Alexandra Kollontai


Wer rettete die soziale Fürsorge?

(1929)


Der Aufsatz wurde 1929 geschrieben.
Der Abdruck erfolgte nach dem Manuskript, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird.
Nach Ich habe viele Leben gelebt“., Berlin 1980, S. 443–447.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Sieben Uhr abends. Das Gebäude des Volkskommissariats für staatliche Fürsorge. Die ersten Novembertage 1917.

Die Tagesordnung ist einfach – mein Bericht (als Volkskommissar) und anschließend Diskussion. Versammelt haben sich etwa 100 Delegierte. Den Vorsitz führt Genosse Jegorow. Im Präsidium sitzen der Arbeiter Katschan von der Kartenfabrik, die Arzthelferin Jegorowa, die Krankenwärterin Amossowa, der Bote Wassiljew und der Rechnungsführer Adaschew. Sie alle sind mit dem komplizierten Netz der so verschiedenartigen Institutionen des Volkskommissariats bestens vertraut.

In dem Saal, wo die Delegiertenversammlung stattfindet, herrscht ernste, ein bisschen feierliche Stimmung. Das ist nicht einfach ein „Meeting“, von denen es im Jahre 1917 nicht wenige gegeben hat. Nein, hier beraten gewählte Delegierte, denen die Genossen ihr Vertrauen geschenkt haben. Das große, lang ersehnte Ereignis ist eingetreten – die Macht liegt in den Händen der Sowjets. Mit der Herrschaft der Gutsbesitzer und der Bourgeoisie ist es vorbei. Jetzt sind sie, die Arbeiter, Bauern und unteren Angestellten, die ehemals rechtlosen und verachteten Sklaven des Kapitalismus und Zarismus, die Herren der Sowjetrepublik. Ganz natürlich, dass die Stimmung im Saal feierlich ist. Gleich die ersten Worte, die auf der Versammlung gesprochen werden, beweisen deutlich, dass alle Anwesenden ein einziger leidenschaftlicher Wunsch verbindet, der Wunsch, das Volkskommissariat zu retten und die Einrichtungen, mit denen die unteren Angestellten verwachsen sind, nicht auseinanderfallen zu lassen. Jeder möchte seinen Beitrag leisten, möchte über die praktischen Erfahrungen, die er gesammelt hat, über seine kleinen Kniffe berichten, um den Apparat des Volkskommissariats in Gang zu bringen, der durch die Sabotage der Beamten zum Stillstand gekommen ist, um „unser“, das sowjetische Volkskommissariat zu schützen.

„Sie sind fortgelaufen ... Haben ihre Arbeit hingeworfen ... Wäre ja auch seltsam gewesen, wenn sie die Tränen der Waisen und Witwen, die Leiden der Kriegsversehrten, das Schicksal der Säuglinge im Findelhaus gerührt hätten! Leiden tun schließlich immer die armen Leute, die Proletarier. Diesen Beamten geht es doch nur darum, pünktlich ihr Gehalt zu bekommen. Um dem Volk in der Not beizustehen, um Hilfe zu leisten, sind die nicht im Amt. Was bedeutet ihnen schon das Volk? Hauptsache, sie werden befördert, bekommen ihre Verdienstkreuze, ihre Auszeichnungen zu Feiertagen ...“

Erbarmungslose Kritik ... Es hagelt nur so Enthüllungen. Lang gehegte Arbeitspläne werden hastig zu Papier gebracht.

Wie viel tatendurstige Kräfte, wie viel findige, begabte Köpfe ... Bis gestern noch waren sie zur Untätigkeit verdammt. Ihre Kraft, ihr Schöpfertum waren, weil sie sich nicht hatten entfalten können, versiegt. Erst die Revolution öffnete ihnen die Türen zu schöpferischer, Freude spendender Arbeit, und der untere Angestellte von gestern hat sich heute schon den Ehrentitel eines voll berechtigten Bürgers der Sowjetrepublik verdient. Wer wohl sollte die Sabotage treibenden Beamten ablösen, wenn nicht sie, die Zöglinge des unseligen Findelhauses, die organisch mit den Aufgaben ihres Ressorts verwachsen waren? Wer sollte wohl den frischen, neuen Geist des revolutionären Aufbaus und der sozialen Aufgaben in diese Mauern tragen, wo bis jetzt die muffige Atmosphäre honigsüßer heuchlerischer bürgerlicher Wohltätigkeit geherrscht hatte, wenn nicht sie, die Boten, Mechaniker, Krankenwärterinnen, Kinderfrauen und Heizer, die Angehörigen jener Klasse, die darangegangen war, die Welt auf einer neuen Grundlage umzugestalten?

