Alexandra Kollontai


Nur schnell nach Russland!

(1937)


Die in den allgemeinen Abschnitt Nur schnell nach Russland! aufgenommenen Erinnerungen Alexandra Kollontais wurden in den Jahren 1936 und 1937 geschrieben und 1943 redigiert.
Sie bilden einen Teil des geplanten Memoirenbandes über die Februarrevolution 1917.
Zu Lebzeiten der Autorin sind die Erinnerungen nicht mehr erschienen.
Der vorliegende Teil der Memoiren unter der redaktionellen Überschrift Nur schnell nach Russland! wurde zum ersten Mal 1967 in der Zeitschrift Sowjetskije Archiwy, Nr. 2, veröffentlicht.
Der Abdruck erfolgt etwas gekürzt.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 289–309.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wie wir von der Februarrevolution erfuhren

Ich fuhr aus der Stadt zum Holmenkollen zurück. Eigentlich hatte ich eine Zeitung kaufen wollen, war aber nicht mehr dazu gekommen.

Kaum saß ich im Zug, sah ich auf der Titelseite der Zeitung, die mein Nachbar las, in Großbuchstaben die Worte: REVOLUTION IN RUSSLAND. Mein Herz erbebte. Ich weiß selbst nicht, warum, doch ich glaubte gleich daran: Das war keine Zeitungsente, das war ernst zu nehmen. Ich beugte mich hinüber und versuchte zu lesen. Um eine Zeitung zu kaufen, war es zu spät, der Zug fuhr schon. Ich bat meinen Nachbarn:

„Wenn Sie die Zeitung gelesen haben, könnte ich sie dann wohl für einen Augenblick bekommen? Ich bin Russin und interessiere mich natürlich für die Ereignisse.“

„Aber bitte. Nur ist dies alles sicherlich nichts weiter als eine Zeitungssensation. Die Nachricht stammt von jemandem, der gerade aus Haparanda gekommen ist. Morgen folgt wahrscheinlich das Dementi.“

Doch auf mich haben diese dürftigen, spärlichen Nachrichten eine andere Wirkung: Ich spüre dahinter grandiose Ereignisse. Das Volk hat sich erhoben. Auf den Straßen wird geschossen. Die Soldaten haben sich den Demonstranten angeschlossen. Ich zweifle keinen Augenblick, fühle ganz deutlich: Ja, diesmal ist es die Wahrheit. Die Revolution hat begonnen. In einer anderen Zeitung werden die Ereignisse bestätigt. Den ganzen Abend über fällt es mir schwer, irgend etwas zu tun. Mit allen meinen Gedanken und Gefühlen bin ich in Russland.

Am nächsten Morgen gibt es zwei einander widersprechende Neuigkeiten. Die eine stammt von jemandem, der schon vorigen Donnerstag aus Petrograd abgereist ist; er versichert, es sei alles still und ruhig. Die andere Nachricht, die die Gerüchte über die Unruhen, Kundgebungen und Schießereien bestätigt, besagt, dass die „Revolutionäre“ irgendwo eine Brücke gesprengt hätten und die Verbindungen zwischen Petrograd und Finnland unterbrochen seien.

Begierig lesen wir alle Zeitungen, versuchen, zwischen den Zeilen etwas herauszulesen. Knapp und zudem verworren sind die Meldungen, doch eines ist klar: In Russland geschieht etwas. Der Sturm ist losgebrochen. Wer wird siegen? Hat die Stunde geschlagen? Das Volk will Frieden, über den Kampf für den Frieden wird es zur Macht kommen.

Am Donnerstag sind die Meldungen bereits klarer. Ein Komitee der Duma [1] ist gebildet worden. Es heißt, die Revolutionäre hätten die Gefängnisse gestürmt, ein Sowjet der Arbeiter und Soldaten [2] sei geschaffen worden.

Russische Zeitungen sind indessen immer noch nicht zu haben.

Am Donnerstag bleibe ich auf dem Holmenkollen, schreibe meine Agitationsbroschüre „Wer braucht den Zaren?“ [3] zu Ende. Weitergehend als eine Verfassung vermag man sich den Sieg noch nicht vorzustellen, und deshalb gilt es, sofort mit der Agitation für die Republik zu beginnen. Das Schreiben fällt mir ungewöhnlich leicht, es wird bildhaft. Erst am späten Abend kommt die Müdigkeit, der Stil verliert an Klarheit, das schöpferische Element verschwindet, das Geschriebene wirkt gekünstelt. Ich schreibe das letzte Kapitel nicht zu Ende, sondern mache mich lieber morgen früh mit klarem Kopf wieder an die Arbeit.

Am nächsten Morgen werde ich durch Klopfen an der Tür geweckt. „Wer ist da?“

Es ist die Büroangestellte Fräulein Dundas. „Was gibt’s?“

„Der Zar hat abgedankt! [4] Das Volk hat gesiegt!“

„Ist das wahr?“

Ich stürze auf den Flur hinaus, falle ihr um den Hals, möchte irgendwo hinrennen. Wir haben gesiegt! Gesiegt! Der Krieg ist zu Ende!

Das ist nicht so sehr Freude, sondern vielmehr schwindelerregender Jubel.

Unterwegs begegne ich Frau Danielsen, und gemeinsam begeben wir uns rasch in die Redaktion des Social-Demokraten, um uns zu überzeugen, ob auch alles stimmt.

Der Redakteur Vidnes, der dicke, aufgeblasene Vidnes, hätte mich beinahe umarmt.

„Das ist ein Sieg! Ich gratuliere! Die Russen sind großartig! Nicht umsonst also haben Sie, die Sozialisten, gelitten und gearbeitet. Das sind nun die Früchte Ihrer Anstrengungen!“

Der Redakteur beschließt, ich müsse jetzt gleich ein Interview geben. Doch das ist nicht so einfach. Ich fühle, dass mein Gesprächspartner die Großartigkeit des Ereignisses gar nicht richtig begriffen hat. Irgendwo weit weg, in jenem fremden, unbekannten Russland, ist es zum „Umsturz“ gekommen. Doch was ändert sich dadurch in Norwegen?

