Alexandra Kollontai


In Kerenskis Kerker

(1927)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1927 in der Zeitschrift Katorga i Sylka (Zwangsarbeit und Verbannung), Nr. 7 (36).
Der vorliegende Abdruck erfolgt mit einigen Kürzungen nach dem Text der Broschüre, die 1928 vom Verlag der Unionsgesellschaft der politischen Zwangsarbeiter und Verbannten in Moskau herausgegeben wurde.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 361–406.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Juli 1917. Tornio, Bahnstation an der Grenze zwischen Finnland und Schweden. Der Ort liegt so weit nördlich, dass die Sonne im Sommer überhaupt nicht untergeht. Vor dem Krieg wurde diese Grenzstation kaum passiert. Seit dem Krieg führt hier die einzige Russland offenstehende Transitbahnlinie nach Europa entlang.

Eine trostlose Station. Amtsgebäude im Kasernenstil. Sumpf. Die Zwergbirken des Nordens. Kurz zuvor Schwedens Grenzstation Haparanda. Öde Polarnatur, doch blitzblanke ländliche Bauten und schmucke Baracken, für Flüchtlinge und zur Repatriierung vorgesehene Kriegsgefangene von und nach Russland.

Vor ganzen vier Monaten bin ich die gleiche Strecke nach Russland gefahren, nach dem „befreiten“ Russland, wo das Volk es fertiggebracht hatte, den Zaren zu stürzen und die Republik im Lande zu proklamieren. Für die Politischen war eine Amnestie erlassen worden.

Damals, im März 1917, herrschte strenger Winter. Die weiße Schneedecke verbarg das öde Aussehen der Polarsümpfe. Und es war lustig, das Grenzflüsschen Tornio mit Schellengeläut auf dem Schlitten zu überqueren. Vor mir hatte das neue Russland gelegen. Noch war es nicht unser Russland gewesen, noch war es nur ein „bürgerliches“, doch hatte sich der Wille der Arbeiter und Bauern zum Frieden und zur gründlichen Säuberung des alten Russland etwa nicht darin bekundet, dass sie ihre eigenen Sowjets geschaffen hatten? Vor mir hatten Kampf und Arbeit, Arbeit und Kampf gelegen. Mir war froh zumute gewesen, alles war frisch und belebend wie die frostige Schneeluft am Grenzflüsschen Zum Klang der Glöckchen eilten meine beschwingten Gedanken damals voraus – ins neue, revolutionäre Russland ...

Inzwischen war es Juli geworden, hinter uns lag der erste Ansturm des werktätigen Volkes gegen die bürgerliche Ordnung in Russland, die versuchte, sich „einzunisten“ .

Man ließ uns aus dem vom Ausland kommenden Zug (die Züge fuhren jetzt bereits bis nach Tornio) aussteigen und nahm uns die Pässe ab. Wir gingen ins Bahnhofsgebäude. Dort war es eng, recht schmutzig und laut, vollgeraucht. Keine einzige rote Schleife mehr. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch und tranken Tee. Aus der Kommandantur kamen fortwährend Offiziere heraus, betrachteten uns neugierig und huschten wieder hinein. Beide (Soja Schadurskaja und ich) schwiegen wir und dachten uns, dass das nicht von ungefähr kam.

Da sehe ich einen Bekannten, jenen jungen, rotwangigen Offizier, der mich damals durchgelassen hatte, als sich für die „Politischen“ die Grenze zum neuen Russland öffnete. Er blickt mich finster an, ohne zu grüßen. Sie haben also etwas vor.

Eine Stunde vergeht, eine weitere, noch eine.

Wir werden an einen kleinen Tisch gebeten, an dem ein Offizier sitzt, sollen Fragebogen ausfüllen. Wir tun es.

Die Reisenden sind unzufrieden: Warum wird der Zug mit Verspätung bereitgestellt? Man spricht vom Juliaufstand. Es soll „grausame Repressalien“ gegen die Bolschewiki geben, die Redaktion der „Prawda“ sei kurz und klein geschlagen, eine Menge Verhaftungen seien erfolgt. „Und diese deutschen Spione werden wie Landesverräter von einem Standgericht verurteilt werden.“

Wir sitzen da und hören zu.

Das Einsteigen hat begonnen. Ein Gepäckträger nimmt auch unsere Sachen. „Und die Pässe?“

„Die Pässe bekommen Sie im Wagen zurück.“ Merkwürdig, sollte man uns tatsächlich passieren lassen? Kaum zu glauben. In der Tür unseres Abteils erscheint ein Offizier.

„Sind Sie die Bürgerin Kollontai? Dann folgen Sie mir in die Kommandantur. Nein, nein“ – zu Soja Schadurskaja hin –, „vorerst sollen nur Sie kommen.“ Die Sache ist klar – man wird mich verhaften. Eine ganz gewöhnliche Kommandantur, kleine Fenster, alles schmuddelig. An den Wänden drängen sich dicht an dicht Soldaten, als fände eine Versammlung statt. Davor die Offiziere, halb angespannt, halb betreten. Unter den Anwesenden sticht eine hochgewachsene, stattliche Gestalt in Marineuniform hervor – Fürst Belosselski-Beloserski.

Einen Augenblick lang herrscht gespannte Stille und Schweigen. „Bürgerin Kollontai, Sie sind verhaftet.“ Das erklärt der Fürst.

„Auf wessen Anordnung? Ich bin Mitglied des Exekutivkomitees des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Oder hat in Russland ein Umsturz stattgefunden, haben wir wieder die Monarchie?“

„Wo denken Sie hin! Ihre Verhaftung hat die Provisorische Regierung verfügt!“

„Kerenski? Bitte zeigen Sie mir den Haftbefehl.“ Der Fürst faltet das Papier so auseinander, dass ich den Anfang nicht sehe, und deutet auf die Unterschrift. Tatsächlich – Kerenski.

„Dann veranlassen Sie, dass mein Gepäck aus dem Wagen geholt wird, sonst geht es am Ende noch verloren.“

„Selbstverständlich! Oberleutnant, regeln Sie das!“

Sogleich löst sich die Spannung, Bewegung kommt in die Leute, Geschäftigkeit.

Die Soldaten indessen blicken düster und unzufrieden drein. Sie gehen widerstrebend auseinander, murren halblaut, wie bei einer Versammlung, die nicht zustande gekommen ist.

Die Offiziere dagegen sind eindeutig zufrieden. Was mag da los sein?

Später, unterwegs nach Petrograd, erzählt die uns begleitende Wache, dass die Soldaten, als sie von meiner geplanten Verhaftung erfuhren, mit der Macht des Regimentskomitees beschlossen hatten, bei der Verhaftung zugegen zu sein. Die Offiziere nun fassten dies als eine Art „Protest“ auf und wurden von panischem Schrecken gepackt, ich könnte „das Wort ergreifen“ und mir einfallen lassen, bolschewistische Propaganda zu treiben.

„Dann wäre es um uns geschehen gewesen!“ gestehen die mich bewachenden Offiziere. „Nicht Sie, sondern uns hätte man da höchstwahrscheinlich verhaftet. Wenn es überhaupt dabei geblieben wäre!“

Doch in dem Augenblick, als der Oberleutnant diensteifrig los eilte, mein Köfferchen zu holen, wusste ich das nicht und begriff nicht, warum die Soldaten eigentlich so unverkennbar unzufrieden waren.

Während ich mir noch so meine Gedanken mache, wird Soja Schadurskaja gebracht.

Sie lächelt.

„Und du hast das neue Russland noch gelobt! Was gibt es da schon Neues? Sogar sehr alt ist das und bestens bekannt. Alles, wie es sich für das alte Mütterchen Russland geziemt, nur dass die Gendarmen diesmal eine andere Uniform tragen.“

„Bürgerin Schadurskaja! Unterlassen Sie bitte Ihre spöttischen Bemerkungen!“ unterbricht sie der drohend und imposant wirkende Fürst.

„Sie wollen doch sicherlich nicht, dass wir hier hysterisch in Tränen ausbrechen? Dann lassen Sie uns wenigstens unseren Spott!“

Die Offiziere flüstern untereinander. Irgend etwas beunruhigt sie. Sie gehen hinaus, beratschlagen. Später haben wir erfahren, dass der Haftbefehl auf den Namen Schadurski und nicht Schadurskaja lautete. Nun wussten sie nicht, wie sie sich verhalten sollten.

Der Fürst lässt sich mit uns in einen politischen Disput ein. Er sucht uns zu beweisen, dass die Bolschewiki – und wir natürlich mit – „Vaterlandsverräter“ seien, dass wir die „freie Republik“ zugrunde richteten, dass wir „dem Feind in die Hände arbeiten“, dass es unter uns („ich meine natürlich nicht Sie“, fügt der Fürst, ganz Liebenswürdigkeit und Mann von Welt, einschränkend hinzu) eindeutig Agenten Deutschlands gebe. Dafür lägen Beweise vor. „Von wem stammen diese Beweise?“

„Von Ihren Genossen, ebensolchen Revolutionären, wie Sie es sind – von Alexinski und Burzew.“ [1]

Der Fürst hat nun nichts Eiligeres zu tun, als uns den verleumderischen Artikel Burzews, der seinerzeit großes Aufsehen erregt hat, unter die Nase zu halten. In dem Artikel finden sich viele vertraute Namen. Dick mit Blaustift unterstrichen ist der Name „Kollontai“.

„Seit wann ist denn ein Zeitungsartikel ein authentisches, unanfechtbares Schriftstück?“ möchte Soja Schadurskaja wissen.

Der Fürst, ärgerlich mit den Schultern zuckend, versucht, uns nachzuweisen, dass sich Alexinski auf „Dokumente“ gestützt habe und dass dies alles bei der Gerichtsverhandlung aufgedeckt werde.

Unter strenger Bewachung werden wir in einen besonderen, an den Zug gekoppelten Wagen gebracht. Der Zug ist umstellt, die Reisenden dürfen die Wagen nicht verlassen. Auf dem Bahnsteig ein paar Leute aus Tornio. Von diesem Häuflein tönt es herüber: „Deutsche Spioninnen! Bolschewistinnen, Verräterinnen Russlands!“

Ein beleibter Mann mit Serviette unterm Arm, der Inhaber des Speisewagens, kommt uns hinterhergerannt. Laut und vernehmlich tut auch er uns seine „Missbilligung“ kund:

„Da bringt man die Spionin Kollontai. Diese widerliche bolschewistische Hündin, diese blutrünstige Kollontai! Du gehörst zusammen mit den Verrätern Russlands an den Galgen! Es lebe die Republik Russland und ihre Verbündeten! Hurra!“

Doch das „Hurra“ des Speisewageninhabers wird von niemandem aufgegriffen. Und seine Serviette weht als einsamer weißer Fleck auf der grauen Bahnstation von Tornio.

Finnland. Noch ist es nicht „rot“, doch die Arbeiter und die Dorfarmut lauschen aufmerksam, schweigend und nachdenklich der Stimme der Bolschewiki. Ihre Sympathie gilt den überzeugenden und zielstrebigen Aktionen des Zentralkomitees der Baltischen Flotte, die der Provisorischen Regierung den Gehorsam verweigert. Die Sozialistische Arbeiterpartei Finnlands hat sich erst vor kurzem von der II. Internationale losgesagt und sich Zimmerwald angeschlossen. Unter großem Geschrei der liberalen finnischen Bourgeoisie schlägt der Bolschewismus im Lande Wurzeln.

Rein äußerlich hat sich jedoch an dem vertrauten, gründlichen und arbeitsamen Finnland mit seiner behäbigen Geruhsamkeit nichts verändert. Bescheidene, blitzsaubere und frisch gestrichene hölzerne Stationsgebäude, sorgfältig ausgebesserte Feldwege, helle Schulgebäude mit vielen Fenstern, rauchende Fabrikschlote und schmucke Arbeitersiedlungen.

Wir fahren einen Tag, dann noch einen durch Finnland. Unser Wagen ist zweiter Klasse, aber einer, wie sie die Vorortzüge haben – auf den schmalen Bänken kann man sich nicht hinlegen. So müssen wir eben zusehen, wie wir im Sitzen ein wenig schlafen. Vor der Tür steht die Wache. Wir werden von zwei jungen, sehr jungen Offizieren begleitet. Natürlich geht es die ganze Fahrt über zwischen uns hin und her – über den Krieg, über die Sowjets, über die Bolschewiki. Die Offiziere diskutieren heftig. Besonders die Verteidigung des Vaterlands bewegt sie.

