Alexandra Kollontai


Wir suchen Mitarbeiter

(6./7. November 1927)


Zum ersten Mal veröffentlicht in etwas anderer Fassung unter dem Titel Die ersten Tage des Volkskommissariats für Sozialfürsorge in der Zeitung Iswestija vom 6. und 7. November 1927.
Danach mehrfache Veröffentlichung unter dem Titel Die ersten Schritte.
Dem Abdruck liegt ein Manuskript zugrunde, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 437–443.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Schon etwa eine Woche ist die Macht in den Händen der Sowjets. Auch an der Front ist bereits der erste Sieg errungen worden. Kerenskis Truppen und die Kosaken haben sich bei Gatschina aufgelöst, während Kerenski selbst jämmerlich geflüchtet ist. In den Institutionen, den Ministerien bummeln die Beamten wie ehedem vor sich hin, als sei nicht das Mindeste geschehen.

Die Volkskommissariate stehen leer. Auch in dem mir unterstellten Volkskommissariat für staatliche Fürsorge rührt niemand einen Finger. Vor den Amtsräumen warten geduldig Kriegsversehrte mit Krücken, mager, abgezehrt, zerlumpt. Sie warten geduldig neben dem vom Amtsbezirk entsandten Bauern, der finanzielle Unterstützung wegen einer Feuersbrunst oder wegen Hochwassers erwirken soll. Ärzte regen sich auf, weil sie die Anweisungen für das Findelhaus, das Krankenhaus, das Entbindungsheim oder das Taubstummenheim nicht rechtzeitig bekommen können. Ein endloser Strom von Besuchern, die alle Hilfe von der neuen, bolschewistischen Regierung erwarten.

Was tun? Was soll geschehen?

Wir zitieren die Beamten, Buchhalter, Kassierer, Geschäftsführer zu uns. Wo sind die Schlüssel?

Jeder sagt, der andere habe sie. Sie tun so, als suchten sie die Schlüssel.

Nachdem wir tagelang durch die verlassenen Räume des Ministeriums gewandert waren und die Aktenstapel auf den verwaisten Schreibtischen nicht mehr sehen, die Klagen der Besucher, denen wir nicht helfen konnten, nicht mehr hören konnten, beschlossen wir zu guter Letzt, im Smolny ein „Zeitweiliges Volkskommissariat“ einzurichten. Da würden wir uns wenigstens in den Papieren zurecht finden, einen Arbeitsplan aufstellen können. Wie sollte man hier inmitten der stöhnenden, klagenden, weinenden Leute zu den Akten durchkommen? Gesagt, getan.

Wir packten das Papier von den Tischen zusammen, und ab ging’s im Wagen zum Smolny.

Mitarbeiter waren wir insgesamt nur zwei – der Sekretär Aljoscha Zwetkow und ich, der Volkskommissar.

Im Smolny ging es in jenen Tagen wie in einem aufgescheuchten Bienenstock zu. Durch seine endlosen Korridore ergossen sich zwei Ströme von Menschen – nach rechts zum Revolutionären Militärkomitee und nach links in den Raum, in dem der Rat der Volkskommissare vorerst seinen Sitz hatte.

Wir nahmen ein leeres Zimmer in Besitz, in dem ein Tisch mit nur einem Schubkasten stand, und brachten an der Tür ein handgeschriebenes Schild mit der Aufschrift an: „Volkskommissariat für staatliche Fürsorge, Sprechzeit von 12 bis 16 Uhr.“ Damit hatten wir unsere Tätigkeit aufgenommen.

Noch am gleichen Tag platzten ein paar kräftige Burschen in abgerissenen Soldatenmänteln herein.

„Kriegt man hier die Hilfe von den Bolschewiki? Wir haben Hunger. Sind ohne Dach über dem Kopf, müssen uns herumtreiben. Keiner will was für uns tun. Wir waren schon in der Kasanskaja-Straße. Der Pförtner da hat uns hierher geschickt. ‚Geht zu den Bolschewiki, verlangt von denen was‘, hat er gesagt. Helfen Sie uns also.“

Wir versuchten, herauszubekommen, wer sie sind, woher sie kommen und ob sie womöglich Invaliden sind.

„Was heißt hier Invaliden. Wir haben einfach Hunger! Sehen Sie das nicht? Warum reden Sie drumherum? Sagen Sie’s offen – sind Sie nun Bolschewiki oder nicht?“

Wir erklärten, dass wir schon Bolschewiki seien, dass wir aber dennoch wissen müssten, aus welchem Grunde so robuste Burschen wie sie Unterstützung aus der Kasse der staatlichen Fürsorge erwarteten.

