Alexandra Kollontai


Der Palast der Mutterschaft brennt

(1945)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1945 als Teil des Kapitels Aus Erinnerungen von Alexandra Kollontai in der Zeitschrift Oktjabr, Nr. 9.
Der vorliegenden Publikation liegt das Manuskript des Buches Die erste Etappe zugrunde, das im Zentralen Parteiarchiv des IML Moskau aufbewahrt wird.
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 460–467.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es war eine kalte Winternacht Ende Januar 1918. Der erste Winter der großen Revolution. Wir arbeiteten bis spät in die Nacht hinein, kämpften gegen Schwierigkeiten und Hindernisse an, die durch die Lasten des Bürgerkrieges und die Sabotage der Weißen geschaffen wurden.

Nachts musste ich zu einer Sitzung des Rates der Volkskommissare in den Smolny fahren. Es gab unerfreulich Nachrichten. Die deutsche Armee rückte im Südwesten vor.

Unsere eigene Front war nicht stabil genug. Sabotierten da womöglich ehemalige zaristische Offiziere und Generäle? Die Rote Armee bestand noch nicht. Vielerorts verließen die Soldaten die Front und desertierten. Hier und da brachten Einheiten der zaristischen Armee, die noch nicht aufgelöst waren, Züge in ihre Gewalt und fuhren damit, wohin es ihnen beliebte. Die bürgerliche Presse aber hörte nicht auf mit ihrem hysterischen Geschrei:

„Die Sowjetmacht ist nicht imstande, den Staat zu regieren. Diese Macht wird sich höchstens ein paar Wochen halten. Sie ist nicht effektiv. Man braucht sich doch nur anzuschauen, wie unvernünftig in den Ministerien gearbeitet wird. Wenn man sich ansieht, was die Kollontai alles in ihrem Kommissariat ausheckt! An die Stelle von alten, erfahrenen Beamten setzt sie Köchinnen und Arbeiter.“

In dieser Nacht schien mir Lenin, der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare, besonders besorgt zu sein; kein Scherzwort, wie es sonst von ihm zu hören war. Als wir spät auseinandergingen, blieb er mit seinem Sekretär Gorbunow allein zurück, um das Protokoll zu überprüfen. Ich ging mit einem unguten Gefühl von der Sitzung nach Hause. Wir alle waren hungrig und müde. Am meisten aber machte mir zu schaffen, dass im Kommissariat die Dinge nicht so liefen, wie ich es wünschte. Nur Schwierigkeiten, nur Hindernisse.

Die Straßen waren leer und dunkel. Schüsse – einer, dann noch einer. Sie wurden von unserem Maschinengewehr erwidert. Das Ende der Revolution war noch fern. Der Fahrer fragte mich: „Soll ich warten, oder kann ich mich ein bisschen ausruhen?“

„Fahren Sie nur, und ruhen Sie sich aus, Genosse Gussew. Morgen holen Sie mich dann wie immer gegen zehn ab.“

Ich hatte mit meinem Sohn und meiner Freundin Soja Schadurskaja eine Wohnung im vierten Stock. Es war nicht unsere Wohnung, ein guter Bekannter von uns hatte sie uns zur Verfügung gestellt. Als ich in die vierte Etage hinaufstieg, hatte ich das Gefühl, dass es zuweilen über meine Kräfte ging, Kommissar zu sein. Gleichzeitig überlegte ich, ob wohl im Schrank noch irgend etwas zu essen wäre. Ich wusste, dass es im Zimmer sehr kalt sein würde. Unwillkürlich dachte ich an die Jahre zurück, da ich nicht Kommissar, sondern einfacher Funktionär gewesen war, da ich von der Partei in alle Länder geschickt worden war und dort leidenschaftlich für die bevorstehende Revolution agitiert hatte. Nun ist sie da, diese Revolution. Wir bauen eine neue Welt auf. Mehr Mut, Kollontai! Was soll’s, wenn es in deinem Zimmer kalt ist und sich im Schrank vielleicht nicht einmal ein Stück Brot findet. Doch meine Freundin Soja hatte sich um mich gekümmert, wie es nur ging. Auf dem Tisch dampfte der Samowar, daneben lagen ein paar Stückchen Zucker und sogar ein Brötchen.

Ich bekam gleich bessere Laune. Heißer Tee und meine beste Freundin. Was brauchte es mehr im Leben? Wir kamen prompt auf die deutsche Offensive zu sprechen. Würde unsere Front wohl dem neuen Angriff standhalten? Natürlich würden wir Bolschewiki es schaffen, unsere Armee früher umzugruppieren, bevor die Deutschen auf Petrograd vorrückten. Die Gefahr einer Niederlage? Daran glaubten wir nicht ... Morgen würde ein großer Tag sein. Morgen sollte das ganze Personal des Palastes für Mutter und Kind mit dem unermüdlichen Doktor Koroljow das alte Gebäude nach der Umgestaltung in Besitz nehmen.