„Wie sollten wir das republikanische Russland nicht verteidigen? Ja, wenn es noch das zaristische wäre, aber so, wo wir doch nun die Republik haben, die Freiheit!“

„Die Freiheit? Wo ist sie denn? Da behandeln Sie uns hier wie Verbrecher, dabei haben wir nichts anderes getan, als unsere Ideen verteidigt. Folglich dürfen doch nicht alle frei denken? Freiheit gewährt die liberale Provisorische Regierung nur bis zu einer bestimmten Grenze. Wer für die Sowjets ist, der kommt ins Kittchen.“

Sie streiten, bringen Einwände vor. Wie könnten sie auch zugeben, dass die Bolschewiki, diese „vaterlandslosen Gesellen“, in irgendeiner Weise recht haben?

Auf den stillen finnischen Bahnstationen, wo gesetzte, finster blickende finnische Bauern friedlich ihre Pfeifen rauchen, versuchen die Mitreisenden, die „Spionin Kollontai“ zu erspähen. Die uns bewachenden Offiziere ziehen eilig die Rollos herunter. Tun sie es aus Vorsicht? Oder wollen sie uns vor unangenehmen, neugierigen Blicken bewahren?

Hunger macht sich bemerkbar, uns quält Durst. Immerhin ist es Sommer, Juli. Die Offiziere schlagen vor, in den Speisewagen zu gehen.

Der Zug ist lang, auf den Plattformen bleiben wir jedes Mal stehen, um die belebende, würzig nach Kiefern duftende Luft Finnlands einzusaugen. Dabei gehen die Gedanken weit, weit zurück in meine frühe Kindheit, auf das Gehöft in Kuusa, wo mein finnischer Großvater seine Milchwirtschaft errichtet und wo im friedlichen Alltagsleben niemand an große Kriege und an die großen Möglichkeiten sozialer Umwälzungen gedacht hat.

Im Speisewagen geht es eng zu. Wir nehmen Platz. Urplötzlich steht unser wütender und unversöhnlicher Feind, der dicke Speisewageninhaber, vor uns.

„Der Spionin Kollontai, dieser Bolschewikin und Feindin der Republik Russland, erlaube ich nicht, in meinem Restaurant zu speisen!“

Unsere Wache ist verlegen und verwirrt. Die Gäste verfolgen den „Skandal“ voller Neugier. Halblaut versuchen die Offiziere, dem übereifrigen „Patrioten“, der „zum Ruhme des Vaterlands“ sogar bereit ist, auf den Verdienst zu verzichten, den ihm die vier Kunden einbrächten, etwas begreiflich zu machen. Aber der „Patriot“ bleibt standhaft und unerbittlich. Die „Spione“ gehörten „bei Wasser und Brot“ eingesperrt. Doch nicht einmal ein Glas Wasser lässt er den Bolschewiki in seinem Speisewagen geben! Das Wasser sei alle.

Wir gehen wieder, während uns der Speisewageninhaber laute Tiraden über den Ruhm der russischen Waffen und über Vaterlandsliebe hinterdrein schickt. Zusammen mit belegten Broten, die unsere Wache auf einer Bahnstation ergattern konnte, bekommen wir auch Petrograder Zeitungen.

An der Front ist die Todesstrafe wieder eingeführt worden. Fälle von Erschießungen hat es bereits gegeben. Diese Neuigkeit wirft sogleich Licht auf die ganze Situation. Die Provisorische Regierung wankt, sie klammert sich krampfhaft an alle Mittel, nur um den Bolschewismus zu ersticken. Aufsässigkeit fürchtet sie wie den Tod. Die Provisorische Regierung möchte wohl das Volk regieren, will aber nicht hören und begreifen, was das Volk, das werktätige Volk erstrebt. Ja, und was hat denn die Provisorische Regierung eigentlich vor den Julitagen wirklich Revolutionäres getan, als dass das Volk dem Willen dieser Regierung Rechnung zu tragen geneigt gewesen wäre?

An den ökonomischen Grundlagen Russlands hat sich nichts geändert. Die Bodenfrage? Die Bauern lösen sie aus eigener Kraft und eigenmächtig, bevor sich Kerenski und Konsorten überhaupt aufraffen, die „Konstituierende Versammlung“ einzuberufen. Die Bauern können nicht länger warten. Während die Koalitionsregierung noch die „Ablösung des Grund und Bodens“ erörtert, ganz zaghaft erörtert, bewirtschaften die Bauern bereits die ehemaligen Nester der adligen Gutsbesitzer. Nein, die Provisorische Regierung vernimmt die Stimme der Bauernschaft nicht, sie vermag nicht, deren Willen zu erkennen.

Dann der Krieg. Während sich die Koalitionsregierung in Petrograd die Reden Kerenskis und zugereister Sozialpaktierer über den Nutzen von Offensiven anhört, werfen die Gestalten im grauen Soldatenmantel die Gewehre in die Schützengräben und machen sich still und heimlich von der Front aus dem Staube. Da hat so mancher die Okopnaja Prawda nie zu sehen bekommen und ist dennoch bereit, sich mit den einfachen deutschen Soldaten zu verbrüdern. In überfüllten Güterwagen, in ziemlich mitgenommenen Reisezügen ohne Fensterscheiben und auf Wagendächern streben die Soldaten ohne Waffen in dichten Scharen ihren heimatlichen Kreisen und Dörfern zu. Und wer erst einmal in seinem Kreis angelangt ist, macht sich sogleich an die Arbeit. Er hilft den Sowjet der Arbeiter und Soldaten festigen, unterstützt die Alten im Dorf in ihrem Wunsch, Hof und Ländereien des Gutsbesitzers zu beschlagnahmen. Warum auch nicht? Im Krieg war das Requirieren schließlich auch Gang und Gäbe. Dieser neue Begriff hat sich fest eingeprägt. Wozu hier also „Ablösung“? Wer hat denn bei den Requisitionen des Militärs an der Front etwas gezahlt? Wer hat sich um das Recht des Eigentümers geschert? So halfen die Soldaten den Leuten zu Hause in ihren Dörfern eifrig, ohne viele Umschweife, die Bodenfrage zu lösen. Die Provisorische Regierung indessen machte dazu eine böse Miene und erließ „Befehle“, in denen die in den Dörfern vorkommenden „Ausschreitungen“ verurteilt wurden. Auch hier schenkte sie der Stimme des werktätigen Volkes kein Gehör.

Produktion und Lebensmittelkrise sind die Hauptprobleme der Arbeiter. Instinktiv beginnen die Arbeiter, an eine Regulierung der Produktion zu denken. Sie bilden Betriebskomitees [2]. Zur gleichen Zeit beschließt das Kabinett, die „Rüstungsindustrie zu stärken“, ohne den Bedürfnissen der Bauern und den Interessen der Reproduktion Rechnung zu tragen. Die Arbeiter besprechen auf ihren Versammlungen Maßnahmen, die darauf abzielen, die Industrie vor der völligen Zerrüttung zu bewahren, den Eisenbahntransport zu retten und die Lebensmittelversorgung der Städte zu gewährleisten. Zuvor müssen jedoch die Kanonen zum Schweigen gebracht werden. Da der Krieg den gesamten gesellschaftlichen Mehrwert, den die Arbeiter und Bauern erwirtschaftet haben, erbarmungslos verschlingt, muss man ihm Einhalt gebieten. Da die Betriebe nicht mehr für den Bevölkerungsbedarf produzieren und einzig und allein die Front versorgen, gibt es keine Akkumulation, keine Vorräte. Hunger und Verarmung sind unvermeidlich. Die Rettung liegt in der Beendigung des Krieges und in der Regulierung der Wirtschaft.

Die Provisorische Regierung hat angeordnet, die „Rüstungsproduktion zu verstärken“, während die Arbeiter Anstalten trafen, eine so grundlegende Frage wie die „regulierte“ und „planmäßige“ Wirtschaft zu lösen. Die Vorbereitung erfolgte spontan, in Gestalt von bruchstückhaften Gedanken, die in Resolutionen und sachlichen Entscheidungen der Betriebskomitees im Sommer 1917 ihren Niederschlag fanden. Und alles, was im Russland jener Tage an Neuem, Lebendigem, Schöpferischem entstanden ist, alles, was dem krampfhaften Bestreben der Bourgeoisie, sich auf der Grundlage der bürgerlichen Republik zu behaupten und möglichst viele Grundsätze des alten Russland im Alltag, in den Begriffen und vor allem in der Wirtschaft zu retten, zuwiderläuft – all das läuft unter dem verhassten Wort „Bolschewismus“. Nein, die Provisorische Regierung hat nichts wahrhaft Revolutionäres getan. Doch auch mit der Wiedereinführung der Todesstrafe an der Front und einem öffentlichen Prozess gegen die „Vaterlandsverräter“, die Bolschewiki, wird sie weder die Lage noch sich selbst retten können ...

„Und was wird, wenn Sie die Provisorische Regierung stürzen?“ erkundigt sich neugierig der jüngere der uns bewachenden Offiziere. „Wer wird dann regieren? Die Bolschewiki?“

„Nein, die Sowjets! Die Sowjets der Arbeiter und Bauern.“

„Aber auf bolschewistische Weise?“

„Ja, auf bolschewistische Weise.“

Langsam, quälend schleppt sich der Zug dahin. Das ständige Sitzen macht müde. Drei schlaflose Nächte haben wir hinter uns, und vor uns liegt noch ein langer Tag auf der Eisenbahn. Es heißt, wir träfen erst gegen Abend in Petrograd ein.

Hinter Wiborg fahren wir durch Sommerhauskolonien.

Es mutet einen seltsam an, die bekannten Bilder friedlichen Spießerlebens zu sehen – sich langweilende Sommerfrischlerinnen, den Telegrafenbeamten, der einem jungen Mädchen im rosa Sommerkleid schöne Augen macht ...

Begierig kaufen wir auf einer Station Zeitungen. Die Verhaftungen von Bolschewiki dauern an. In der Provisorischen Regierung werden die Posten abermals neu verteilt. [3] Ein schönes Hin und Her!

Und die Sowjets? Warum setzen sich die Sowjets noch immer nicht für ihre Mitglieder ein? Weshalb wird in den Sowjets keine Stimme des Protestes gegen das Tun der Koalitionsregierung laut? Es sind doch nicht alle Bolschewiki verhaftet worden! Sollte die Reaktion wirklich so stark sein? Ist die Bewegung für die Sowjets etwa abgewürgt worden? Und für wie lange? Auf Monate, Jahre hinaus?

Beloostrow. Grenzstation in Russland. Ich bitte die Wachoffiziere, wenigstens von hier aus mein Telegramm an den Vorsitzenden des Exekutivkomitees abzuschicken. Schließlich kann doch der Sowjet der Arbeiter und Soldaten die Verhaftung eines Mitglieds des Exekutivkomitees nicht einfach so hinnehmen.

Wir warten auf das Erscheinen der Grenzbehörden. Die Wache an unserem Wagen ist verstärkt worden. An unsere Fenster darf niemand heran. Die Rollos sind heruntergelassen. Im Wagen ist es dunkel, nur eine trübe Lampe brennt. Es ist drückend und stickig. Es riecht nach Lokomotivenrauch und dem Staub der Wagen. Hin und wieder wechseln wir ein paar Worte, fragen uns, wann denn die Abfertigung erfolgt, wann wir wohl weiterfahren.

Eine neue Wachablösung poltert herein. Lärmend richtet sie sich mit ihren Gewehren im Wagen ein. Die uns begleitenden Offiziere tuscheln mit den Grenzbeamten von Beloostrow. Für einen Augenblick ist ein Telegrammformular zu sehen.

Ich versuche, zu ihnen zu treten. Einer der neu angekommenen Soldaten versperrt mir jedoch mit dem Gewehr den Weg.

Wieder heißt es warten. Unsere Bewachung kehrt in den Wagen zurück.

„Wir fahren mit Ihnen bis nach Petrograd“, teilen sie uns mit, als handele es sich um eine große und für uns angenehme Neuigkeit.