Man streitet, ereifert sich.

Worüber?

Über die eigenen Nöte und Ärgernisse? Über die eigenen Forderungen? Nichts dergleichen. Jeder verteidigt die Interessen der Einrichtung, in der er arbeitet. Und wie er sie verteidigt!

Wir beschließen, einen „Rat beim Volkskommissar“ zu bilden; heute hieße das Kollegium. Jedes Mitglied dieses Rates übernimmt eines der Arbeitsgebiete des Volkskommissariats: Katschan die Kartenfabrik, Wassiljew die Armenhäuser und das Rentenwesen, Adaschew die Mietshäuser und die Amossowa die Findelhäuser.

Nun wird die Arbeit vorangehen. Wir werden auch ohne die Beamten zurechtkommen. Und wer halbwegs willig ist, wird dann schon in unserem Sinne arbeiten.

Die unteren Angestellten machen gleich von sich aus Vorschläge, wen von den Doktoren und früheren Angestellten wir zur Arbeit heranziehen sollten.

„Der ist geeignet. Er liebt sein Metier, wird mitmachen.“

Um andere gibt es Streit. Sie werden schließlich abgelehnt.

„Ein Saboteur, keiner von uns. Der hat kein Mitleid mit dem Volk.“

Das Wort „Mitleid“ war in dem Kreis, wo sich die ganze Arbeit um die vom Schicksal Benachteiligten drehte, so etwas wie ein „Fachbegriff“. Nicht von ungefähr hieß es ja auch Ministerium für „staatliche Fürsorge“.

Bevor die Versammlung geschlossen wird, bittet der Bote Wassiljew, ihn für den nächsten Tag vom Dienst zu befreien. „Ich habe schon fünf Tage nicht mehr geschlafen, passe auf die Schreibmaschinen auf, damit sie keiner wegschleppt.“ Niemand hatte ihm das aufgetragen, er aber hatte – wie auch die anderen Mitglieder des Verbandes – das „Gut des Volkes“ wie seinen Augapfel gehütet. Bei der Kasse war, wie sich herausstellte, ebenfalls freiwillig Wache gehalten worden. Doch die Diensthabenden hatten nicht einmal eine Waffe. Wir forderten auf der Stelle einen bewaffneten Wachposten an.

Die Versammlung ist geschlossen. Mit frischem Mut, froh gestimmt und voller Glauben an die Kraft des Kollektivs gehen die Delegierten nach der Versammlung auseinander, wo sie sich erstmals aktiv an der Leitung der Staatsgeschäfte beteiligt und die nächsten Maßnahmen und Arbeiten des ihnen am Herzen liegenden Volkskommissariats geplant haben.

„Wir werden die Maschine schon aus eigener Kraft in Gang bringen, so oder so“, meint Genosse Jegorow. „Wir machen es bestimmt besser als die Beamten, denn es wird auf jeden Fall unser, der proletarische Geist herrschen.“

„Und es ist ein neues Schaffen, legen wir doch die Grundlage des Sozialismus“, füge ich hinzu, ganz erfüllt von der belebenden Freude über die Macht der aufsteigenden Klasse.

Die Nacht ist fast vorbei. Wir haben bis zum Morgen getagt. Am herbstlichen Petrograder Nachthimmel brechen schon Streifen des Morgenrots durch die tiefhängenden Wolken. Was magst du Feuerstreifen am Herbsthimmel über dem alten Petrograd in diesen historischen Oktobertagen verheißen? Was, wenn nicht den Sieg der Arbeiterrevolution, die Morgenröte des Kommunismus!

Am nächsten Tag nimmt das Volkskommissariat für staatliche Fürsorge, späterhin die soziale Fürsorge, nach einer ersten, kurzfristig am Morgen einberufenen Sitzung des Rates beim Volkskommissar seine vielseitige und unaufschiebbare Arbeit auf.

Die Sabotage der Beamten ist durch eine große Kraft zunichte gemacht worden – den Geist der Klasseneinheit und das revolutionäre Verantwortungsbewusstsein der Mitglieder des Verbandes der unteren Angestellten. Und mit dem Donnern des Sturmes der Oktoberrevolution zieht das neue, schöpferische Leben des Aufbaus des Kommunismus in die grauen, düsteren Mauern des Beamtensitzes in der Kasanskaja-Straße ein.

Das Volkskommissariat ist durch den geschlossenen Willen der Werktätigen gerettet worden, die unter dem Banner des bolschewistischen Zentralkomitees unserer Partei voranschreiten.


Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2020