Doch sie wollten nichts hören: Wenn wir Bolschewiki seien, müssten wir Leuten, die am Hungertuch nagen, helfen.

„Wozu haben denn die Sowjets dann die Macht ergriffen, wenn sich doch niemand um die Hungernden kümmert?“

Die Jungen, stämmige Burschen, gaben nicht so schnell auf. Wir waren in einer schlimmen Lage, befand sich doch die Kasse des ehemaligen Fürsorgeministeriums noch in den Händen eines der Beamten von Kerenski.

Wir durchwühlten unsere Taschen, fanden aber so gut wie nichts. Genosse Zwetkow und ich legten zusammen. Für jeden kamen so ungefähr zwanzig Kopeken zusammen. Wir gaben sie ihnen sozusagen als „vorläufige Unterstützung“. Unsere Klienten in Sachen soziale Fürsorge nahmen das Geld entgegen, wollten jedoch nicht weggehen. Und Arbeit? Nun gib ihnen mal Arbeit! Schließlich haben ja die Bolschewiki die Macht übernommen, um jedem Arbeit zu geben. Jetzt gleich, ohne Hinhalten, ohne jeden Bürokratismus!

Was sollte ich mir da einfallen lassen? Sie in die Rote Garde zu stecken wäre gefährlich. Sie hatten selbst durchblicken lassen, dass sie keine sonderlich bewussten Burschen waren. Zur Miliz? Klar, dort waren solche baumstarken Kerle zu gebrauchen. Mit einem Schreiben des Volkskommissariats, auf dem noch der Zusatz „Gebt ihnen auf jeden Fall etwas zu essen“ stand, schickten wir sie dorthin.

Die waren weg.

Dann kam ein einarmiger Mann, ein Arbeiter; den Arm hatte er im Krieg verloren. Er hatte jedoch keine Unterstützung im Sinn, sondern einen ganzen Plan – wie man Invaliden und Arbeiter ohne Arme, besonders Textilarbeiter, retten könnte. Zu diesem Zweck müssten Strickmaschinen gekauft werden. Er würde die gesamte Einrichtung übernehmen – die Werkstätten und Artels. Der Einarmige hatte irgendwo auf dem Gang Wladimir Iljitsch abgefangen und ihn offensichtlich attackiert. Wladimir Iljitsch hatte dann wohl auch diese Werkstätten und Artels gutgeheißen und den Arbeiter wegen des Geldes für den Ankauf der Maschinen zu mir geschickt.

War nun aber der Ankauf von Strickmaschinen unsere Sache, die Sache der staatlichen Fürsorge? Der einarmige Textilarbeiter ließ nicht locker. Er agitierte mit schönen Worten für seinen „Produktionsplan“.

Was tut man in so einem Falle, wenn das Volkskommissariat überdies noch nicht einmal die Schlüssel für den feuerfesten Tresor hat, in dem nach den Aussagen des Genossen Adaschew, des Rechnungsführers, die „Millionen“ des Ministeriums in bar liegen.

Wir beschlossen, diesmal „bürokratisch“ vorzugehen, und baten den Einarmigen, „in etwa zwei Tagen“ nochmals vorbeizukommen.

Er ging, unzufrieden, und murmelte noch ein paar Worte, die den Bolschewiki galten.

Kaum war er weg, erschienen lärmend zwei Vertreter des Verbandes der Kriegsinvaliden. Erregt und böse fielen sie gleich über uns her.

Wenn wir den Kriegsinvaliden nicht zu Hilfe kämen, die Unterstützungen nicht rechtzeitig zahlten und uns nicht um die Obdachlosen kümmerten, wäre eine Demonstration unvermeidlich. Die Unzufriedenheit der Invaliden wachse. Sie schimpften schon auf die Bolschewiki. Es fehle nicht mehr viel, und sie gingen auf die Straße.

Sodann erschien der Bote, Genosse Wassiljew; er kam direkt aus dem Armenhaus.

„Die alten Weiblein rebellieren. Es sei kein Holz da, sie erfrören. Es wäre ein Skandal, wenn die Alten nur noch zum Sterben da seien.“

Nach ihm kam Genosse Katschan von der Kartenfabrik. (Die Kartenfabrik wie auch der Alleinvertrieb der Karten gehörten zum Kompetenzbereich der staatlichen Fürsorge.)