„Hätte es denn anders kommen können?“

„Ja, wissen Sie, eigentlich sollten wir Sie hier abgeben. Doch das ist nun alles geregelt.“

„Und mein Telegramm an das Exekutivkomitee?“

„Ja, ja, das habe ich weitergegeben.“

„Aber wird man es auch absenden?“

„Das müssen sie wohl.“

Wir warten weiter. Langweilig ist das und qualvoll. Im Wagen ist es trüb und schwül – trüb ist auch unsere Stimmung.

Ein Schwall frischer Abendluft. Die Zollbeamten kommen herein.

„Wir haben die Anordnung, Ihr ganzes Gepäck mitzunehmen.“ „Ihr“ – damit sind wir gemeint.

Eine Durchsuchung? Sollen sie ruhig, außer einem Paar neuer Schuhe führe ich nichts „Verbotenes“ mit. Niemals wäre mir in den Sinn gekommen, dass dieses Paar unscheinbarer Knopfstiefel in der Phantasie der antibolschewistischen Lügenpresse zu „vierzehn Paar Stiefeln“ werden würde, die ich für deutsches Geld gekauft haben soll!

Unsere Köfferchen werden fortgeschafft. „Dass sie bloß nicht auf den Gedanken kommen, die Schminke zu beschlagnahmen, die ich für Vera (die Schauspielerin Jurenewa) mitgenommen habe“, jammert Soja Schadurskaja. Aber die Theaterschminke wurde beschlagnahmt und gab ein schönes Thema für neue Zeitungsenten von einem ganzen Kosmetikarsenal ab, das die „gefährliche Bolschewikin“ mit sich geführt habe.

Ein Oberst der Grenzwache, in seiner Haltung noch ganz altes Regime, kommt in unseren Wagen, um Soja Schadurskaja mitzuteilen, dass ihre Verhaftung nun „endgültig“ sei, während sie bisher nur „vorläufigen“ Charakter getragen habe. Wir nehmen es zur Kenntnis.

Inzwischen ist es Nacht. Die graublaue Nacht des Nordens. Wir fahren los. Nach einer Stunde sind wir am Ziel – Petrograd.

Der Bahnsteig des Finnländischen Bahnhofs. Wir müssen warten, bis sich die Menge der Reisenden zerstreut hat. Ich stehe am Wagenfenster. Der Bahnhof ist mir vertraut. In bunter Folge ziehen die vergessenen Bilder aus den Kindertagen und der frühen Jugend an mir vorüber. Damals verhieß dieser Bahnsteig entweder Ferienwonnen auf Großvaters Anwesen in Kuusa oder aber das Gleichmaß und den gewohnten Trott der Schule im Winterhalbjahr. Jetzt hingegen führt er höchstwahrscheinlich nur in eine Zelle in Kerenskis Gefängnis.

Wir werden gerufen. Ein Lastwagen. Wir klettern hinauf. Es tagt schon. Der graublau schimmernde Himmel geht in zarte gold-rosa Töne über.

Wohin bringt man uns?

Der Lastwagen rattert auf der Wiborger Seite dahin, dann geht es über die Newa. An der Uferstraße machen wir halt – vor dem Gebäude der Spionageabwehr.

Ein großes, leeres Zimmer, die Fenster gehen auf die Newa. Erstes Morgenlicht dringt herein. Das elektrische Licht brennt. In diesem Zwielicht gibt der Oberst der Spionageabwehr irgendwie eine besonders theatralische Figur ab. Er sitzt an einem großen Schreibtisch. Das Gesicht bleich, ins Bläuliche gehend, mit einem Spitzbart. Die Augen stieren glasig, wie irrsinnig. Die Bewegungen wirken unkonzentriert und fahrig, so wie bei einem Betrunkenen oder Kokainisten (später erwies sich letzteres als zutreffend).

„Die Spioninnen haben Sie gebracht? Die Bolschewistinnen? Für deutsches Geld wollten sie Russland zugrunde richten? Das wird ihnen nicht gelingen! Wir werden es nicht zulassen! Werden es nicht gestatten!“

Seine Stimme klingt, als werde er gewürgt; er schreit die Worte hysterisch heraus, wie mit letzter Kraft. Den Offizieren ist der Auftritt des Obersten sichtlich peinlich. Statt eines sachlichen Verhörs haut er mit der Faust auf den Tisch und brüllt Verwünschungen und Drohungen in die Gegend.

Dumm ist das und ärgerlich.

Mit einem Mal hat sich der Oberst beruhigt. Er ist verstummt. Er ordnet sein Haar, starrt uns schläfrig an und scheint erst jetzt begriffen zu haben, wer da vor ihm steht und zu welchem Zweck. Er beginnt, in seinen Papieren herum zu wühlen.

Unversehens wirft er mir eine Frage an den Kopf: „Kennen Sie Fähnrich Semaschko vom Maschinengewehrregiment schon länger?“

Aus der Vernehmung erfahre ich ein paar Tatsachen, die Licht auf den Juliaufstand werfen. Angefangen haben die Matrosen von der Baltischen Flotte. Offenbar ist die Sache spontan losgegangen, aber nicht über Petrograd hinaus. Verhaftet worden sind Roschal, Dybenko ... und „alle Ihre wichtigen Agenten“, wie der Oberst sagt. Ich werde schwerster Staatsverbrechen beschuldigt – der Desorganisation der Armee, die zur Niederlage Russlands an der Front führe, der Verbindung zum Feind, der Vorbereitung eines Aufstandes und dergleichen mehr. Vor allem aber interessiert sich der Oberst für den Fähnrich Semaschko. Wenn ich ihm etwas über meine Bekanntschaft mit ihm erzählte, ginge alles klar!

Was soll nur dieser Fähnrich Semaschko? Ich entsinne mich seiner von Versammlungen des Regiments her, doch seit wann ist er im Kampf gegen die Bolschewiki in den Mittelpunkt des Interesses gerückt?

Soja Schadurskaja wird vernommen. Eines der Beweisstücke gegen sie ist unser Briefwechsel.

Soja Schadurskaja erklärt: „Dieser Briefwechsel war privater Art.“

„So, so! Ihr Briefwechsel war also rein privat? Dann sagen Sie mir einmal, Bürgerin Schadurskaja, was Ihr Telegramm zu bedeuten hat, das Sie aus Kristiania an die Bürgerin Kollontai gesandt haben: ‚Kann nicht kommen wegen zahnärztlicher Behandlung. Schicke mir 60 Kronen, wenn nicht vorhanden, leihe sie von Vera.’ Was heißt zahnärztliche Behandlung’? Und wer ist diese Vera?“

„Sie wissen nicht, was zahnärztliche Behandlung heißt? Sie Glückspilz! Und Vera ist meine Schwester.“

„Aha, so sieht also Ihre Erklärung aus. Na schön, halten wir das fest. Schlau ausgedacht! Doch was hat die Überweisung von Geld durch einen gewissen Fürstenberg (Hanecki) damit zu tun? Ach so! Das ist ein ‚Genosse’ von Frau Kollontai? Auch das werden wir festhalten.

Und wo ist Ihr Freund Lenin? Es ist doch wohl kaum anständig von einem ehrlichen Menschen, sich zu verbergen, wenn er der Spionage bezichtigt wird?“

Sich zu verbergen? Also ist Lenin nicht in ihrer Gewalt? Das gibt mir gleich neuen Mut.

Das Verhör in der Spionageabwehr ist zu Ende.

Man bringt uns fort. Wieder ein Lastwagen. Diesmal geht es auf die Fontanka, zum Staatsanwalt.

Die Stadt schläft noch. An den Straßenecken dösen die Droschkenkutscher vor sich hin, ein einsamer Fußgänger hastet die Straße entlang. Alles ist so alltäglich, so voller nächtlicher Ruhe. Kaum zu glauben, dass die Stadt vor wenigen Tagen erst vom Fieber eines neuen Aufstands erfasst war, dass geschossen worden ist. Im Marienpalais tagte nervös die Regierung. Die dem Sowjet angehörenden Menschewiki und Sozialrevolutionäre klammerten sich verwirrt an eine bewährte Waffe – die Spionageabwehr und Verhaftungen, um die Koalitionsregierung vor der Gefahr des „Bolschewismus“ zu retten. Die Matrosen, Soldaten und Arbeiter aber gingen in geschlossener Front vor, um unter Einsatz ihres Lebens einen Weg ins neue Russland, ins Sowjetrussland zu bahnen. Doch die Macht Kerenskis und seiner Helfershelfer erwies sich noch einmal als stärker. Es wäre töricht, anzunehmen, dass der Sowjet bei seiner jetzigen Zusammensetzung aus Menschewiki und Sozialrevolutionären seine bolschewistischen Mitglieder gegen die Koalitionsregierung in Schutz nehmen wird. Aber was ist die Provisorische Regierung schon ohne den Sowjet? Verschwindet die Basis, die Sowjets, gibt es auch keine Provisorische Regierung mehr. Also stellen die Sowjets bereits jetzt die Macht dar?

Wir werden zum Gebäude der ehemaligen Gendarmerieverwaltung gebracht und in einen großen, leeren Spiegelsaal geführt (das Gebäude war einst die Villa eines Würdenträgers aus der Zeit Katharinas II.).

Wieder heißt es warten. „Formalitäten“ müssen erledigt werden. Ab und zu kommen geheimnisvolle, verdächtig aussehende Gestalten herein – ein Mann im Russenkittel und mit gewichsten Stiefeln, doch mit sehr gepflegten Händen, dann ein Herr in gut sitzendem Jackett, aber mit dem Gesicht eines heruntergekommenen Säufers. Sie tuscheln mit den Beamten in Uniform und verschwinden durch die Spiegeltüren.

Wir müssen lange warten. Der Staatsanwalt ist nicht aufzufinden. Er ist noch nicht nach Hause gekommen. Dabei ist es schon vier Uhr morgens.

Plötzlich beginnt ein geschäftiges Hin und Her, ein Hasten, treppauf und treppab – der Staatsanwalt ist eingetroffen.

Eine halbe Stunde darauf wird mir mitgeteilt, für mich gehe es „weiter“. Und was wird aus Soja Schadurskaja? Wir werden getrennt.

Diesmal erwartet mich kein Lastwagen, sondern ein Personenwagen. Ich werde von zwei Soldaten mit Gewehr und dem jüngeren der beiden Offiziere begleitet.

Wieder unterhalten wir uns über den Krieg, über den Bolschewismus, über die Sowjets.

„Sie werden es eines Tages bedauern, dass Sie nicht mit den Arbeitern, den Werktätigen gehen. Die historische Wahrheit ist nämlich auf ihrer Seite.“

Das habe ich nur so beiläufig gesagt, doch viele Jahre später sollte ich von ebenjenem Offizier einen Brief mit dem bitteren Eingeständnis bekommen, dass ich damals „nur allzu recht gehabt“ hätte ...

Mich bewegt die Frage, wie stark wohl die Reaktion ist. Ich traue ihr nicht allzu viel zu. So lebendig sehe ich die großen Kundgebungen in den Regimentskasernen, den Fabriken und auf den Schiffen der Baltischen Flotte vor mir. Die Werktätigen haben schon damals verstanden, haben instinktiv begriffen, dass die Macht der Sowjets eben das ist, was sie brauchen, das, was sie wollen. Sie wollen nicht regiert werden, sondern selbst regieren, entscheiden, etwas schaffen. Und mit diesem verheerenden, unheilvollen Gemetzel Schluss machen. Die Massen haben dies begriffen. Nur diejenigen, die am Ruder sind, wollen es nicht wahrhaben ...

Der Offizier erzählt von der Niederlage bei Riga. Die Offensive der deutschen Armee dauere an. Sollte es deshalb so leicht gewesen sein, den Aufstand niederzuwerfen? Sie glauben, dass der Aufstand „von den Bolschewiki ausgegangen“ sei. Ich aber weiß, dass die Partei die ganze Zeit über gebremst, dass Lenin die Ausbrüche der Masse gedämpft hat: „Noch ist die Zeit nicht reif, noch ist es zu früh. Wo sind eure Kader? Wie sieht es mit eurer Vorbereitung aus?“ Und die Delegierten der Truppenteile und Marineeinheiten verließen Wladimir Iljitsch immer ein wenig enttäuscht und betroffen, handelten aber nun schon vorsichtiger und überlegter.