Am Morgen hatte ich mir den Palast angesehen und mich gefreut, dass die Zimmer groß und hell waren und es für den Anfang genug Kinderbettchen gab. In einem großen runden Raum hatten wir eine Bibliothek mit Lesesaal eingerichtet. Natürlich mangelte es noch an vielem, doch wir würden diesen Palast schon nach und nach zu einer vorbildlichen Einrichtung machen und ihn dieser Tage für all die Mütter eröffnen können, die auf der langen Warteliste standen, welche auf meinem Tisch lag. Jetzt aber schleunigst ins Bett, es ging schon auf vier Uhr zu. Man musste lernen, kurz, doch fest zu schlafen. Da klingelte plötzlich das Telefon.

„Feuer? Wo?“

„Der Palast brennt!“

Das teilte mir Doktor Koroljow mit, und er forderte mich auf, unverzüglich zu kommen. Ich rief das Kommissariat für Marine an.

„Kommen Sie sofort mit einer Einheit Matrosen!“ Natürlich war der Kommissar [1] gleich zur Stelle. Doch ich konnte es nicht glauben: Sollte der Palast wirklich brennen? Wieso nur?

Wiederum fuhren wir durch menschenleere Straßen. Rotgardisten mit Armbinden patrouillierten. Am Himmel ein roter Schein. Das hieß, es war wirklich ein Großbrand. Mir war kalt, nicht so sehr vom Frost als vielmehr vor Aufregung und Empörung. Der Palast brannte! Das, was mein Traum gewesen ist! Solche Häuser für Mutter und Kind würden viele Probleme der Frauen lösen. Mein Werk! Sollte es tatsächlich den Flammen zum Opfer gefallen sein?

Als wir beim ehemaligen Findelhaus ankamen, hatte das Feuer schon das gesamte Gebäude erfasst. Flammen, Rauch, das Zischen des Wassers. Die Feuerwehrleute bekämpften die Flammen mit aller Macht. Eine Gruppe von Mitarbeitern gab Anweisungen und beteiligte sich selbst am Löschen. Herumstehende Gaffer, die ich eigentlich erwartet hatte, gab es indessen nicht. (Wo hätten sie auch mitten in der Nacht in der von der Revolution erfassten Hauptstadt herkommen sollen?)

Die Seeleute machten sich sogleich energisch an die Arbeit. Würden wir den Palast der Mutterschaft retten oder nicht? Doktor Koroljow bezweifelte es. Es war seltsam, dass das Feuer den mittleren Teil des Gebäudes, gerade den Teil erfasst hatte, in dem am nächsten Tag Mütter mit ihren kleinen Kindern aufgenommen werden sollten. Unser Labor, die Krippe, die Bibliothek – alles brannte. Die beiden angrenzenden Flügel, in denen wir vorübergehend die Kinder und die Kinderwärterinnen aus dem Findelhaus untergebracht hatten, brannten nicht. Wie konnte der Brand schon so um sich greifen, wenn er gerade erst ausgebrochen war?

Einer meiner neuen Mitarbeiter, der wegen des Rauches nach Luft rang, rief mir zu:

„Der Brand ist an mehreren Stellen des Gebäudes ausgebrochen, eigenartig. Da waren Saboteure am Werk, anders nicht.“

Es war bitter und schmerzlich, dem Zerstörungswerk der Flammen zuzusehen. Wie viel schlaflose Nächte hatte uns die Schaffung dieser neuen Einrichtung gekostet! Wie viel Auseinandersetzungen hatte es mit der alten Leitung des Findelhauses gegeben! Jetzt, da der Palast der Mutterschaft nun endlich eingerichtet war und man mit der Arbeit hätte beginnen können, hatten Saboteure beschlossen, es uns heimzuzahlen.

Doktor Koroljow führte uns durch den Notausgang in den Flügel, in den wir die Kinder gebracht hatten. Der Rauch verpestete die Luft in den Gängen, und es war dunkel, weil der Strom ausgefallen war. Wo aber war eigentlich die berühmte Gräfin? Weshalb war sie nicht am Katastrophenort? Ich warf einen Blick in den zentralen Teil des Hauses. Dort brannten die Kinderbettchen lichterloh. Die Decke hielt dem Feuer nicht mehr stand, an einer Stelle stürzte ein Balken herab. Die Fensterscheiben zersprangen, und kleine Glassplitter fielen klirrend auf den Steinfußboden. Durch das Fenster sah der Schnee rosa aus. Der beißende Rauch brannte in der Kehle und in den Augen.