„Der Zahltag steht vor der Tür, und wir haben kein Geld. Die erste Lohnzahlung unter den Bolschewiki, und gleich stunden? Unmöglich. Das darf nicht sein.“

Eine Delegation aus den Waisenhäusern. „Die Kinderfrauen sind im Begriff wegzulaufen. Es ist nichts mehr zu essen da für die Kinder.“

Dann die Genossin Amossowa aus dem Findelhaus. Auch dort wurde gemurrt. Die Anweisungen blieben aus. Die Ammen drohten, die Säuglinge im Stich zu lassen.

In unserem kleinen Zimmerchen, wo erst heute das Volkskommissariat für soziale Fürsorge aus der Taufe gehoben worden war, ging es laut zu.

Wir berieten.

Dann schaute Jegorow kurz vorbei. Er gehörte der Partei an und war Mitglied des Sowjets seit den ersten Tagen. Zudem war er der Vorsitzende und die eigentliche Seele des Verbandes der unteren Angestellten beim Fürsorgeministerium. Er selbst hatte erst im Sommer diesen Verband gegründet, das Bollwerk des Bolschewismus im neuen Volkskommissariat.

Wir freuten uns, ihn zu sehen.

„Es muss etwas geschehen. Wenn es wegen der staatlichen Fürsorge zum Skandal kommt und Invaliden, Arbeiter aus der Kartenfabrik, Kinderfrauen und Ammen auf die Straße gehen und schreien, wir würden sie hungern lassen, so wäre das schlimmer als die Truppen Kerenskis. Es hieße, die Sowjetmacht moralisch zu untergraben. Es ist an der Zeit, das Volkskommissariat zu eröffnen, doch nicht hier, kein ‚Feldkommissariat‘; ein richtiges muss her – in der Kasanskaja-Straße.“

Das sagte sich so leicht – eröffnen! Woher aber die Mitarbeiter nehmen, wir waren doch nur eine Handvoll?

„Woher die Mitarbeiter nehmen?“ entgegnete Genosse Jegorow. „Mit wem die Maschinerie des Kommissariats in Gang bringen? Mit uns, den bolschewistischen Arbeitern, den unteren Angestellten. Für heute Abend berufen wir eine Delegiertenversammlung der unteren Angestellten ein, auf der wir über alles entscheiden. Und Sie werden sehen, morgen werden sich alle Rädchen unseres Volkskommissariats drehen.“

Vor der Versammlung sah ich schnell zu Wladimir Iljitsch hinein – in das bescheidene Zimmer, wo in den ersten Monaten die Sitzungen des Rats der Volkskommissare stattfanden.

An diesem Abend brannte dort nur eine Glühbirne. Der Raum lag im Halbdunkel. Im ersten Augenblick dachte ich, das Zimmer sei leer, denn ich sah Wladimir Iljitsch nicht an seinem gewohnten Platz am Tisch. Er stand jedoch am Fenster, mit dem Rücken zu mir. Durch das Fenster schimmerte der frostklare Sternenhimmel. Wladimir Iljitsch blickte nach den Sternen.

Als er merkte, dass jemand eingetreten war, wandte er sich rasch um.

„Die Sterne!“ sagte er, mit einer Kopfbewegung auf den Himmel deutend. Es war, als hätte er sich noch nicht von den ihn bewegenden Gedanken losgerissen. Gleich darauf wurde er wieder sachlich.

„Warum tut das Kommissariat nichts? Mobilisieren Sie die Massen, nehmen Sie sich Arbeiter-Bolschewiki aus den Betrieben, ziehen Sie Sympathisanten heran ...“

Doch mitten in meinem knappen, flüchtigen Bericht fragte Wladimir Iljitsch plötzlich:

„Ist eigentlich der einarmige Arbeiter wegen des Artel zu Ihnen gekommen? Den Burschen muss man unterstützen bei seinem Vorhaben, gar nicht schlecht ausgedacht.“

Wie brachte es Wladimir Iljitsch nur fertig, neben all dem Großen und Wichtigen, was ringsum vor sich ging auch noch an den einarmigen Arbeiter zu denken, der ein Strickmaschine haben wollte und seinen „Produktionsplan“ im Kopf hatte?

An diesem Tag wurde Genosse Jegorow zu meinem Stellvertreter ernannt. Das Kommissariat wurde gebildet. Wir brauchten jetzt nur noch Mitarbeiter zu finden.

Und wir fanden sie.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2020