Die Wiborger Seite. Ich werde in das hiesige Frauenzuchthaus gebracht.

„Irgendwie trifft es sich immer so, dass ich nachts ins Gefängnis komme.“

„Wie komisch Sie das gesagt haben! Vor dem Gefängnis muss es einem doch grauen?“

Er ist noch jung, der mich begleitende und bewachende Offizier. Und plötzlich fügt er ganz aufgeregt halblaut hinzu:

„Soll ich Sie entkommen lassen? Ich nehme es auf meine Kappe ...“

Wie jung er doch noch ist!

Das Gefängnis, imposant in seiner Düsterkeit. Es tut sich auf und verschluckt unser Automobil. Während die Papiere in die Gefängniskanzlei gebracht werden, höre ich, wie der Offizier die diensthabende Aufseherin bittet:

„Sie geben ihr doch eine halbwegs ordentliche Zelle ...“

„Wir sind hier kein Hotel“, schneidet ihm die Aufseherin das Wort ab.

Über eine Eisentreppe, durch die sich hindurchsehen lässt, geht es nach oben auf den rechten Gang. Zelle Nr. 58.

Zweimal schnappt das Schloss fest ein. Durch eine Eisentür bin ich von der Bewegung, der Partei abgeschnitten.

Durch das hochgelegene, vergitterte Fenster fällt ein Sonnenstrahl, in dem feine Stäubchen tanzen.

Das Frauengefängnis auf der Wiborger Seite ist frisch renoviert. Die Februarrevolution hat die Gefängnisse gesäubert. Nun weihe ich den Flügel für die politischen Häftlinge im neuen, bürgerlich-republikanischen Russland ein. Ich habe auf der harten Pritsche geschlafen, fest geschlafen, bis heißes Wasser und ein großes Stück schwarzes Brot gebracht wurden. Es ist gestattet, sich selbst Tee zu kaufen.

Der Gefängnistag hat begonnen. Zunächst die Zelle in Ordnung bringen. Nur gut, dass ich mich von Soja Schadurskaja habe überreden lassen, ihren Plaid mitzunehmen, da sieht die Pritsche nicht so gefängnismäßig aus. Eine kleine Konsole für das Waschzeug ist vorhanden, eine Waschgelegenheit auch.

Mein Gehirn arbeitet: Wie stark ist die Reaktion? Was tun die Unsrigen? Gegen Mittag kommt der Gefängnisdirektor, ein wohlbeleibter Mann mit einem kleinen Backenbart; die „neue Macht“ habe ihn hier eingesetzt – so stellt er sich mir vor. Er ist gesprächig, lässt sich aber größtenteils über die „Niederträchtigkeit der Bolschewiki“ aus.

Ich hülle mich in Schweigen.

Wenn man seinen Worten Glauben schenken soll, sind alle „bolschewistischen Anführer“ festgenommen worden. Lenin sei man schon auf der Spur, möglicherweise sei auch er verhaftet. Die anderen hätten sich „schuldig bekannt“ und alles „gestanden“. „Was denn gestanden?“

„Dass die Bolschewiki direkten Kontakt zum deutschen Generalstab haben. Es liegen himmelschreiende Beweise vor. Gegen Sie auch ... Doch das geht mich nichts an.“

Das Mittagessen wird gebracht – Gemüsesalat, mit Öl angerichtet. Für damalige Verhältnisse durchaus essbar.

Ich bitte um eine Zeitung, gegen Bezahlung, aber ich bekomme keine. Am Abend erfahre ich, dass für mich „besonders strenge Bestimmungen“ gelten und es nicht gestattet ist, mir Zeitungen zu geben. Weder Spaziergänge noch Besuch. So haben sie mich also doch von der Bewegung, von der Partei abgeschnitten.

Ein endlos langer, leerer Gefängnistag. Wie viel davon habe ich wohl noch vor mir?

Abends wieder heißes Wasser und eine Scheibe Brot.

Um neun wird das Licht abgeschaltet. Durchs Gefängnisfenster dringt der bläuliche Schein der weißen Nacht. Es ist still, totenstill.

Die eintönig-leeren Tage in Kerenskis Kerker haben begonnen.

Der Gefängnisdirektor ist mitteilsam, ja geschwätzig. Tag für Tag kommt er gegen zwölf Uhr und erkundigt sich: „Keine Beschwerden?“ Dann lässt er sich auf dem Hocker nieder und schwingt große Reden. In den ersten Tagen zetert er vor allem gegen die Bolschewiki. Er bedaure es, dass auch ich ihnen „ins Netz gegangen“ sei, vielleicht wisse ich gar nicht, was das für Verbrecher sind? „Staatsverbrecher“, nicht nur einfach Zuchthäusler. Und was könne es wohl Schlimmeres geben, als sein Vaterland zu verraten?

Vom Gefängnisdirektor erfahre ich, dass alle verhafteten Genossen im „Kresty“-Gefängnis sitzen. Wir seien sozusagen „Nachbarn“. Allerdings genössen sie wesentlich mehr Freiheit: Sie dürften tagsüber miteinander Umgang haben, Spazierengehen. Nur ich würde auf Anordnung „von oben“ besonders streng gehalten. Gegen mich liege das wichtigste Material vor.

„Was denn für Material? Meine Reden, Ansprachen und Artikel?“

„Nein, es gibt da schwerwiegenderes Material, Briefwechsel und Zeugenaussagen.“

Damals habe ich mich darüber gewundert, hatte ich doch noch nicht begriffen, dass dieser Prozess von den Menschewiki und Sozialrevolutionären „inszeniert“ worden war, um die Bolschewiki zu verleumden. Wenn schon Ausdrücke wie „zahnärztliche Behandlung“ als Geheimkode gelten, wie kann man dann daran zweifeln, dass gegen die Bolschewiki gewichtiges „Material“ vorliegt?

Das zweite Lieblingsthema des Gefängnisdirektors ist der Gefängnisbetrieb. Der Mann ist hier wirklich am rechten Ort. Er liebt „sein Gefängnis“. Er geht auf in der Beschaffung von Brennholz für den Winter, von ordentlichen Lebensmitteln und dergleichen mehr. Möglich, dass er auch etwas für sich „abzweigt“. Doch er ist stolz auf seine Leistungen – auf die Sauberkeit im Gefängnis, darauf, dass das Brot im Gefängnis besser ist als in der Stadt, dass die Badestube renoviert worden ist, dass er mit den dem Gefängnis zur Verfügung stehenden Mitteln sparsam umgeht. Wenn er kommt, stellt er zunächst laut und vernehmlich als Amtsperson seine Frage nach etwaigen Beschwerden, kann dann aber nicht an sich halten und fragt:

„Haben Sie gemerkt, was das für eine Weizengrütze war gestern zum Mittagessen? Locker und schmackhaft. Es war eine günstige Gelegenheit. Habe sie hinten rum besorgt. Durchaus preiswert.“

Ein andermal kommt er extra vorbei, um sich zu erkundigen, ob das Brot gut sei.

Ja, wirtschaften kann der Mann!

Darüber jedoch, was sich jenseits der Gefängnismauern abspielt, lässt er sich kein Wort entlocken.

Ich habe um Bücher gebeten und um ein Heft für Notizen. Dazu habe ich einen schriftlichen Antrag gestellt. Die Aufseherinnen sind von kühler Höflichkeit. Doch es ist zu spüren, dass sie den Stab über „die Bolschewikin“ brechen. Sie sind „Patriotinnen“, sind für den Krieg bis zum Sieg. Sie haben hier bereits unter dem alten Regime gedient. Mit der „Zertrümmerung“ des Gefängnisses in der Februarrevolution sind sie sehr unzufrieden gewesen.

„Aber ich bitte Sie, die haben die neuen Unterlagen für die Pritschen verbrannt, Zuchthäusler und Rowdys freigelassen.“

Zwei oder drei Tage habe ich auf die Bücher warten müssen. Offenbar war auch dafür eine besondere Erlaubnis erforderlich. Ich bekam Die Fregatte Pallas [4] und einen Hamsun. Das erste Paket – etwas zu essen und ein Kopfkissen. Ich habe der Aufseherin etwas abgegeben, sie sieht nach Hunger aus. Sie wurde ein wenig umgänglicher, sagte, sie dürfe nichts annehmen. Aber Zucker und ein Kuchenbrötchen steckte sie sich doch ein.

„Das nehme ich meinen Katzen mit. Ich habe ja sonst niemanden. Weder Familie noch Bekannte. Nur meine Katzen eben. Fünf sind es. Und jetzt hat Tschornjatscha Junge. Sie selbst ist schwarz wie Ruß, aber die vier Jungen sind durch die Bank rauchfarben. Wie das kommt, kann ich nicht begreifen. Wo doch meine beiden Kater gescheckt sind.“

Da habe ich ihr noch eine Büchse kondensierte Milch gegeben. Seit diesem Tag ist das Eis gebrochen, und nun weiß ich immer, was es im Katzenreich Neues gibt.

Die Tage sind leer, einer wie der andere. Nicht das Geringste erfahre ich von dem, was sich außerhalb der Zelle 58 tut.

Warum gestattet man mir keine Spaziergänge?

Weshalb schweigen die Sowjets? Na schön, mag Tschcheïdse im Sowjet auf die Unterdrückung der Bolschewiki hinwirken, doch wo sind jene Tausende, ja Zehntausende „Sympathisanten“ geblieben, die uns auf den Kundgebungen applaudierten und Resolutionen für die Macht der Sowjets annahmen? Die Zeit ist noch nicht reif? Es ist noch zu früh? Wir müssen noch warten? Es lässt sich warten, wenn man aktiv ist, arbeiten kann. Doch nicht hier, von allem abgeschnitten, untätig.

Besonders trostlos ist es in der Zelle an den Abenden, nach sechs. Um sechs bekomme ich zum letzten Mal heißes Wasser. Dann wird der Schlüssel zweimal herumgedreht, und man weiß, dass nun nichts mehr zu erwarten ist, dass an diesem Tag nichts Neues mehr herein dringt. Vor einem liegt nur noch die Nacht. Eine totenstille Nacht, die von den fernen klirrenden Geräuschen der Gefängnisleere unterbrochen wird.

Am Morgen wird plötzlich meine Tür aufgeschlossen. Ich brenne vor Neugier. In der Tür erscheinen zwei mir unbekannte Gestalten – ein stattlicher, gesetzter Mann, der andere etwas kleiner, mit umherschweifenden Augen, die es gewohnt sind, alles zu bemerken. Hinter ihnen der Gefängnisdirektor.

„Bürgerin Kollontai, der Bürger Staatsanwalt möchte von Ihnen wissen, ob Sie irgend etwas zu bemängeln haben.“

Doch ich sehe, dass den Staatsanwalt auch ein wenig Neugierde hierher geführt hat – er betrachtet mich und die Zelle ziemlich ungeniert.

„Gar nicht so übel hier bei Ihnen. Die Zelle ist hell und sauber. Was wollen Sie mehr?“

„Und wie steht es mit dem Essen?“ schaltet sich der Gefängnisdirektor ein. „Klagen haben Sie da wohl nicht vorzubringen?“

Ich erkundige mich nach Spaziergängen, nach Besuchen, danach, was ich eigentlich wissen will – aus welchem Grund ich verhaftet worden bin.

Der Staatsanwalt macht ein strenges, trauriges Gesicht.

„Der Fall der Bolschewiki ist zu ernst. Um sich Klarheit zu verschaffen, reicht eine Woche nicht aus. Da gibt es zu viele höchst wichtige Fäden. Um die Fakten richtig und objektiv zu beurteilen und das Material auszuwerten, sind Monate vonnöten. Aber Sie befinden sich ja nicht allein in dieser Lage. Gegen alle Ihre prominentesten Genossen sind Zwangsmaßnahmen eingeleitet worden. Und ihre Zahl hat dieser Tage erneut zugenommen.“

Wer ist noch festgenommen worden? Natürlich wird mir das nicht gesagt. Dafür gibt man mir unmissverständlich zu verstehen, dass alle übrigen in den „Kresty“ weitaus mehr Freiheit haben. Für mich dagegen gelten besondere Haftbedingungen. Dafür liege „Material“ vor, das ich, so der Staatsanwalt, „selbst besser kennen muss als irgendein anderer“. Er betont, dass die Anklage gegen uns auf einem überaus schwerwiegenden Paragraphen beruhe. Bestenfalls erwarte uns Zwangsarbeit. Von Besuchen könne gar keine Rede sein. Spaziergänge? Er wolle sehen, was sich da machen lasse.

