsache, dass es sie in jener finsteren und blutigen Zeit überhaupt gab, spricht dafür, dass sie gebraucht wurden.

Man könnte der Auffassung sein, dass jene Frauen – Sklavinnen und Eigentum ihrer Männer – die gegen ihren Willen an einen verhassten Gatten gekettet waren, der für sie Herr über Leben und Tod war, dass diese unglücklichen Geschöpfe einzig und allein dazu da waren, der Sippe Erben zu gebären, und dass für jene Frauen Bildung eine unnötige Sache gewesen sei. Dennoch erhielten diese Frauen eine Ausbildung aus ökonomischen Gründen. Das Anrecht der Frau auf Bildung und Wissen lässt sich nur durch ihre Rolle im geschlossenen Burghaushalt erklären, als Ehefrauen der Besitzer gewaltiger Vermögen. Ich habe Euch heute bereits auf die Rolle der Frau als Organisatorin der komplizierten Burgökonomie hingewiesen.

Eine Frau, die lesen schreiben und rechnen konnte, war natürlich vorteilhafter als eine unwissende und beschränkte Person, wenn es galt, die Einnahmen und Ausgaben der Burg zu kontrollieren, die Wirtschaft zu überwachen, die Schulden der Bauern einzutreiben und für den Winter oder eventuelle Belagerungszustände die notwendigen Vorräte anzulegen oder zu berechnen. Bei den Frauen jener Zeit war also nicht nur Schönheit, sondern auch Klugheit gefragt. Ein Geschichtsschreiber aus dem 12. Jahrhundert berichtet über die Gemahlin des Herzogs Robert von Calabrien, die alle nur wünschenswerten Eigenschaften besaß: „gute Abstammung, Schönheit und Verstand.“ Die Frauen wurden außerdem sehr geschätzt, wenn sie gute Ärzte waren. Wir wissen bereits, dass sich die Frauen seit alters her mit Krankenpflege beschäftigt haben. Schon während der Periode des Urkommunismus hatten sie die heilenden Eigenschaften von Kräutern erforscht und verwendeten diese bei der Behandlung von Kranken. Im Mittelalter war die Heilkunst sehr schwach entwickelt. Nur die mächtigsten Fürsten konnten sich einen Arzt halten. Die übrige Bevölkerung musste sich, so gut es ging, allein behelfen. Die ewigen nachbarlichen Zänkereien und Schlägereien, die Kriege und in ihrem Gefolge die Seuchen führten dazu, dass die Burg nicht nur ein Zentrum der Produktion war, sondern auch ein Krankenhaus für Verwundete und Kranke, eine allgemeine Poliklinik und eine Beratungsstation für die Bauern der Umgebung.

Die Bevölkerung sollte nämlich nicht nur unter der Schreckensherrschaft des Gutsbesitzers leiden, sondern die Burg auch als eine Art Hilfszentrale empfinden. Deshalb war es günstig, wenn die Burgherrin Kranke behandeln konnte. Solange sie die Verwundeten und Verstümmelten dem Tode entriss und andere mit ihren Arzneien von Krankheiten befreite, solange sie nicht zu vornehm war, einer Bäuerin in ihrer schweren Stunde beizustehen oder der ratlosen Hebamme mit „klugen“ Anweisungen weiterzuhelfen, solange waren die Bauern gerne dazu bereit, dem Burgherren so manche seiner Grausamkeiten zu verzeihen.

Im Mittelalter war die Heilkunst eine Sache der Frauen. Die ideale Frau, so wie sie in vielen Legenden jener Zeit beschrieben wird, besaß die Fähigkeit, Kranke zu heilen. Paracelsus, einer der bekanntesten Ärzte des Mittelalters, versicherte, er habe wesentlich mehr bei Frauen gelernt als aus den tiefsinnigen, verwickelten und fehlerhaften medizinischen Lehrbüchern seiner Zeit. Als König Ludwig IX. im Jahre 1250 von einer Pilgerfahrt aus Jerusalem nach Frankreich zurückkehrte, verlieh er seiner Ärztin für ihre ausgezeichnete Betreuung während der Reise eine schriftliche Anerkennung. Die Professur für Medizin an der Universität Bologna war im 15. Jahrhundert in den Händen einer Frau, der Dorothea Bocca.