Auch über die Rolle der internationalistischen Sozialisten bei diesem Ereignis ist sich mein Interviewer nicht im klaren. Hierin zeigt sich der übliche „Provinzialismus“ der kleinen Länder. Dafür strahlt Vidnes übers ganze Gesicht, er ist „Europäer“, kennt sich in der ausländischen Politik besser aus und begreift die ganze Tiefe und Tragweite des Geschehenen.

Auf der Treppe treffe ich norwegische Genossen – sie überschütten mich mit Gratulationen. Das ist weiß Gott ein gemeinsamer, herrlicher Festtag, von dem einem ganz schwindlig wird. Auf den Straßen gehen die Zeitungen ungewohnterweise wie warme Semmeln weg und werden sogleich auseinandergefaltet. Offenbar beginnen die Nachricht von der Abdankung des Zaren und die Ereignisse in Russland insgesamt auch den norwegischen Bürger zu interessieren.

Besonders herzlich werde ich in der Redaktion des Klassekamp, des Organs des sozialistischen Jugendverbandes, begrüßt. Der sympathische, zurückhaltende und jünglingshaft schüchterne Hansen schüttelt mir schweigend, doch vielsagend die Hand. Der Redaktionssekretär bittet mich sogleich um einen Artikel über Russland. Wir sprechen davon, dass wir anlässlich der russischen Ereignisse eine Kundgebung veranstalten müssen.

Die Abendzeitungen schreiben noch deutlicher vom Fortgang der Revolution. Klar ist, dass es ein Provisorisches Komitee der Duma gibt, daneben einen Sowjet der Arbeiterdeputierten, an dessen Spitze Tschcheïdse steht. Alles, was man liest, erscheint einem wie ein Märchen.

Wir debattieren, ob Tschcheïdse Mitglied des Komitees der Duma hätte werden müssen oder nicht. Tausend Fragen türmen sich auf, jagen einander. Und immer nachdrücklicher, immer von neuem erhebt sich die Frage: Wird eine Amnestie auch uns betreffen? Werden wir zurückkehren können?

Sonnabend tagt bei uns seit den Morgenstunden unser eigener „Staatsrat“ ...

Was sollen wir tun? Zwar scheint es tatsächlich eine Amnestie zu geben – doch ob es nicht riskant ist zu fahren? Allerdings ist es auch undenkbar hierzubleiben, während sich derartige Ereignisse abspielen. Wir beschließen, den jungen Norweger Hansen [5] als Kundschafter zu schicken. Doch müssen wir noch heute alles regeln, damit er in spätestens zwei Tagen abreisen kann. Der kleine Hansen zeigt rührenden Ernst bei der ihm übertragenen Aufgabe.

Wir erfahren aus den Zeitungen zunächst, dass Michael zum Monarchen ausersehen ist, später, dass Michael abgelehnt hat.

Gegen Abend erreichen uns jedoch beunruhigendere Nachrichten. Es wird von einer möglichen Diktatur des Großfürsten Nikolai Nikolajewitsch geschrieben, davon, dass die Monarchisten die Waffen noch nicht gestreckt haben, dass sie in der Provinz tätig sind. Später erwiesen sich diese Meldungen als Erfindungen, doch wir konnten sie nicht nachprüfen, und so nahmen wir jede Nachricht mit allergrößter Vorsicht auf.

Interessant war der Bericht eines Korrespondenten englischer Zeitungen über die Ereignisse auf den Straßen, darüber, wie Arbeiter und Frauen das Arsenal umstellt hatten, das von einem alten Soldaten bewacht wurde. Die Menge brauchte dem Alten nicht einmal zu drohen, er habe von selbst die Mütze abgenommen, sich bekreuzigt und die Schlüssel mit folgenden Worten übergeben: „Da, nehmt sie, Brüder! Ich sehe schon, ihr habt gesiegt!“

Die Zeitungen sind voller Berichte von „Augenzeugen“, von Leuten, die dort waren. Vieles ist verworren. Doch allmählich wird der tief reichende, bedeutsame Charakter des Geschehens deutlich. Wir aber können noch gar nicht richtig daran glauben, dass die Revolution vollzogen, dass der Sieg über das „alte Regime“ errungen ist. Außerdem begreifen wir nur zu gut, welcher Kampf mit den Vertretern des Adels und des Kapitals noch bevorsteht.

Abends besprechen wir, was mit uns werden soll. Sollen wir näher zur Grenze fahren? Oder lieber hier auf Hansen warten? Vielleicht sollten wir einfach losfahren? Wir senden Telegramme an Freunde und Bekannte in Russland, schreiben unseren Genossen vom Zentralkomitee in der Schweiz, fragen um Rat, erbitten Direktiven, teilen ihnen unsere Überlegungen mit. [6] Dabei jubelt und brennt das Herz gleich einer festlich leuchtenden Flamme.

Im Hotel sind alle außergewöhnlich freundlich zu mir. Selbst Fremde sprechen mich an. Eine Menge törichter Fragen werden mir gestellt, doch klar ist, sie begreifen, dass in diesen Tagen etwas Historisches, Großes in Russland geschieht.

Den Sonntag verbringen wir wiederum gänzlich mit nervös-fieberhafter, begeisterter Erörterung der Ereignisse. Eine Provisorische Regierung ist gebildet worden, sie wird von Lwow, Miljukow und Gutschkow geführt. [7]

Hansen soll am nächsten Morgen abreisen. Wir geben ihm eine Unmenge guter Ratschläge mit auf den Weg, wobei wir uns immer noch nach den Lebensbedingungen des „alten Regimes“ richten, das heißt, der Illegalität der Partei Rechnung tragen. Der arme Hansen zwinkert heftig mit seinen von blass-rötlichen Wimpern gesäumten Augen, bemüht, alles zu behalten; angesichts der verantwortungsvollen Mission wird er ganz zaghaft, fürchtet sich, etwas zu vergessen oder durcheinanderzubringen.