„Wissen Sie, dass Sie im Prozess gegen die Bolschewiki die einzige Frau sind? Kennen Sie Lenin gut? Sind sie persönliche Freunde?“

„Ja, Genossen sind wir.“

„Ach stimmt, bei Ihnen ist es ja üblich, das als Genossen zu bezeichnen. Habe die Ehre!“

Wir verabschieden uns auf Distanz. Der Staatsanwalt ist gegangen, hat etwas wie moralische Widerwärtigkeit zurückgelassen. Lange kann ich ein Gefühl des Ekels nicht loswerden, gehe ziellos in der Zelle auf und ab, genauer gesagt, laufe im Kreis. Es gelingt mir nicht, die Gedanken abzuschütteln, ich bringe es nicht einmal fertig, ein Buch in die Hand zu nehmen.

Was tut sich nur da draußen, jenseits der Gefängnismauern? Ist die Provisorische Regierung tatsächlich so erstarkt, dass sie es sich ungestraft erlauben kann, die Gegner ihrer Politik ins Gefängnis zu werfen? Und das Zentralkomitee der Baltischen Flotte? Der Metallarbeiterverband? Die Arbeiter auf der Wiborger Seite? Die Partei ist doch nicht völlig zerschlagen? Sie hat schließlich schon schlimmere Zeiten durchgemacht. Soll denn diese Untätigkeit, diese Isolation wirklich noch Monate oder gar Jahre währen?

Abends kommt, abermals unerwartet, der Gefängnisdirektor.

„Der Besuch des Staatsanwalts hat mich sehr betrübt. Sie sehen, ich kann nichts tun. Vorerst hat er nicht einmal Spaziergänge erlaubt. Ihr Fall ist, wie sich herausgestellt hat, sehr, sehr ernst. Alles hat dieser Lenin angerichtet. Was ist das für einer? Ein Kaufmann? Und warum verbirgt er sich?“

Er verbirgt sich? Wunderbar! Also ist Wladimir Iljitsch nicht verhaftet. Und wieder ist mir beinahe fröhlich zumute.

Vom Gefängnisdirektor erfahre ich, dass die Bolschewiki in den „Kresty“ so etwas wie eine „Revolte“ angezettelt haben.

Wenn mich schon Nachrichten erreichen, so sind sie recht unerfreulich.

Eines Morgens bringt mir eine der Aufseherinnen die Iswestija. [5] Offensichtlich geschieht das „auf Anweisung“, da der Ton der Iswestija und alle Meldungen besagen, dass die Bolschewiki und der Bolschewismus restlos zerschlagen sind. Die deutsche Armee greift unterdessen weiter an. Wird dieser Umstand die sozialen Schichten zusammenschweißen und die Koalitionsregierung vorübergehend festigen? Oder wird das Gegenteil eintreten – werden alle die Leiden und Entbehrungen des Volkes, die zunehmende Lebensmittelknappheit und die Erbitterung angesichts der Ohnmacht der Regierung die Offensive zum Stehen bringen und die Werktätigen zur „Selbstverteidigung“, das heißt zum Kampf für die Macht der Sowjets, veranlassen?

Wieder ein langer Tag, der nur mit Gedanken angefüllt ist.

Am Abend bringt mir eine junge Aufseherin, die erst unter dem neuen Regime eingestellt worden ist, das heiße Wasser. Sie hat verweinte Augen. „Was ist mit Ihnen? Was haben Sie denn für Kummer?“

Ich frage sie ein bisschen und erfahre natürlich, dass „er“ an allem schuld ist. Er will sie nicht heiraten. Sie sei sich nicht klar, ob er sie wirklich liebt oder nur „sein Vergnügen“ haben will. Dabei habe er ihr ganzes Herz.

Sie kam ins Reden und hatte ganz vergessen, dass sie sich in einer Zelle befindet und es „gegen die Vorschriften“ ist, sich mit den Häftlingen zu unterhalten. Doch sie wollte „zu gern mal ihr Herz ausschütten“. Ich bin eine gute Zuhörerin und verstehe es, sie auf Gedanken zu bringen und ihr die Dinge zu „erklären“.

„Woher wissen Sie das?“ fragt sie, verwundert über meine Erklärungen.

Plötzlich aber besinnt sie sich – mit wem hat sie da so offenherzig gesprochen? Doch mit einer Bolschewikin!

„Na, wenn alle Bolschewiki so denken, dann sind sie doch gute Menschen, und was so über sie geredet wird, ist alles leeres Geschwätz.“

Beim Weggehen sagt sie wie beiläufig: „Sobald die Oberaufseherin zum Dienst in die Kanzlei geht, komme ich zu Ihnen. Dann kennen wir noch ein bisschen reden.“

Noch öfter kommt diese nette Aufseherin zu mir, wenn im Gefängnis die Stille der Nacht eingezogen ist. Sie stammt aus einer Arbeiterfamilie. Wir finden bald eine gemeinsame Sprache, es fällt nicht schwer, ihr zu erklären, wozu Macht der Sowjets und was die Bolschewiki wollen. Diese Frau versteht mich und freut sich selbst darüber. Es stellt sich heraus, dass „er“ ebenfalls auf Seiten der Bolschewiki ist. Nun werden sich auch ihre Familienangelegenheiten eher einrenken.

Elf Uhr – eine ungewöhnliche Zeit, doch der Schlüssel wird im Schloss gedreht, es wird aufgeschlossen. Wer ist da? Was gibt es? Es ist die Aufseherin. „Bitte zum Untersuchungsrichter.“

Instinktiv bringe ich Bluse und Haar in Ordnung. Das erste Verhör nach dem in der Spionageabwehr. Die Sache macht also doch „Fortschritte“.

Am Tage kommt einem die eiserne Treppe länger und noch durchsichtiger vor. Die Eisentüren der Zellen erinnern an Safes. Nur befindet sich hinter diesen eisernen Riegeln etwas Wertvolleres als Bankanweisungen, Edelsteine oder Gold, nämlich Menschenleben. Ein Quell lebendiger Energie. Was kann es wohl Wertvolleres geben auf der Welt als den lebendigen Menschen?

„Sind jetzt viele Häftlinge hier?“ frage ich die Aufseherin.

„In diesem Block sind Sie die einzige. Heute Nacht soll aber, wie ich gehört habe, eine Ausländerin hierher gebracht werden. Auch eine Spionin.“

Also bin ich für sie „auch eine Spionin“? Der Untersuchungsrichter sitzt an einem Tisch. Er ist mager, farblos, unscheinbar. Papiere liegen ausgebreitet. „Setzen Sie sich.“

Die Vernehmung ist recht verworren. Offenbar liegt kein handfestes Material vor. Wieder werde ich nach dem Fähnrich Semaschko und nach dem Maschinengewehrregiment sowie nach dem Briefwechsel mit Soja Schadurskaja gefragt. Auch von Telegrammen zwischen Hanecki und mir und von meinem Telegramm an Lenin wegen seiner Ankunft [6] ist die Rede. Der Untersuchungsrichter beruft sich auf die Aussagen eines gewissen Jermolajew oder Jermolenko, angeblich kompromittierende Aussagen. Diese Person kenne ich nicht. Auch das wird gleich zu Protokoll genommen.

Der Untersuchungsrichter versucht, mich durch Fragen „aus der Fassung zu bringen“:

„Haben Sie nicht in der bolschewistischen Militärorganisation im Krzesinska-Palais gesprochen?“

„Sicher habe ich gesprochen, schließlich war ich vom Militärklub in den Sowjet delegiert worden und vertrat ihn auch als Mitglied des Exekutivkomitees des Sowjets.“

Die Fragen sind alle in dieser Art. Ein fades Verhör. Doch danach habe ich den Eindruck, dass „die dort oben“ gar nicht soviel Material haben, selbst wenn dieses Material größtenteils erfunden ist.

Am nächsten Tag erhalte ich die Erlaubnis zu Spaziergängen. Besuche sind indessen noch nicht gestattet. Weder Post noch Zeitungen. Der Gefängnisdirektor teilt mir mit, dass Soja Schadurskaja täglich im Gefängnis vorspreche und sich große Sorgen um meine Gesundheit mache. Sie versuche, zu erreichen, dass mich ein Arzt untersucht. Man hatte ihr gesagt, dass ich nachts einen Herzanfall gehabt habe.

Eine ärztliche Untersuchung? Das wäre nicht dumm. Vielleicht gelingt es mir, die Aufhebung der Zwangsmaßnahmen zu erreichen?

Zum ersten Spaziergang zu gehen macht ungeheuren Spaß. Ich scherze mit den Wärterinnen, denen ich begegne, und auf der Gefängnistreppe erklingt Gelächter. Es hallt von den Gefängnismauern wider, laut und ungewohnt.

Der Gefängnishof ist geräumig. Auf der einen Seite befindet sich unser Block, der für die politischen Häftlinge, auf der anderen Seite das Zuchthaus. An den Fenstern drängen sich die Frauen, zwischen ihnen und dem Männerblock fliegen Worte hin und her. Über ihnen schwirren als dichte Wolken Tauben umher – sie warten auf Brotkrumen.

Der Weg durch den Hof führt im Kreis herum. In der Mitte ist ein Beet, von Gras überwuchert, doch in das Gras haben sich ein paar Margeriten verirrt. Schon daran erfreut sich das Auge. Am Ende des Hofes steht eine hohe Ziegelmauer, mit Klettensträuchern und einem verkümmerten Fliederbusch davor. Gierig nehme ich diesen grünen Fleck in mich auf. Das Wichtigste aber ist der Himmel. Keine Decke über mir, keine unpersönlich grauen Zellenwände mehr, sondern Himmel. Ein Himmel mit dahinziehenden Wolken, mit der heißen Julisonne.

An der Tür steht ein Posten, an der Mauer ebenfalls. Ich gehe im Kreis mit der Aufseherin. Eine halbe Stunde, dann ist Schluss.

Die eiserne Treppe in die Zelle hinaufzusteigen macht viel weniger Freude, als sie zum Spazierengehen hinunterzulaufen.

Zum Spaziergang werde ich von der älteren Aufseherin abgeholt. Sie sieht stets niedergeschlagen und bekümmert aus, heute ganz besonders. Dabei ist ein wundervoller Tag, ein richtiger Sommertag. Solche heißen, sonnenüberfluteten Tage gibt es häufig, wenn der Sommer auf den Herbst zugeht. Wir gehen über den Hof. Eine Runde, eine zweite, eine dritte. Es fällt kein Wort. Ich bemerke, dass die Aufseherin zurückbleibt, zu Boden blickt und ihr die Tränen kommen. Da bleibe ich stehen.

„Was haben Sie denn, Maria Dmitrijewna? Irgendwelchen Kummer?“

Als Antwort lässt sie ihren Tränen nun freien Lauf. Ihr Sohn, der einzige, geliebte, ihre Stütze und ihr Trost, ist eingezogen worden.

„Er ist doch noch ein richtiges Kind (die übliche Ansicht der Mütter!), so zärtlich und herzensgut. Keinem Hund kann er etwas zuleide tun, und nun Menschen töten!“

„Und wieso sind Sie dann für den Krieg? Meinen Sie, Sie denken allein so? Und die anderen Mütter?“

Vom Mutterleid – zum Bolschewismus, zur Macht der Sowjets ... Beinahe hätten wir das Ende der halben Stunde Spaziergang verpasst!

Vor der Zelle gelangen wir beide zu dem Schluss, dass „das Volk den Krieg nicht braucht, dass er den Menschen nur Unglück und Leid bringt“. Und dennoch dreht Maria Dmitrijewna den Schlüssel zweimal im Zellenschloss herum, und ich bin weiterhin Gefangene der „Vaterlandsverteidiger“.