Die Medizin war damals nur wenig erforscht und mit allerlei Hokuspokus und Aberglauben belastet. Exakte Wissenschaften im heutigen Sinne gab es noch nicht. Ja man kannte noch nicht einmal den genauen Aufbau des menschlichen Körpers. Die Heilkunst war so sehr mit Beschwörungsriten und Magie verbunden, dass sie allgemein als Zauberkunst angesehen wurde. Die kluge Alte war nicht anderes als eine Zauberin, die, weil sie mit den Mächten der Finsternis umging, Menschen heilen und auch ansonsten deren Leben, Glück und Gesundheit kontrollieren konnte. Diese klugen Alten waren deshalb nicht nur respektiert, sondern auch gefürchtet. Das praktische Wissen dieser Frauen auf dem Gebiete der Heilkunst sollte ihnen jedoch unter einem anderen sozialen und ökonomischen System zum Fluche werden.

Man begann, sie als Hexen und Zauberinnen zu verfolgen, und lange brannten in ganz Europa die Scheiterhaufen. Hunderte, Tausende, ja Zehntausende von Frauen wurden dem Flammentod ausgeliefert und dies einzig und allein deshalb, weil die „heiligen Väter“, diese frommen Diener der Kirche, sie verdächtigten, mit den Mächten der Finsternis im Bunde zu stehen.

Aber von den Hexenprozessen wollen wir ausführlicher in der nächsten Vorlesung reden. Jetzt wollen wir nur noch einmal kurz die Stellung der wohlhabenden Adelsfrau unter der Blütezeit des Feudalismus zusammenfassen: Als Vertreterin ihres Standes und Trägerin des Familiennamens wurde die Frau geschätzt und hatte gewisse Rechte. Außerhalb der eigenen Familie begegnete ihr die Ritterschaft mit Respekt und Bewunderung. In ihrer eigenen Familie jedoch war sie genauso rechtlos wie einer der Leibeigenen. Während der Blütezeit des Burghaushaltes – bis zum 14. Jahrhundert ungefähr – erhielt die Gattin des Feudalherren als Verwalterin dieses Haushaltes eine gewisse Ausbildung. Sie erzog auch die Kinder. Als jedoch mit zunehmendem Handel diese Form des Burghaushaltes zu zerfallen begann, verlor ihr Aufgabenbereich an wirtschaftlicher Bedeutung. Der wichtigste Maßstab für Reichtum war jetzt das Geld. Die Frau wurde in erster Linie zu einer Fortpflanzungsmaschine degradiert. Sie verwandelte sich zu einer Parasitin, genauso, wie seinerzeit die gesetzlichen Ehefrauen des griechischen Bürgertums. Es war jetzt nicht mehr ihre Angelegenheit, die Arbeit in der Schmiede zu überwachen oder dafür zu sorgen, dass die Weberinnen neue Muster für ihre Leinwand erfanden. Sie kontrollierte auch nicht mehr, ob die Mühlsteine ordentlich geschliffen waren und wie es mit der Herstellung von Rüstungen und Waffen stand. Alle diese Produktionszweige waren jetzt nicht mehr untrennbarer Bestandteil des Burghaushaltes. Sie wurden von der Burg in die Stadt oder die Scheune des Bauern verlegt. Auf dem Gut oder der Burg blieb nur noch die Haushaltsarbeit im engeren Sinne. Die vornehmen Adelsfrauen wichen auch diesen Arbeiten aus, so gut sie konnten. Ebenso wälzte die verwöhnte Gutsbesitzersgattin alle häuslichen Pflichten auf ihre Dienerschaft oder einen Verwalter ab. Mit dem Parasitendasein und dem Müßiggang Hand in Hand breiteten sich eine wachsende Beschränktheit, Dummheit und Verweichlichung bei diesen Frauen aus.

Man kann also feststellen, dass mit dem Verfall und der Auflösung des geschlossenen Burghaushaltes, der seinerseits auf dem geschlossenen Naturhaushalt aufbaute, auch das Bildungsniveau der den höheren Ständen zugehörigen Frauen rasch absank. Auf den ersten Blick mag dies eigenartig erscheinen. Aber wie war es sonst möglich, dass in jenem aufklärungsfeindlichen 10. Jahrhundert so hochgebildete und kluge Frauen wie etwa Roswitha oder Hildegard lebten, während sich die Frauen des 17. und 18. Jahrhunderts durch mangelnden Verstand, schlechte Bildung und dem Hang zum Aberglauben auszeichneten. Diese Weiber liebten Weiberklatsch und sinnlose Zerstreuungen. Sie verbrachten ihre Tage in apathischer Untätigkeit oder mit Ausschweifungen. Weiß man jedoch, dass die Stellung der Frau, ihr Anrecht auf Menschenwürde und Bildung immer abhängig ist von ihrem Einsatz in der Wirtschaft und der Produktion, so ist auch dies leicht verständlich und klar.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juni 2020