Was wohl wird uns unser „Kurier“ in zehn Tagen bringen? Zehn Tage! In einer revolutionären Zeit ist das soviel wie ein Jahr.

Am nächsten Morgen eile ich in die Redaktion des Social-Demokraten.

Ich suche Vidnes auf, schlage der Partei vor, eine Manifestation aus Anlass der Ereignisse in Russland zu organisieren. Vidnes hat jedoch die große Neuigkeit bereits verdaut, ist wieder in seinen alten Bürokratentrab verfallen und tut aus Gewohnheit wichtig:

„Ja, ja, natürlich, das ist sehr wichtig und notwendig. Ich werde mit dem Vorstand sprechen.“

Allerdings merke ich gleich, dass daraus nichts werden wird. Es beginnt die Bürokratie der (rechten) norwegischen Sozialisten: „Wir müssen alle Instanzen fragen; es ist schwer, einen Raum zu finden“ usw. Ich nehme mir vor, die Angelegenheit mit dem sozialistischen Jugendverband zu besprechen, mit den Zimmerwaldern, dort ist man energischer und noch nicht von der Bürokratie infiziert.

Die Nachrichten aus Russland werden immer vollständiger und ermunternder. Ein Exekutivkomitee des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten ist gebildet worden und hat seine Tätigkeit aufgenommen. Wir erfahren Einzelheiten über die Verhaftung Protopopows und anderer Minister. Der englische Korrespondent schildert die Szene, wie die Minister nach ihrer Festnahme einander mit Vorwürfen überhäuften, dabei in dem Saal des Taurischen Palais, in das man sie gebracht hatte, immerzu auf und ab liefen, während Protopopow auf einem Diwan lag und von nichts etwas wissen wollte. Wir lesen die Reden von Tschcheïdse, Steklow und Skobelew. Kundgebungen der Soldaten fanden statt. Die Hauptsache aber ist die bisher nie dagewesene Atmosphäre eines „frohen Festes“, einer rührenden, brüderlichen Einigkeit.

„Amnestie!“ Ein Telegramm aus Petrograd von einem Mitglied des Exekutivkomitees des Sowjets. Für alle politischen Emigranten sei eine Amnestie erlassen worden. Wir können unverzüglich nach Russland zurückkehren.

Auf meinem Tisch liegt jedoch noch ein anderes Telegramm, von Lenin aus der Schweiz, mit der Anweisung, seinen Brief an das Russische Büro des Zentralkomitees abzuwarten. [8] Ich muss also meine Abreise um fünf bis sechs Tage verschieben und Ljolja Danielsen benachrichtigen, dass der Brief aus der Schweiz sehr dringlich ist und sie mich gleich anrufen soll.
 

Die Amnestie

Eine Amnestie! Und doch kann ich noch immer nicht an die russischen Freiheiten glauben. Was ist das für eine Provisorische Regierung? Kadetten, Großbourgeoisie! Sorgen macht die Angelegenheit der Pässe, haben doch alle falsche Papiere. Sollte man nicht lieber ohne Papiere, aufs Geratewohl fahren? Jemand von den Emigranten hat sogar das russische Konsulat aufgesucht, wobei es zu einer komischen Szene gekommen ist. Die Beamten des Konsulats waren, als sie die beiden hochgewachsenen und entschlossen auftretenden russischen Emigranten erblickten (vom Sehen kannten sich in Kristiania alle), zu Tode erschrocken. Sie dachten offenbar, die russischen politischen Emigranten seien gekommen, sie zu verhaften. Im Konsulat wusste man nichts und gab keinerlei Auskünfte.

Unsere Genossen aus Kopenhagen und Stockholm kamen, um sich mit uns zu beraten, wer fahren und wer vorübergehend noch bleiben soll, um die Verbindung zwischen der Schweiz und Russland aufrechtzuerhalten. Das Auslands-Zentralkomitee der Partei und vor allem Lenin sind noch in Bern. Niemand möchte jedoch gern als Verbindungsmann dableiben, und so fragen wir in Bern an. Wir alle brennen darauf, zum „Fest der Revolution“ zu eilen – Russland ruft uns alle.

Mein Interview hat den rechten Sozialdemokraten nicht gefallen. Sie wollten eine Lobpreisung der „Unblutigkeit“ und Komplimente für die Provisorische Regierung hören. „In Russland wird ein Parlament und eine verantwortliche bürgerliche Regierung gebildet wie in allen zivilisierten Ländern. Was wollen Sie denn mehr?“ hatte mich Vidnes gefragt.

Ich habe jedoch in meinem Interview den bolschewistischen Standpunkt dargelegt – die Unvermeidlichkeit des Kampfes gegen die russische Bourgeoisie. Die Provisorische Regierung sei schließlich nicht die „Macht der Arbeiter“, wir aber wüssten, dass dem Krieg nur dann ein Ende bereitet werden kann, wenn die Arbeiter an der Macht sind, wenn das Proletariat seine Diktatur errichtet hat. Der ganze Kampf liege noch vor uns. Der Sturz des Zaren sei lediglich die erste Sturmbö der Revolution.

„Daher zieht es uns Bolschewiki auch so sehr nach Russland, damit wir dort die wahre Revolution vollbringen, keine bürgerliche, sondern eine sozialistische.“

Der Redakteur Vidnes hat meinen Worten mit einem herablassenden Lächeln zugehört.