Die Tatsache aber, dass selbst eine Gefängnisaufseherin, eine „Patriotin“, eine, die schon unter dem alten Regime gedient hat, so über den Krieg sprechen kann, macht mir deutlich, wie es um die Gefühle und Wünsche des Volkes steht. Und da die Wünsche und Gefühle vieler Millionen in eine Richtung gehen, wird dieser Wille nicht ohne Wirkung bleiben. Der Wille der Werktätigen!

Da kommt plötzlich ein Verdacht in mir auf: Am Ende ist das ganze Gespräch Maria Dmitrijewnas eine Provokation? Doch nein, so lautlos, so still weint kein Provokateur vor sich hin. Und schließlich, was habe ich schon zu ihr gesagt, was ich nicht bereits Hunderte von Malen auf Plätzen und bei großen Kundgebungen gesagt hätte?

Ein Tag, noch einer, ein dritter – und immer noch kein Paket. Das beunruhigt mich langsam. Hat es weitere Verhaftungen gegeben? Schrecklich ist das Bewusstsein, dass jegliche Verbindung zur Außenwelt abbrechen könnte.

Ich höre Geräusche, Gemurmel vor der Tür, glaube, die Stimme Schadurskajas zu vernehmen. Also gehen die Verhaftungen doch weiter?

„Wir müssen warten können. Noch ist die Zeit nicht reif ... Noch haben wir nicht genügend Kräfte gesammelt.“ Mir fällt die Redaktion der Prawda an der Moika ein. Ein winziges, dunkles Zimmer, in dem immerzu elektrisches Licht brannte, selbst tagsüber. Das war Wladimir Iljitschs „Arbeitszimmer“ bis zum Juli gewesen.

Ich war gekommen, um mir die Direktiven geben zu lassen, bevor ich nach Stockholm zur Konferenz der Zimmerwalder fuhr. Wladimir Iljitsch schlug mir vor, in Helsingfors Station zu machen und die Schiffe zu besuchen. Gerade vor mir war eine Delegation des Zentralkomitees der Baltischen Flotte bei ihm gewesen, und er hieß ihre ungestümen Pläne, sich auf einen offenen Kampf mit den „Vaterlandsverteidigern“ einzulassen, nicht gut. „Wir müssen warten können ...“

Auch hier, hinter den Gefängnismauern, heißt es „warten können“.

Ein Paket. Am Inhalt erkenne ich, dass es von Soja Schadurskaja ist. Sie ist demnach noch in Freiheit. Ich kann aufatmen.

Das zweite Verhör. Diesmal vernimmt mich Untersuchungsrichter Alexandrow „persönlich“. Er ist klein und hat schmale, lebhafte Augen, die es gewohnt sind, die Menschen unabhängig von deren Worten zu „sehen“. Man merkt gleich, dass man es mit einem bewussten Feind zu tun hat, doch dafür ist er wenigstens gescheit.

Bei der Vernehmung geht es wieder um die gleichen Dinge – meine Reden vor Truppenteilen mit Aufrufen gegen den Krieg und für die „Verbrüderung“, meinen Artikel in der Prawda, in dem ich die deutschen Kriegsgefangenen in Schutz nehme [7], die Telegramme zwischen Hanecki und mir (es hat auch Telegramme von ihm gegeben, die an Genossen Lenin weitergeleitet werden sollten), den Briefwechsel mit Soja Schadurskaja usw. Alexandrow gibt mir zu verstehen, dass unser Prozess unter den Paragraphen über Hochverrat fällt.

Das Verhör dauert zwei Stunden. Ich lese das Protokoll aufmerksam durch und gebe an, was „berichtigt“ werden soll. Als ich dann gehen kann, bin ich mit den Nerven fertig, wie immer nach Verhören.

In der Zelle fällt mir plötzlich ein, dass in meinem Zimmer in der Peski bei der fremden Wirtin nicht nur meine Sachen zurückgeblieben sind, sondern auch ein Büchlein mit Adressen; neben den Adressen von Unschlicht und Hanecki stehen darin auch die Anschriften anderer Genossen der Partei aus Petrograd. Wenn man dieses Büchlein mitgenommen hat, habe ich den Genossen aber einen schlimmen Streich gespielt. Wieso habe ich nur nicht eher daran gedacht und Soja Schadurskaja auf dem Wege hierher angedeutet, dass sie vor allem mein Zimmer „saubermachen“ soll? Aber vielleicht ist auch noch keine Haussuchung gewesen? Vielleicht hat es der Zufall gewollt, dass sie gar nicht wussten, wo ich vor meiner Abreise nach Schweden gewohnt habe? Wie könnte ich nur das Adressbüchlein in Sicherheit bringen? Den ganzen Abend über denke ich weder an den Prozess noch an das Verhör, sondern mache mir Gedanken über das Adressbuch. Und nachts kann ich nicht schlafen: Hat eine Durchsuchung stattgefunden – oder nicht?

Am nächsten Morgen bringt mir Maria Dmitrijewna das heiße Wasser. Sie ist heute ein wenig froher gestimmt – die erste Nachricht des Sohnes ist von der Front gekommen. Da plötzlich entschließe ich mich.

„Maria Dmitrijewna, ich habe ein kleines Anliegen an Sie. Richten Sie doch bitte meiner Freundin Schadurskaja aus, sie möge zu meiner früheren Zimmerwirtin gehen und aus dem rechten Schreibtischfach meinen ganzen Krimskrams herausnehmen. Vor allem brauche ich ein Rezept, das in einem blauen Notizbuch liegt. Die Schadurskaja soll alles mitnehmen – das Notizbuch, die Stecknadeln, den Puder und so etwas. Auf das Rezept soll sie mir Brom bestellen. Könnten Sie das für mich tun?“

„Aber weswegen denn? Auf Rezept bekommt man das auch in unserer Gefängnisapotheke.“

Wird sie’s tun oder nicht? Wird Schadurskaja begreifen? Werde ich erfahren, ob eine Haussuchung stattgefunden hat? Mir scheint, am allerschlimmsten, weitaus schwerwiegender als der ganze Prozess gegen die Bolschewiki, ist die Tatsache, dass durch meine Nachlässigkeit die Genossen vielleicht in Gefahr geraten sind.

Im Gefängnis nehmen bestimmte Dinge oft derart verzerrte Dimensionen an: Wichtiges wird durch Zweitrangiges verdrängt, und Zweitrangiges erscheint als das Wichtigste.

Das Wetter hat sich mit einem Schlag verändert. Es fällt herbstlicher Nieselregen, und in der Zelle ist es kalt und feucht. Ich wickele mich in meinen Regenmantel. Auch meine Stimmung ist gedrückt und düster. Schuld daran ist jenes Adressbuch!

Im Block der Kriminellen gibt es einen Fall von „Pockenverdacht“. Es wurde angeordnet, alle Gefängnisinsassen gegen Pocken zu impfen.

Ich werde in das Gebäude der Kriminellen gebracht. Im Gang mit den vergitterten Fenstern und dem schweren Modergeruch steht eine Gruppe Frauen, Kriminelle. Die Gruppe macht ziemlichen Lärm, sie ist bunt zusammengewürfelt, was Alter, Kleidung und Gesichtsausdruck der Frauen betrifft. Zwei oder drei sind fast noch Halbwüchsige. Den größten Radau macht eine üppige Frau mit schönem, frischem Gesicht und gepflegten Händen, in einem sauberen Kleid. „Die Anführerin einer Diebesbande“, erklärt mir die Aufseherin. Ein mageres Mädchen mit flacher Brust ist, wie sich herausstellt, eine Kindesmörderin. Wie alt mag sie wohl sein? „Vierzehn!“

Eine Alte in schwarzem Seidenkleid, die „Baronesse“, ist Diebin.

Ich werde neugierig gemustert. Jemand lässt die Bemerkung fallen:

„Da ist ja diese Bolschewikin, diese deutsche Spionin, die Kollontaische!“

Rufe ertönen, Schimpfworte. Die Aufseherin schubst mich hastig in die Ambulanz. Dort ist es hell und sauber, doch die Luft ist auch hier unerträglich stickig. An einem Glasschrank steht eine hochgewachsene Frau in weißem Kittel. Ihr schönes, aber gleichgültig-kaltes Gesicht scheint zu sagen: Ich kenne und tue meinen medizinischen Dienst, alles andere geht mich nichts an. Sie ist wortkarg. „Ziehen Sie die Bluse aus!“ „Setzen Sie sich!“ „Den rechten Arm!“ Doch sie arbeitet einwandfrei und sicher. Ich habe die Bluse wieder an, mag aber eigentlich nicht aus der Ambulanz weg. Der Raum ist so schön groß, so hell und sauber. Da möchte man nicht in Zelle 58 zurück!

Die Aufseherin Maria Dmitrijewna hat Blumen gebracht. Sie sagt, es seien noch mehr gewesen, doch der Gefängnisdirektor finde, es sei „unpassend“, soviel Blumen in eine Zelle bringen zu lassen.

Von wem die Blumen wohl sind? Gesagt worden ist nichts, das heißt, das Kärtchen dazu wurde mir nicht ausgehändigt. Ob diese „Isolierung“ noch lange gehen wird? Warum werden denn in den „Kresty“ Kontakte und Besuche gestattet?

Maria Dmitrijewna sagt, sie habe der Schadurskaja meine Bitte mit dem Rezept ausgerichtet und diese habe versprochen, daraufhin die Arznei zu bestellen. Ob Soja Schadurskaja begriffen hat, dass es mir gar nicht um das Rezept zu tun ist?

Der Gefängnisdirektor hat mir mitgeteilt, in der Stadt herrsche allem Anschein nach große Erregung gegen die Bolschewiki. Man sehe in ihnen die Hauptschuldigen an der Niederlage der Armee an den Fronten. Es sei von möglichen „Pogromen“ die Rede.

Und wieder kreisen meine Gedanken um das Adressbuch. Es würde den Pogromstiftern die Arbeit nur erleichtern!

Die Hofgänge haben ihren Reiz verloren. Auf dem Hof wird Brennholz für den Winter zurechtgemacht, und für die Spaziergänge steht nur ein Winkel direkt unter den Fenstern der Kriminellen zur Verfügung. Den Fenstern entströmt stets schwerer, muffiger Geruch, Gezänk ist zu hören. Durch das weit geöffnete Nebentor kommen Fuhrwerke mit Brennholz in den Hof gefahren. Der Gefängnisdirektor ist da und gibt seine Anweisungen.

So hat man uns auch um diese halbe Stunde Stille gebracht. Dabei war die Stille so lebendig, dahinter ließ sich das Leben vernehmen. Die Spaziergänge machen keinen Spaß mehr. Ich verzichte darauf, schütze Unpässlichkeit vor.

Ich habe eine Nachbarin. Eine Amerikanerin, Tänzerin. Sie wird der Spionage verdächtigt. Eine laute, anspruchsvolle Person. Mit Hilfe eines Dolmetschers „kämpft“ sie gegen die Gefängnisleitung, verlangt, von der „Gefängnisinspektion“ aufgesucht zu werden.

„Sie ist mit dem Essen sehr unzufrieden“, erzählt mir die Aufseherin. „Und dann verlangt sie noch, dass sie jeden Tag in einen großen Raum gebracht wird, wo sie ihre Beine trainieren kann, sonst würden sie steif werden und sie könnte dann später nicht mehr tanzen. Und wann immer man in ihre Zelle kommt, stets steht sie entweder auf einem Bein, oder sie schlägt Purzelbäume.“

Die Aufseherinnen sind nicht gut auf sie zu sprechen, wenngleich sie vor ihr wegen ihrer seidenen Unterwäsche Ehrfurcht haben.

Eines Nachts werde ich von ungewöhnlichem Lärm wach. Eine hysterische Frauenstimme schreit: „Hilfe! Man bringt mich um! Man will mich töten!“ Dann Schritte, Männerstimmen. Lärm und wiederum das herzzerreißende, hysterische Geschrei jener Frau.

Instinktiv gehe ich zur Tür. Doch die ist zu, doppelt verschlossen. Die Schreie werden immer lauter, immer hysterischer.

Dann ist es mit einem Schlag still. Von der Treppe her dröhnende Schritte, Männerstimmen. Durch die Zellentüren, inzwischen gedämpft, ist wieder die hohe, sich überschlagende Frauenstimme zu hören: „Hilfe! Sie bringen mich um!“

In solcher Nacht ist es schlimm im Gefängnis.