„Ihr Russen seid unverbesserliche Phantasten“, meinte er. „Doch ich achte euch, weil ihr den Zaren gestürzt habt. Russland wird jetzt kein Herd der Reaktion mehr sein.“

Nach der Abreise der Genossen bleibe ich noch eine Woche in Kristiania. Für Sonntag ist eine Kundgebung „zu den russischen Ereignissen“ anberaumt. Ich bin der Hauptredner. Veranstalter ist der sozialistische Jugendverband, die Zimmerwalder Linken. Über Russland wird viel geschrieben, doch das fieberhafte Interesse der ersten Woche ist bereits erloschen. Die russische Revolution ist keine „Sensation“ mehr, man schreibt darüber wie über eine Neuigkeit aus fremdem Land und räumt ihr nurmehr Spalten auf der zweiten Seite ein. Die lokalen Angelegenheiten und der Krieg stehen wieder im Vordergrund.

In der deutschen Presse ist nur ein sehr schwaches Echo zu finden. Es ist, als habe sich das offizielle Deutschland noch nicht entschieden, welche Haltung es zur russischen Revolution einnehmen, welchen Ton es für die Bearbeitung der öffentlichen Meinung in Deutschland anschlagen soll. Der Vorwärts ist trocken und farblos, beurteilt das, was in Russland geschieht, mit künstlicher Zurückhaltung, versucht, sich mit dem Fehlen genauer und zuverlässiger Informationen zu rechtfertigen.

Englische Zeitungen treffen hier verspätet ein, französische fast gar nicht. Das ist ärgerlich. Möchte man doch wissen, wie die Welt auf das große Ereignis reagiert! Nur den Korrespondentenberichten der norwegischen und schwedischen Zeitungen ist zu entnehmen, wie die „Mächte“ der Größe des „Umsturzes“ Rechnung tragen.

Das meiste schreibt die ausländische Presse über Miljukow. Von ihm wird in begeistert-ehrfurchtsvollem Ton gesprochen. Große Bedeutung wird auch Rodsjanko beigemessen, der Name Tschcheïdse wird auf jede nur denkbare Art und Weise entstellt, man versteht nicht recht, wer er überhaupt ist – der Führer irgendeiner Partei? Viel Platz wird immer noch dem Zaren und der Zarenfamilie eingeräumt. Das ist „sensationell“ und wie eine rührende Filmszene. Der norwegische Bürger steht unserer Revolution mehr oder weniger skeptisch gegenüber, und wiederholt bin ich gefragt worden:

„Haben Sie denn keine Angst zu fahren? Wenn auf einmal die Monarchisten wieder an die Macht kommen?“

Es ist jedoch schon völlig klar, dass der Sieg über den Zarismus vollständig ist. Die Kunde, dass unsere Zeitung Prawda [9] inzwischen erscheint, stimmt mich freudig und beflügelt mich. Ich erfahre, dass die Bolschewiki aktiv im Sowjet tätig sind, schließlich haben ja sie die Sowjets ins Leben gerufen.

Am Sonntag hat die den Ereignissen in Russland gewidmete Kundgebung stattgefunden, die vom sozialistischen Jugendverband in Kristiania, genauer gesagt, von den Anhängern Lenins, den Zimmerwalder Linken unter der Führung von Olaussen, organisiert worden ist. Es waren so viele Zuhörer gekommen, dass die Bänke weggeräumt werden mussten. Man beschloss, während des Meetings zu stehen und so gewissermaßen Solidarität und Sympathie mit den Arbeitern Russlands zu bekunden. Die Stimmung war begeistert, ich wurde stürmisch begrüßt: Man wusste, dass ich ins revolutionäre Russland fahren werde.

Ich sprach nicht von den Errungenschaften der Revolution, sondern davon, dass die Revolution (nicht die bürgerliche, sondern die unsrige, die sozialistische) noch gänzlich vor uns liege, dass sich die Macht noch in den Händen der Bourgeoisie befinde, dass die russischen Arbeiter und Soldaten noch um die Macht würden kämpfen müssen, dass es das Organ der neuen Arbeitermacht aber schon gebe – die Sowjets der Arbeiter und Soldaten. Nicht das Parlament, sondern eben gerade die Machtorgane der werktätigen Klasse, die Sowjets, würden, wenn sie die Herrschaft erobert und gefestigt haben, dem Krieg ein Ende setzen und endlich Frieden mit den Völkern schließen. Dazu sei jedoch die Unterstützung der Arbeiter aller Länder erforderlich. Sobald die russischen Arbeiter mit dem Krieg Schluss gemacht hätten, würden sie sich an die Verwirklichung des Sozialismus in Russland machen, und zwar unter Losungen wie „Grund und Boden den Bauern!“, „Nationalisierung der Fabriken!“, „Nieder mit dem Kapitalismus!“. Wir würden die Macht des Kapitals stürzen, und die Arbeiter, alle Werktätigen würden zu den Herren ihres Landes. Dazu müsse aber ein erbitterter und anstrengender Kampf ausgefochten werden. Die jetzige Revolution in Russland sei nur ein erster Schritt. Doch die Stunde des Kampfes des Proletariats sei angebrochen.

Die Zuhörer waren ergriffen. Das zurückhaltende, disziplinierte norwegische Arbeiterpublikum war voller Begeisterung und Sympathie für das, was sich in Russland tat.

„Was soll ich den russischen Arbeitern und Soldaten von euch ausrichten? Werdet ihr uns beim Kampf gegen die Imperialisten, für Sozialismus und Frieden unterstützen?“

„Ja, das werden wir!“ erschallte die Antwort im Saal. „Wir werden auf eurer Seite stehen, sagen Sie das in Russland. Wir grüßen die russischen Genossen!“

Der Vorsitzende stellte mit Mühe die Ordnung wieder her und verlas eine Resolution, die ich gemeinsam mit ihm vor der Versammlung ausgearbeitet hatte. Sie wurde einmütig, unter zustimmenden Rufen, angenommen.

„Ein Hurra auf Lenin!“ schlug der Vorsitzende vor. Zum Schluss der Kundgebung sangen wir alle gemeinsam die Internationale. Ich wurde umringt, man drückte mir die Hände, bat mich, den russischen Arbeitern Grüße zu überbringen.

Als ich zum Ausgang schritt, wurde mir zugerufen:

„Gute Reise, Genossin! Sieg den Sowjets! Nieder mit den Imperialisten! Nieder mit dem Krieg!“

Frauen umarmten mich, in der Tür hielt mich der alte Klinger an.

„So eine begeisterte Kundgebung habe ich in Norwegen noch nicht erlebt. Es lebe die soziale Revolution!“ rief der alte Seemann. „Wir sind auf eurer Seite, der Sieg wird unser sein. Einen Gruß an Lenin! Hurra!“
 

Unterwegs nach Russland

Von der Amnestie für die politischen Emigranten und der Möglichkeit, nach Russland zurückzukehren, setzte mich in einem Telegramm auch Tatjana Schtschepkina-Kupernik in Kenntnis, die mich zudem einlud, bei ihr zu wohnen. Nachdem ich den lang erwarteten Brief von Lenin [10] erhalten hatte, wollte ich unverzüglich nach Petrograd fahren, doch dann fiel mir ein, dass ich ja für immer aus Schweden ausgewiesen worden war und demzufolge eine Erlaubnis der schwedischen Regierung für die Durchreise durch Schweden nach Russland brauchte. Selbstverständlich wandte ich mich an Branting um Hilfe, und einige Tage darauf wurde mir diese Erlaubnis erteilt, allerdings mit dem Hinweis, dass mir die Einreise nach Stockholm nicht gestattet sei. Mir wurde eine besondere Reiseroute vorgegeben, die unter Umgehung Stockholms über Krylbo nach Haparanda und von dort nach Tornio führte. [11]

Am nächsten Morgen (nach der Kundgebung) war ich bereits unterwegs nach Russland. An der schwedischen Grenze stieg in Charlottenberg ein in Zivil gekleideter Agent der schwedischen Polizei ein. Er verbeugte sich höflich und erklärte, er werde mich bis Finnland begleiten. Auf etlichen Bahnstationen waren kleine Gruppen von Arbeitern versammelt. Doch mein Bewacher hatte mir verboten, mit ihnen zu sprechen. „Sie fahren als Person, die aus Schweden ausgewiesen wurde“, erläuterte er mir.

Grau und einschläfernd geht der erste Tag der Reise dahin. Ich kann es noch gar nicht fassen, dass ich wirklich nach Hause fahre.

Gegen Abend empfängt mich auf dem Umsteigebahnhof Krylbo der Genosse Chawkin aus Stockholm, den mir Hanecki für den Fall geschickt hat, dass ich in Schweden Schwierigkeiten bekomme. Chawkin ist voller Begeisterung, sitzt kaum einen Augenblick ruhig und gestikuliert wie wild.

„Was ich alles für Neuigkeiten für Sie habe! Eine wichtiger als die andere! Sie können sich das gar nicht vorstellen! Am dritten Tag ist ein ‚Kurier‘ aus Petrograd zu uns gekommen – Maria Iwanowna; was meinen Sie, was sie erzählt! Es ist phantastisch! Die reinsten Wunder! Und wissen Sie, mit was für einem Pass sie gekommen ist? Mit einem einfachen Ausweis, den ein Genosse von uns unterschrieben hat. Damit hat man sie durchgelassen! Ohne auch nur ein Wort zu verlieren! Aber erst die schwedische Presse! Sie reißt unseren Kurier, Maria Iwanowna, geradezu in Stücke, alle wollen ein Interview! Sogar nachts bekommt sie Anrufe. Und unsere Zeitungen erscheinen in Petrograd! Und alle unsere Leute aus der Kolonie [12] fahren, gestern sind schon drei losgefahren.“

Chawkin verstummt nicht, und die Neuigkeiten, die er berichtet, vermitteln mir trotz des chaotischen Durcheinanders mit einem mal ein reales Bild von der russischen Wirklichkeit. Mein Herz schlägt freudig erregt, und ich möchte mehr über Russland erfahren. Ist es wirklich noch ein ganzer Tag bis Tornio?

Bis spät in die Nacht hinein stehe ich mit Chawkin im schmalen Gang des Eisenbahnwagens. Begierig nehme ich seinen zusammenhanglosen Bericht über die Neuigkeiten aus Russland auf, einen Bericht aus zweiter Hand.

Am Tage sehen wir den Gegenzug aus Tornio. Russen darin! Wir laufen hin. Es sind Monteure, die in Schweden irgendwelche Maschinen abnehmen sollen. Voller Eifer und Begeisterung erzählen sie vom neuen Russland.

Alles habe sich gewandelt! Es gebe keinen Zaren mehr, das Volk sei der Herr. Jeder fühle, dass er jetzt nicht mehr nur Arbeitsmann, sondern Bürger sei. Mit welchem Stolz dieses Wort ausgesprochen wird!

„Fahren sie nur! Sehen Sie sich das neue Russland an, Sie werden es nicht wiedererkennen!“ rufen uns die Monteure zu, als sich der Zug in Bewegung setzt. Und plötzlich stimmen sie im Chor die Marseillaise auf russisch an. Chawkin und ich winken ihnen nach.

Auf einer Bahnstation weichen zwei Schweden nicht von meiner Seite. Einer von ihnen trägt eine Eisenbahnerjacke, der andere ist in Zivil. Vielleicht ist es kein Arbeiter, sondern ein Spitzel, denke ich mir. Sollte die schwedische Regierung beschlossen haben, meiner Fahrt durch schwedisches Territorium ein Ende zu setzen? Plötzlich treten sie dicht an mich heran, und der mit der Eisenbahnerjacke erkundigt sich: „Sind Sie nicht Alexandra Kollontai?“

Also doch! Gleich wird man mich verhaften. Ich blicke mich um, suche den Genossen Chawkin, damit er sofort telefoniert, telegrafiert, mit einem Wort Lärm schlägt.