Am nächsten Morgen erklärt mir die Aufseherin – jene, welche die fünf Katzen hat –, dass der Block für die Kriminellen überfüllt sei und man deshalb nachts die in „Spelunken“ gefassten Straßendirnen hierher gebracht habe. Eine von ihnen, nach Meinung der Aufseherin eine „ganz hysterische“, sträubte sich, wollte um nichts in der Welt in die Zelle gehen. So musste man Aufseher aus der Männerabteilung herbeirufen. Sie habe um sich geschlagen, gebissen. Man habe ihr die Hände gebunden und sie in die Zelle geworfen.

Seitdem ist es in unserem Gebäude unruhig. Tag und Nacht gibt es „Skandale“. Und die Tage kriechen nur ganz langsam dahin.

Der Gefängnisdirektor hat mir „im Vertrauen“ mitgeteilt, dass sich meine Freunde mit Nachdruck um eine andere Vorbeugungsmaßnahme in Bezug auf meine Person bemühen, beispielsweise Kaution, dass jedoch wenig Hoffnung besteht.

„Die anderen werden möglicherweise freigelassen. Aber Sie nicht. Das weiß ich aus zuverlässiger Quelle. Na ja, und schlecht geht es Ihnen doch eigentlich nicht bei uns! Die Verpflegung ist bestens, da draußen haben die Leute schlechteres Essen, und behandelt werden Sie auch sehr korrekt, das müssen Sie zugeben. Was wollen Sie mehr?“

Die Mitteilung des Gefängnisdirektors bewirkt, dass ich mich tatkräftiger um meine Freilassung gegen Kaution kümmere. Ich stelle einen entsprechenden Antrag, in dem ich meine Herzanfälle anführe und um ärztliche Untersuchung bitte. Seltsam, wenn ich mir überlege, dass Justizminister Sarudny, ein linksstehender Liberaler, eine „höchst humane Persönlichkeit“, wie man von ihm zu sagen pflegte, selbst einem Wiedersehen mit meinem Sohn Hindernisse in den Weg legt! Doch Kampf ist Kampf. Schließlich hat die Revolution ihr letztes Wort noch nicht gesprochen. Die sozialen Gruppierungen „betasten“ vorläufig einander nur. Wer ist stärker? Die bürgerlichen Liberalen zusammen mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären oder das gesamte werktätige Volk und mit ihm seine besten Sachwalter, die Bolschewiki?

Der Gefängnisinspektor Issajew ist mich besuchen gekommen. Er ist ein ehemaliger Fabrikinspektor, gehört zu den linken Kadetten. Wir sind uns in den zurückliegenden Jahren wiederholt begegnet, schon 1904, auf politischen Banketten während des „politischen Frühlings“ zur Zeit von Swjatopolk-Mirski, im Literaturklub und bei Vorträgen.

Issajew ist es sichtlich peinlich, dass ich nun mit einem Mal „Häftling“ bin. Und dass mich seine Freunde eingesperrt haben, dass mir die Menschewiki und Sozialrevolutionäre verschärfte Haftbedingungen auferlegt haben, dass ich nicht einmal Besuch empfangen darf. Er sucht nach einer „Rechtfertigung“ und kritisiert die „Machthaber“. Er versichert, dass mein „alter Bekannter“, Justizminister Sarudny, sehr geneigt sei, die Zwangsmaßnahmen durch eine Kaution zu ersetzen, dass darüber bereits Verhandlungen stattgefunden hätten, dass es jedoch „Personen“ (Kerenski) gebe, die entschieden gegen eine solche Äußerung der Schwäche seien. Das Haupthindernis sei, dass sie befürchteten, ich könnte wiederum „Reden halten“.

„Ihre Reden haben ohnehin viele Leute ‚verdorben’. Das ist nicht meine eigene Meinung, das sagen die anderen. Überhaupt ist das alles sehr merkwürdig und absurd, schließlich sind Sie doch alle Sozialisten, Sie ebenso wie Kerenski, Awksentjew oder Zeretelli. Wirklich komisch!“

Als Kadett, als Liberaler vermag er die ganze Heftigkeit des beginnenden Kampfes der sozialen Klassen, die sich anbahnenden Wege der Revolution nicht zu begreifen. Dennoch ist er voller „guter Absichten“ und verspricht, „alles in seinen Kräften Stehende“ zu tun, sowohl in Bezug auf eine Ärztekommission zur Untersuchung als auch für eine Besuchserlaubnis.

Kaum ist er weg, stehen die zwei Aufseherinnen in der Tür. Beide sind sie mit Paketen beladen. „Na, und Pakete bekommen Sie heute auch! Der reinste Großhandel! Weiße Brötchen, Wurst, Konserven, Butter, Eier, Honig ...“

Und ein Zettel ist dabei: „Die Matrosen der Baltischen Flotte grüßen Genossin Kollontai.“ Das ist ja ein herrliches Geschenk! Also ist das Zentralkomitee der Baltischen Flotte nicht zerschlagen? Und die Moral der Matrosen nicht gebrochen? Haben die „Vaterlandsverteidiger“ nicht gesiegt? Alles andere ergibt sich von selbst!

Aus lauter Freude hätte ich in der Zelle umher springen können – ganz wie meine amerikanische Nachbarin.

Von nun an bekomme ich Pakete – bald von Arbeitern eines Betriebes, bald von einem Stadtbezirk, von den Straßenbahnerinnen des städtischen Depots und von den Textilarbeiterinnen. Vielleicht wurden auch schon früher Pakete für mich abgegeben, nur kamen sie nicht bis zu mir. Issajew hat „Ordnung geschafft“.

Die Pakete haben meine Stimmung gleich gehoben. Wie könnte es auch anders sein! Schließlich ist es das beste Zeichen dafür, dass der „Geist des Bolschewismus“ lebt! In Stadtbezirken, in Fabriken, in der Flotte. Die „Vaterlandsverteidiger“ haben ihn nicht ersticken können. Vergebens meint die Oberaufseherin jetzt wie zufällig:

„Es gibt keine Bolschewiki mehr! Sie werden sowohl von den Arbeitern als auch von den Soldaten und Matrosen wie tollwütige Hunde gemieden.“

Rede du nur, rede nur! Und – die Pakete? Ich muss schadenfroh lächeln. Nein, nun glaube ich es nicht mehr! Inzwischen ist alles klar! Im Volke breitet sich ein gesunder Protest gegen die unheilvolle Politik der „Vaterlandsverteidiger“ aus. Sobald einem klar ist, dass dort, jenseits der Kerkermauern, gekämpft wird, fällt es einem auch nicht mehr so schwer, hier zu sitzen ...

Es ist Abend. Die Sonne geht unter. Der Himmel ist rosarot. Ich bin auf den Tisch geklettert, möchte zu gern sehen, was da draußen ist. Doch nur Häuserdächer sind zu sehen und ein Stück vom fünften Stockwerk eines gelben Gebäudes. Ich lausche: Die Stadt summt, sie lebt. Wir sind zu tödlichem Nichtstun verurteilt. Die Stadt dagegen lebt ihr gewohntes Leben, ob da nun einer mehr oder weniger da ist. So ist es auch in der revolutionären Bewegung – Hunderte werden weggeholt, doch Millionen bleiben. Es tut gut zu wissen, dass der Kampf weitergeht.

Ich bekomme Besuch. In der Kanzlei des Gefängnisdirektors, im Beisein eines Beamten des Justizministeriums und mit Erlaubnis von Minister Sarudny höchstpersönlich. Da hat offenbar der Kadett Issajew gewirkt. Es ist schon merkwürdig: Kadetten setzen sich bei den Menschewiki und Sozialrevolutionären für uns ein.

Der Besuch ist nur kurz, gerade eine Viertelstunde. Dennoch gelingt es mir, manches zu erfahren. Krassin und Gorki wollen die Bürgschaft für mich übernehmen. Die Minuten sind so kurz, dass ich, anstatt Fragen zu stellen, stumm dasitze und auf die Uhr schaue. Nicht einmal den hundertsten Teil dessen, was ich mir vorgenommen hatte, habe ich gefragt! Als ich schon an der Türschwelle bin, fällt mir das Rezept ein!

„Das Rezept habe ich gefunden unter all den übrigen Notizen (das wird hervorgehoben); morgen bekomme ich die Arznei.“

Mir fällt ein Stein vom Herzen!

Am nächsten Tag erscheint eine Ärztekommission, geleitet von Dr. A. Ebenfalls ein alter Bekannter. Doch Neuigkeiten kann ich von den Doktoren nicht erfahren. Im Übrigen ist die Aufseherin zugegen.

Ich habe Herzerweiterung, erhöhten Blutdruck, geschwollene Beine und ein aufgedunsenes Gesicht ... All das wird in einem Notizbuch vermerkt.

Die einzige Neuigkeit: In Moskau findet eine Konferenz mit Industriellen statt, mit Bublikow und anderen „lebendigen Kräften des Landes“. In diese Konferenz werden „große Hoffnungen“ gesetzt. Von wem?

Die Ärztekommission ist wieder gegangen. Mit einem Mal erfasst mich unerklärliche Traurigkeit. Als ob ich von ihnen etwas anderes erwartet hätte. Die Nachricht von der Konferenz der „lebendigen Kräfte des Landes“ hat mich doch nicht etwa aus der Fassung gebracht? Auf jeden Fall fühle ich mich hoffnungslos bedrückt.

Nachts ein neuer Transport von Kriminellen. Und wenn es nun auf einmal welche von uns sind? Vielleicht gibt es eine neue Verhaftungswelle?

Bodenlos ist es hier, einsam und leer.

Glückspilze sind das in den „Kresty“! Immerhin sind sie alle zusammen.

Ich dachte mir, nach der ärztlichen Untersuchung ginge alles schneller vonstatten, würde man mich gegen Kaution und gegen Bürgschaft auf freien Fuß setzen. In den ersten Tagen ist der Gefängnisdirektor die Liebenswürdigkeit in Person. Er sucht mich zu ungewohnten Zeiten auf, erkundigt sich, ob ich nicht Arznei brauche, ob er nicht den Gefängnisarzt rufen soll. Und er fügt jedes Mal hinzu: „Bislang habe ich noch keinerlei Papiere erhalten. Doch wir wollen hoffen, dass Ihre einflussreichen Freunde alles hinkriegen.“

Die Tage gehen dahin, ohne dass sich irgend etwas tut.

„Der Regierung ist jetzt nicht nach Ihnen“, entfährt es dem Gefängnisdirektor einmal.

„Wieso nicht nach uns?“ Ich spitze die Ohren. Durch geschickte Fragen will ich dem Gefängnisdirektor auf den Zahn fühlen, doch er weicht mir aus.

Immer seltener kommt er zu mir, er schützt Zeitmangel vor. Und wieder darf ich keinen Besuch empfangen. Die Pakete sind der einzige Faden, der meine kalte, mir zuwider gewordene Zelle mit der lebendigen Welt verbindet.

Ich räume auf, stelle die Blumen in einen Krug und lege die Tüten mit den in Papier eingewickelten Lebensmitteln der Reihe nach auf den Fußboden. Nun scheint alles an seinem Platz zu sein, und doch ist die Zelle trübselig, habe ich sie restlos satt. Werde ich denn wirklich ein ganzes Jahr oder gar zwei, ja drei Jahre hier sitzen? Bei diesem Gedanken wird mir körperlich richtiggehend übel. Ich bekomme Angst, dass ich plötzlich ebenso hysterisch los schreien könnte wie die Kriminellen in den Nächten.

Die Zeit zieht sich endlos in die Länge. Die Tage im Gefängnis sind wie Monate.

Es ist jetzt Ende August. Morgens fallen schräge Sonnenstrahlen in die Zelle. Gierig und liebevoll verfolgt sie mein Blick. Solange sie in der Zelle zu sehen sind, ist es, als hätte ich einen lieben Gast bei mir. Immer höher und höher steigen sie, gleiten die Decke entlang, verfangen sich im Gitter am Fenster und verschwinden schließlich. Leer ist die Zelle. Der liebe Gast ist weg.