„Wir freuen uns riesig, Sie hier zu sehen, Ihnen die Hand drücken zu können! Wir sind vom schwedischen Jugendverband, kennen Sie von Ihren Artikeln her und haben Sie nach Ihrem Bild in der Zeitung erkannt. Doch wir haben die ganze Zeit über gezweifelt: Wenn Sie es nun doch nicht sind? Richten Sie den russischen Arbeitern unsere Grüße aus! Wir jubeln mit ihnen. Ihr Sieg ist auch unsere Freude.“

Zum Abschied drücken sie mir lange und herzlich die Hand.
 

Das neue Russland

An der nordschwedischen Grenzstation Haparanda wird mein Gepäck durchsucht. Außerdem wird ein weiblicher Beamter herbeigeholt, um eine Leibesvisitation vorzunehmen. Lenins Brief [13] habe ich vorsorglich ins Korsett gesteckt, doch die Angestellte interessiert sich mehr für meine üppige Frisur und weist mich an, alle Haarnadeln herauszunehmen. Natürlich findet sie nichts.

Die Kontrolle in Haparanda ist vorbei. Ich besteige einen der flachen finnischen Schlitten, vor den ein Fuchs gespannt ist, wie ich ihn so gut kenne, und fühle mich zu Hause. Auf solchen Schlitten mit diesen Pferdchen sind die finnischen Bauern immer nach Petersburg zur Fastnachtswoche gekommen, und für die Kinder gab es kein größeres Vergnügen, als auf diesen Schlitten spazieren zufahren

Mit Schellengeläut bringen mich die kleinen flinken Pferdchen über die zugefrorene Bucht zu dem russischen Grenzstädtchen Tornio. Schon von weitem erkenne ich die trostlosen kasernenartigen Bauten von „Mütterchen Russland“.

Es herrscht Frost. Die Fahrt ist angenehm, und doch bin ich ein klein wenig unruhig. Womit und wie wird uns wohl das „neue Russland“ empfangen?

Da ist auch schon der Grenzposten. Wir fahren einen verschneiten Hügel hinan und nähern uns einem Zaun mit geschlossenem Tor. Der Wachposten kommt uns entgegen und fragt: „Haben Sie einen Pass?“

„Ich bin politische Emigrantin“, gebe ich zur Antwort und nenne meinen Namen.

„Kollontai? Da haben wir schon ein Telegramm. Sie dürfen passieren.“

„Ein Telegramm?“

„Na ja, wir sollen Sie ungehindert passieren lassen.“

„Von wem ist denn das Telegramm?“

„Vom Exekutivkomitee.“

Nun kann er nicht mehr an sich halten und setzt hinzu:

„Wir haben Ihnen die Freiheit erkämpft! Ohne uns hätten Sie noch lange in der Fremde umherirren müssen.“

Wie viel Stolz liegt in diesem Bekenntnis! Und wie viel Gutherzigkeit verraten die Augen dieses Russen!

Im Zollgebäude kommt ein Offizier auf mich zu, an der Brust eine rote Schleife, in der Hand ein Blatt Papier. „Sie sind Alexandra Michailowna Kollontai?“ Ich bin ein wenig verwundert.

„Wie haben Sie mich in der Liste unter so vielen Emigranten gleich herausgefunden?“

„Das ist sehr einfach“, antwortet der Offizier. „Die schwedische Polizei hat uns wissen lassen, dass sie eine russische politische Emigrantin des Landes verweist.“

Ich denke bei mir: In der Weltgendarmerie bestehen wahrlich enge Verbindungen!

Beim Zoll herrscht mustergültige Ordnung, alles geht rasch und reibungslos vonstatten. Zwischendurch Gespräche.

„Die ganze neue Ordnung haben wir eingeführt! Vom Alten ist nichts übriggeblieben!“ brüsten sich die Soldaten.

„Was haben Sie denn mit den Gendarmen gemacht?“

„Was wir mit ihnen gemacht haben? Hinauskomplimentiert haben wir sie!“

„Aber wohin denn? Haben Sie sie verhaftet?“

„Die einen haben wir verhaftet, andere sind von selbst abgehauen. Haben es mit der Angst zu tun bekommen! Als sie sahen, dass ihnen die Felle wegschwammen, erschraken sie so sehr, dass es kaum zu glauben war, sie heulten, baten um Vergebung ... Andere verkleideten sich und versuchten zu fliehen. Na, von denen haben wir ein paar geschnappt. Doch den meisten haben wir im Guten den Laufpass gegeben. Jetzt ist es schön bei uns! Alles ist neu. Nun ist auch der Soldat ein Bürger.“

Als ich ein Stück Packpapier wegwerfe, das ich nicht mehr brauche, kommt ein Soldat und hebt es auf.

„Sie brauchen es nicht mehr? Dann wollen wir es in den Papierkorb werfen. Warum soll es auf dem Boden herumliegen, wozu erst Schmutz machen?“

Und er wirft das Papier in einen eigens dafür aufgestellten Papierkorb.

Ich gehe ein Telegramm aufgeben, damit man mich abholt. Als Begleitung gibt man mir Wachsoldaten mit.

„Wie steht es nun mit dem Krieg?“ erkundigen sie sich. „Müssen wir diese Quälerei noch lange mitmachen?“

Zu uns treten noch andere Soldaten, fragen, was man im Ausland so über den Krieg höre. Und alle stellen sie die eine Frage – ob der Krieg bald zu Ende sei.

Ich hatte eine andere Stimmung befürchtet, hatte geglaubt, das typische „Mit denen werden wir schon fertig!“ zu hören, doch ich finde Skepsis, Unschlüssigkeit vor. Sobald die Rede auf die Revolution kommt, leben sie auf, ist des Erzählens kein Ende.

Heute soll bei den Finnen eine Kundgebung stattfinden, die die Arbeiter aus Anlass der Beerdigung der „Opfer der Revolution“, die in Helsingfors ihr Leben gelassen haben, veranstalten, und die russischen Soldaten wollen daran teilnehmen.

„Wir halten jetzt Freundschaft mit den Finnen“, erklären sie mir.

In der reinlichen Gaststube der Bahnstation Tornio stürze ich mich gierig auf die russischen Zeitungen. Sozialistische Zeitungen gibt es noch nicht, dafür die Blätter Birschowka und Rjetsch. Doch ehe ich mir die Zeitungen vornehme, schreibe ich rasch einige frohe Grüße an die norwegischen und schwedischen Genossen und Freunde, die dort zurückgeblieben sind.

Ich bin glücklich! Russland, das neue Russland, es gibt es, es ist kein Traum, keine Phantasie. Ich sehe es, spüre es. Ich erkenne es nicht wieder. Ich bin so glücklich, dass sich mir alles im Kopf dreht.

Langsam schleppt sich der Zug durch verschneite Wälder und Haine dahin. Auf den Stationen indessen herrscht überall reges Leben; vor allem Soldaten sieht man, Soldaten der Revolution, die Helden des Tages, mit roten Schleifen, mit stolz lächelnden Gesichtern. Es ist, als ob alle auf etwas warteten.

Wie könnte man da im Zug bleiben, wie der Versuchung widerstehen, eine Rede zu halten? So spreche ich auf jeder Station, und unserem sich entfernenden Zug hallt jedes mal ein fröhliches, vielstimmiges „Hurra“ zu Ehren der Revolution und ihrer Helden hinterher.

Da ist es also, das freie Russland! Wie viel Veränderungen hat es in ihm gegeben! Wie viel Großes, was unter dem Druck des Volkswillens vollbracht wurde. Und die Wiederherstellung der Autonomie Finnlands? Die „vier Freiheiten“? Die Amnestie? Das ist schließlich eine Wende, die man gar nicht sogleich erfasst.

Und wie glatt man alle meine Manuskripte, Briefe und Papiere durchgelassen hat! Bei der Kontrolle der Fahrgäste stellte ich mich vor.

„Aber sicher, natürlich, Sie stehen bei uns auf der Liste; wir haben Anweisung, Sie ungehindert passieren zu lassen. Haben Sie Dokumente, Briefe, Papiere? Seien Sie so liebenswürdig, legen Sie alles zu Ihrem Gepäck. Der Kommissar auf dem Finnländischen Bahnhof wird Ihnen alles aushändigen. Sie müssen sich nur auf jeden Fall an ihn wenden. Er wird Ihnen überhaupt behilflich sein, wenn Sie etwas brauchen sollten, was die Wohnung betrifft oder so.“

Was war einfacher als das! Die mit der Befragung befassten Offiziere in Tornio waren ja auch die Zuvorkommenheit selbst.

In Beloostrow findet die nächste Kontrolle statt. Hier herrscht weniger Ordnung, es geht hastiger zu, dafür sind hier auch mehr Leute. Das Gepäck wird zum Zoll gebracht, ungeachtet meiner Erklärungen. Glücklicherweise ist gerade ein Offizier in Reichweite, dem ich klarmache, wer ich bin, und von dem ich bereits „verlange“, dass mein Gepäck nicht kontrolliert wird. Der Offizier willigt sofort ein; mein Gepäck wird zurück in den Eisenbahnwagen gebracht, während ich zusammen mit dem Offizier ins Kommandantenzimmer gehe, um mich „anzumelden“.

Auch hier weiß man bereits über mich Bescheid. Wieder leuchten rote Schleifen, erneut vernehme ich verworrene, doch begeisterte Erzählungen über die Ereignisse.

Einer der Offiziere wühlt in den Papieren herum und bringt mir dann einen roten Zettel.

„Wissen Sie, was das ist?“

„Nein.“

„Das sind noch Überreste vom alten Regime. Auf diesem Zettel steht Ihr Name mit dem Vermerk ‚Dringend gesucht‘. Unter dem alten Regime hätte man Sie auf der Stelle verhaftet. Damit aber“ – er zerreißt den roten Zettel in kleine Stücke – „habe ich dieses Dokument vernichtet, so dass Sie für immer eine freie Bürgerin im freien Russland sind, wozu ich Sie beglückwünsche!“

In Beloostrow kommen zwei Reisende in mein Abteil, ein Technologe und eine junge Frau, so eine von den hübschen Russinnen. Ich höre ihrem Gespräch zu. Was reden sie nur für plattes Zeug, was für spießigen Unsinn daher! Haben sie denn vergessen, was sich in Russland tut? Womöglich haben sie sich in den Februartagen in ihrer Wohnung verkrochen, zitternd vor Angst, während das Volk auf den Straßen Barrikaden errichtete!

Doch ich habe mich getäuscht! Absichtlich bringe ich das Gespräch auf die Tage der Revolution. Da leben die beiden plötzlich auf, sind wie verwandelt. Er ist, wie sich herausstellt, in den Putilow-Werken beschäftigt und mit den Arbeitern losgezogen, und sie hat Kinder zu sich genommen, damit deren Mütter unbesorgt zur Demonstration gehen konnten. „Ich bin vom Telegrafenamt“, erklärt sie mir. Der Ingenieur versichert, dass die Putilow-Arbeiter den Anfang gemacht hätten, „von dort aus hat alles begonnen“ [14]. Und wie lebendig die Schilderungen der beiden sind – das Heldentum der Massen, die unvermeidlichen Zusammenstöße, aber eben der unbändige Wille zur Freiheit.

Meine Reisegefährten sind nicht wiederzuerkennen. Die Revolution, ihr Leuchtschein, ihre Größe hat auch sie berührt, hat sie edler gemacht, erhabener ...