Um elf kommt der Gefängnisdirektor. „Ich bin gekommen, um Sie auf schlechte Nachrichten vorzubereiten, vorläufig noch inoffiziell. Ich habe hintenherum erfahren, dass über Ihr Gesuch, die Zwangsmaßnahmen aufzuheben, negativ entschieden worden ist. Auch geht das Gerücht um, dass einige Bolschewiki in die Festung gebracht werden sollen.“

Dann geht der Gefängnisdirektor wieder. Ein langer, grauer Tag. Meine Gedanken arbeiten, doch ich empfinde dumpfe Ohnmacht.

Mit einem Mal bleiben die Pakete von den Fabriken und von der Flotte neuerlich aus. Was ist geschehen? Wo liegt die Ursache?

Nachts kann ich nicht schlafen. Ich habe mich schon an den nächtlichen Radau der Kriminellen gewöhnt, doch jetzt wache ich auf und denke nach, denke lange nach ...

Beim Spaziergang ist mir schlecht geworden. Die unfreundliche, sich sehr förmlich gebende Gefängnisärztin wurde geholt. Sie verschrieb mir Digitalis und verordnete Bettruhe.

Meine Gedanken kreisen indessen unablässig um ein und dasselbe: Ist die Partei in die Illegalität gegangen? Wer ist noch frei? Der Metallarbeiterverband ist weiterhin tätig, und er steht auf unserer Seite. Ebenso die Flotte. Warum führen sie keine Demonstrationen durch, weshalb fordern sie nicht unsere Freilassung? Vielleicht ist dies alles aber auch geschehen? Und man hat sie wieder zerschlagen, unterdrückt? Vielleicht kommen deshalb keine Pakete?

Nacht. Tag. Und wieder Nacht.

Ich erwache mit einem Gefühl unerklärlicher Munterkeit, fast mit „Lebensfreude“. Sicher liegt das daran, dass heute ein heller, sonniger Tag ist. Ich habe die Zelle aufgeräumt und warte auf den Spaziergang. Beim Spazierengehen scherze ich mit der Aufseherin, welche die Katzen hat. Der kleine Hof ist inzwischen ganz und gar zum Brennholzlager geworden. Die aufgeschichteten Scheite duften frisch und harzig; wenn man die Augen schließt, glaubt man sich im Wald.

Ich bin in die Zelle zurückgekehrt. Die Niedergeschlagenheit der vergangenen Tage ist bereits verflogen. Ich habe mich innerlich zusammengerissen. Wenn es drei Jahre werden, dann eben drei, wenn fünf, dann fünf. Aber so weit wird es nicht kommen. Schließlich bewältigt die Provisorische Regierung doch nicht alle Aufgaben. Schließlich bringt sie es nicht fertig, auf die Forderungen des Volkes – Nieder mit dem Krieg!“ Der Boden den Bauern! Regulierung der Industrie und Übergabe der Macht an die Werktätigen! – einzugehen. Nein, sie wird auf der Stelle treten, sie begreift nicht, dass die Geschichte fordert, gebieterisch fordert, einen Schritt vorwärts, in die neue, sozialistische Zukunft zu tun. Wenn all diese Probleme nicht gelöst werden, wird sich Kerenski nicht halten können. Ein weiteres Jahr Krieg wird der Bauer nicht dulden. Er will auch den Boden sofort, ohne Verzögerung, ohne Aufschub bis zur „Konstituierenden Versammlung“.

Nein, selbst wenn sie beschließen sollten, uns lebenslänglich einzusperren, die Geschichte wird anders entscheiden!

Ich bessere meine Sachen ein bisschen aus. Ringsum soll alles aufgeräumt und in Ordnung sein. Meine Gedanken notiere ich in einem kleinen Heft mit nummerierten Seiten. [8] Schade, dass sich nicht alles hier aufschreiben lässt!

Ich habe wieder ein Paket erhalten. Heute ist ein gelungener Tag. Er war wie im Nu vorüber. Mir ist, als hätte ich auf etwas gewartet, weiß selbst nicht, worauf.

Es ist Abend. Zum letzten Mal kommt heißes Wasser. „Gute Nacht, Alexandra Michailowna!“ „Gute Nacht, Maria Dmitrijewna!“

Bis morgen also. Für heute ist nichts mehr zu erwarten. In der Zelle ist es trostlos. Trübe brennt die elektrische Birne. Bald wird auch sie gelöscht. Dabei mag ich noch gar nicht schlafen ...

Ich dehne das Aufräumen bis in die Nacht aus, stehe da und wasche mir die Hände. Was ist das? Schritte. Immer näher. Ja, ja, jetzt machen sie vor der Zelle 58 halt; das Schloss schnappt. Kommt man mich holen? Soll ich in die Peter-Pauls-Festung gebracht werden?

Die Tür wird weit aufgestoßen. Vor mir steht der dicke Gefängnisdirektor; er lächelt und reicht mir die Hand.

„Ich gratuliere! Wir haben ein Schreiben erhalten. Auf Anordnung von Justizminister Sarudny werden Sie gegen eine Kaution von fünftausend entlassen.“

„Wer hat das denn bezahlt?“

„Ihre Freunde. Maxim Gorki und der Ingenieur Krassin haben sich da wohl bemüht. Sie werden unten erwartet.“

In fünf Minuten habe ich meine Sachen zusammengepackt. Mein Herz klopft wie wild vor Freude.

Die Untätigkeit, die Isolation hat ein Ende. Die Seite im Buch meines Lebens, die von Zelle 58 handelt, ist zu Ende.

Unten haben sich die Aufseherinnen eingefunden, um sich von mir zu verabschieden.

„Ohne Sie wird es langweilig sein, mit wem sollen wir nun scherzen und ein bisschen schwatzen?“

Sie verachten die Bolschewikin nicht mehr und sehen in den Bolschewiki keine Spione mehr. Mit Ausnahme der Oberaufseherin.

Am Eingang erwartet mich eine Droschke.

Die Straßen sind dunkel. Düster ist das Petrograd des Krieges im Herbst 1917. Es verkriecht sich in Erwartung neuer großer Ereignisse. Begierig erkundige ich mich, was es Neues in der Partei gibt. Es hat ein Parteitag stattgefunden, ich bin ins Zentralkomitee gewählt worden. [9] Wladimir Iljitsch befindet sich in sicherem Versteck. Viele sind noch in den „Kresty“.

Doch der Stimmungswandel zugunsten der Bolschewiki ist unverkennbar. Kerenskis Popularität nimmt mit jedem Tag ab. Man nennt ihn den „Oberzuredner“. Er bläst zum Angriff und hat es dabei nicht einmal vermocht, die Versorgung der Armee zu organisieren. Die Mittelmächte greifen weiter an. Die Lebensmittelknappheit wird immer schlimmer. Die Stimmen der Konterrevolutionäre sind deutlicher zu vernehmen. Die Sowjets geraten zwangsläufig in einen Antagonismus zur Koalitionsregierung. Die Bolschewiki gewinnen immer mehr das Vertrauen und die Sympathie der werktätigen Massen. Die Zahl der Leser der Okopnaja Prawda erreicht eine bisher nie dagewesene Höhe. Was kann man mehr verlangen! Wieder heißt es arbeiten und kämpfen, kämpfen und arbeiten.

Dies dachte und glaubte ich, während ich zu dem Haus fuhr, in dem ich nach der Zelle 58 Unterkunft finden sollte.

Kerenski indessen war anderer Meinung. Der Beschluss, mich gegen Kaution freizulassen, war in seiner Abwesenheit gefasst worden. Als man ihn von der Aufhebung der Zwangsmaßnahmen gegen mich in Kenntnis setzte, soll er, wie ich gehört habe, fuchsteufelswild geworden sein. Er gab auf der Stelle, noch in der gleichen Nacht, Order, mich unter Hausarrest zu stellen. Eine Nacht konnte ich noch ohne Wache schlafen, doch in der Nacht darauf klingelte es um ein Uhr.

Uns war sofort klar, wer diese nächtlichen Gäste waren.

Den Hausarrestbefehl [10] hatten Kerenski, Sawinkow und Awksentjew unterschrieben. So weit waren die sozialen Gruppen schon zersplittert, dass die Regierung der Sozialrevolutionäre und Menschewiki tagtäglich Haftbefehle gegen diejenigen unterzeichnete, die für die Macht der Sowjets eintraten.

Die „nächtlichen Gäste“ sind wieder weg. Vor meiner Zimmertür ist ein Milizangehöriger mit Gewehr zurückgeblieben.

Erst auf einen Beschluss des Petrograder Sowjets hin wurde der Hausarrest gegen mich aufgehoben. Das geschah an dem Tag, als die Demokratische Beratung [11] eröffnet wurde.

*

Anmerkungen

1. Gemeint sind die in den Julitagen von G.A. Alexinski, W.M. Burzew und anderen in der Presse veröffentlichten unwahren, verleumderischen Artikel und „Dokumente“, in denen die Bolschewiki der Verbindung mit den deutschen Imperialisten bezichtigt wurden.

2. Betriebskomitees – Form der Klassenvereinigung des russischen Proletariats, die nach dem Sturz des Zarismus neben den Gewerkschaften entstanden war. Sie vereinigten die Arbeiter in den Betrieben unabhängig von deren Berufen und lösten Fragen der Produktionsleitung. Im Verlaufe der Revolution wurden sie mehr und mehr zu Organen der kämpferischen Arbeiterdemokratie.

3. Gemeint ist die Bildung der zweiten Koalitionsregierung am 24. Juli (6. August) 1917.

4. Reisebeschreibung von Iwan Gontscharow.

5. Iswestija Petrogradskowo Sowjeta Rabotschich i Soldatskich Deputatow (Nachrichten des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten) – Tageszeitung. Die erste Nummer erschien am 28. Februar (13. März) 1917. Ab 1. (14.) August war sie das Organ des ZEK und des Petrograder Sowjets. Die politische Linie der Zeitung wurde von den Vertretern des sozialrevolutionär-menschewistischen Blocks bestimmt, der mit der bürgerlichen Provisorischen Regierung paktierte und gegen revolutionäre Aktionen des Proletariats auftrat. Ab 27. Oktober (9. November) 1917 wurde die Zeitung bolschewistisch und erschien als offizielles Organ der Sowjetmacht.

6. Mit der Ankunft Lenins in Russland verbundene Dokumente von Alexandra Kollontai konnten in den Archiven nicht aufgefunden werden. Es liegen Angaben zu zwei Telegrammen vor, die sie gleich nach der Februarrevolution an Lenin sandte: vom 1. bis 3. (14.–16.) und vom 9. (22.) März 1917. (Siehe W.I. Lenin: An A.M. Kollontai. In: Briefe, Bd. IV, S. 399/400; IML, ZPA, Moskau, F. 2.)

7. Gemeint ist Alexandra Kollontais Artikel Gefangene der russischen Imperialisten, der in der Prawda, Nr. 72, vom 16. Juni 1917 veröffentlicht wurde.

8. Das Heft mit den Aufzeichnungen Alexandra Kollontais aus dem Gefängnis ist nicht erhalten.

9. Gemeint ist der VI. Parteitag der SDAPR(B), der vom 26. Juli bis 3. August (8.–16. August) 1917 in Petrograd stattfand. Er war halblegal; seine Beschlüsse waren auf das Hauptziel – die Vorbereitung des Proletariats und der armen Bauernschaft auf den bewaffneten Aufstand und den Sieg der sozialistischen Revolution – gerichtet. Alexandra Kollontai wurde neben anderen zur Ehrenvorsitzenden des Parteitages gewählt und als Mitglied in das Zentralkomitee der Partei aufgenommen. Des weiteren wurde sie als Kandidatin für die Konstituierende Versammlung aufgestellt.

10. Auf Grund der Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes wurde Alexandra Kollontai auf Ersuchen Gorkis und Krassins gegen Kaution aus dem Gefängnis entlassen. Gemäß dem am 8. August erlassenen Gesetz über den außergerichtlichen Freiheitsentzug bei Personen, die für die Regierung politisch unzuverlässig sind, wurde Alexandra Kollontai jedoch über einen Monat lang unter strengen Hausarrest gestellt. (Siehe A.M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 223/224, russ.)

11. Die Gesamtrussische Demokratische Beratung, die von dem menschewistisch-sozialrevolutionären ZEK der Sowjets zur Lösung der Machtfrage einberufen wurde, fand vom 14. bis 22. September (27. September–5. Oktober) 1917 in Petrograd statt.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2020