Langsam kriecht unser Zug dahin, langsam vergehen auch die Minuten bis Petrograd. Eine Stunde Fahrt nur noch, doch sie scheint endlos zu sein. Ich kann es gar nicht erwarten, in die geliebte Stadt zu kommen, in die umgewandelte und neue Stadt, wo die Revolution schon einen Sieg errungen hat: Russland ist Republik. Neue Kämpfe stehen bevor, deshalb möchte ich auch so rasch wie möglich dorthin.

Die blaugrünen Lichter der Signale auf dem Weg zum Bahnhof huschen vorüber. Der Zug verlangsamt seine Fahrt ...

Sei gegrüßt, teure, schöne Stadt! Dich wird die Geschichte rühmen.

*

Anmerkungen

1. Gemeint ist die Bildung des Provisorischen Komitees der Reichsduma. Es wurde am 27. Februar (12. März) 1917 von der Großbourgeoisie und den Gutsbesitzern ins Leben gerufen.

2. Die Arbeiter von Petersburg wählten in den ersten Tagen der Februarrevolution die Delegierten für den Stadtsowjet der Arbeiterdeputierten, der am 27. Februar (12. März) gebildet wurde. Am 28. Februar wurde daraus der vereinigte Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Nach dem Beispiel der Hauptstadt entstanden im ganzen Lande Sowjets.

3. Es handelt sich um die Broschüre Wer braucht den Zaren, und kann man ohne ihn auskommen? (Siehe A. M. Kollontai: Ausgewählte Aufsätze und Reden, S. 195–204, russ.)

4. Nikolaus II. dankte am 2. März 1917 zugunsten seines Bruders, des Großfürsten Michael Romanow, ab.

5. Mit Hilfe des norwegischen Sozialdemokraten Hansen, der im Jahre 1917 Sekretär des sozialistischen Jugendverbandes Norwegens war, versuchten die Mitglieder der Partei, die in den skandinavischen Ländern Europas in der Emigration waren, über Finnland direkten Kontakt zu Russland aufzunehmen, um zu klären, wie die Dinge in der Heimat wirklich lagen, und um die Rückkehr nach Russland in die Wege zu leiten. Hansen fuhr am 6. (19.) März 1917 aus Kristiania ab.

6. Gemeint ist offenbar der Brief an das Zentralkomitee der Partei, an Lenin, den Alexandra Kollontai am 16. (3.) März 1917 geschrieben hat. Sie schlug darin Sofortmaßnahmen zur Aufnahme von Kontakten und zur Führungstätigkeit in Zusammenhang mit den revolutionären Ereignissen in Russland vor. Der Brief enthielt die Bitte um unverzügliche telegrafische Antwort (IML, ZPA, Moskau, F. 17). Ferner gingen ein Telegramm an Lenin, in dem um Direktiven gebeten wurde (erwähnt in W. I. Lenin: Brief an A. M. Kollontai), sowie ein Brief vom 16. (3.), ein Telegramm vom 28. (15.) März (IML, ZPA, Moskau, F. 2) und ein Brief vom 17. (4.) März 1917 (siehe Nowy Mir, 1967, Nr. 4, S. 235/236).

7. Die Provisorische Regierung in Russland wurde am 2. (15.) März vom Provisorischen Komitee der Reichsduma durch ein Übereinkommen mit der menschewistisch-sozialrevolutionären Führung des Petrograder Sowjets gebildet. Regierungschef war Fürst G. J. Lwow. Es war eine Regierung der Bourgeoisie und der verbürgerlichten Gutsbesitzer, die keine der großen Fragen der Revolution zu lösen vermochte.

8. Ein Telegramm Lenins mit der Bitte, seine Weisungen abzuwarten, ist in den Archiven nicht gefunden worden. In Lenins Werken sind etliche Briefe und ein Telegramm an Alexandra Kollontai vom 16. (3.), 17. (4.) und 22. (9.) März veröffentlicht, auch finden sich Aussagen über Briefe und ein Telegramm an sie vom 19. (6.) und vom 22. (9.) März. In diesen Dokumenten wird das konkrete Aktionsprogramm der Bolschewiki in der Etappe der bürgerlich-demokratischen Revolution dargelegt. (W. I. Lenin: An A. M. Kollontai. In: Briefe, Bd. IV, S. 398–401, 406. Lenin-Sammelband XIII, S. 256/257, russ.; IML, ZPA, Moskau, F. 2.)

9. Am 5. (18.) März 1917 erschien die Prawda, das Zentralorgan der Partei, wieder in Petrograd.

10. Zusammen mit den Direktiven zur Verhaltensweise der russischen Bolschewiki zum damaligen Zeitpunkt schickte Lenin über Alexandra Kollontai zwei seiner ersten Briefe aus der Ferne. Die Dokumente trafen am 18. (5.) März 1917 ein. (Siehe IML, ZPA, Moskau, F. 2.)

11. Alexandra Kollontai reiste am 29. (16.) März 1917 nach Russland ab.

12. Gemeint sind die Kolonien der politischen Emigranten, die es vor der Revolution in verschiedenen Städten Europas und Amerikas gab. Die meisten davon waren Sektionen der Auslandsorganisation der SDAPR.

13. Gemeint sind die beiden ersten Briefe aus der Ferne, die Lenin am 7. (20.) und 9. (22.) März beinahe unmittelbar nach dem Eintreffen der Informationen über die Februarrevolution in Russland geschrieben hat.

14. Am 18. Februar (3. März) begann in Petrograd ein Streik der Arbeiter der Putilow-Werke. Der Betrieb wurde geschlossen, doch die Aussperrung bewirkte, dass sich die Empörung der Petrograder Arbeiter Bahn brach. Die Bewegung verschmolz mit Proteststreiks gegen den Brotmangel und die unglaubliche Teuerungswelle.


Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2020