Inmitten der Rauchwolken tauchte plötzlich ein seltsamer Zug auf. So an die dreißig Kinderwärterinnen des Findelhauses kamen mit wirren Haaren, im Nachtgewand, schreiend und schimpfend die Treppe herunter, die Säuglinge auf dem Arm. „Was wollen Sie denn hier? Der Teil des Hauses dort ist der einzig sichere. Gehen Sie zurück in Ihre Zimmer“, sagte Doktor Koroljow in befehlendem Ton. Doch statt einer Antwort bildeten die Kinderwärterinnen, die Dienstälteste voran, einen engen Kreis um mich und schimpften, was das Zeug hielt.

„Da ist sie, die Kollontai, die blutrünstige Bolschewikin! Die hat unser Haus angesteckt. Sie wollte uns mit den Kleinen verbrennen, Christenseelen bei lebendigem Leibe umbringen. Die Kommissare sind nur erpicht auf die Rationen der Kinder! Wartet nur, ihr Bolschewiken, wir zahlen es euch schon noch heim!“

Ich versuchte, die schreienden Kinderwärterinnen zu beruhigen, doch vergeblich. Mein Zureden half nicht. Im Zimmer war nur das Geschrei der hysterischen Weiber zu hören. „Hört nicht auf die Kollontai. Sie ist ein Antichrist. Auf ihren Befehl hin sind die Ikonen weggeschafft worden. Das Findelhaus zu einem Freudenhaus machen, das will sie!“ Eine der Wärterinnen packte mich an der Kehle und begann, mich zu würgen. Matrosen und Feuerwehrleute machten dem Handgemenge ein Ende und führten die Wärterinnen mit den Säuglingen fast gewaltsam in den unversehrt gebliebenen Teil des Hauses. Einer der Matrosen salutierte und meldete mir: „Alles in Ordnung, Genosse Kommissar! Kinder und Wärterinnen sind in Sicherheit. Wir haben eine Wache vor ihrer Tür aufgestellt.“

Wir beschlossen, unverzüglich die Ursachen des Brandes zu ermitteln. Doktor Koroljow und mein Stellvertreter Jegorow sowie der Volkskommissar für Marine, Dybenko, bildeten eine Kommission.

Die Zeugen wurden vernommen. Die Dienstälteste, eine hochgewachsene Frau, kochte innerlich vor Wut und antwortete auf alle Fragen nur, dass sie nichts wisse. „Weshalb der Brand ausgebrochen ist? Das ist die Strafe Gottes dafür, dass die Ikonen abgenommen wurden. Als es zu brennen anfing, schlief ich fest.“ Eine der jungen Wärterinnen erinnerte sich daran, wie man im Kinderzimmer bemerkt hatte, dass die Dienstälteste neuerdings des Nachts mit einer Petroleumkanne umherwanderte. Petroleum brauchte eigentlich niemand, da es ja elektrischen Strom gab. Die Kinderwärterinnen stritten heftig. Ich ließ die Leiterin des Findelhauses, die ehemalige Gräfin, rufen, doch diese schickte eine Wärterin und ließ uns sagen, sie sei krank und könne nicht zu uns herunterkommen. Da schickten wir zwei Matrosen hin. Schließlich erschien die Gräfin. Sie war eine stattliche Frau, mit weißem Haar, um die Schultern ein graues Tuch gelegt; ein schönes Gesicht, bösartig zusammengekniffene Lippen und schwarze Augen, die uns alle voller Hass anblickten. Ich ging ihr entgegen, doch sie verbarg die Hände unter ihrem Tuch. Ein paar Minuten standen wir uns schweigend gegenüber und sahen einander an. Mir schien, sie lächelte, als dächte sie: „Und ich habe mich doch an euch gerächt!“ Die Fragen beantwortete sie kurz und sachlich. Doch aus ihren Antworten konnte man in keiner Weise entnehmen, wo das Feuer ausgebrochen war und welcher Umstand die Ursache dafür gewesen sein mochte.

„So ein Brand ist ein großes Unglück“, meinte sie. „Doch er kann leicht in einem Haus entstehen, wo es weder Ordnung noch Disziplin gibt. Die Bolschewiki haben das Volk außer Rand und Band geraten lassen. Darum auch das Feuer. Sie, die neue Leitung, müssten doch am besten wissen, wieso es zu dem Brand gekommen ist. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat eine der neuen Kinderfrauen einen Schlafgast zu sich hereingelassen, einen Matrosen oder Rotgardisten, der ein Streichholz oder einen Zigarettenstummel auf den Holzfußboden geworfen hat.“

Das war zu viel für unsere Matrosen. „Alte Hexe! Wie kann sie es wagen, uns so zu beleidigen. Los, die nehmen wir fest!“ Doch ich erwiderte: „Wir nehmen nicht wegen dummer Worte fest, sondern nur wegen krimineller Vergehen.“ Die Gräfin fuhr fort, die Fragen zu beantworten.

„Das Feuer ist die Strafe Gottes für Sie“, meinte sie zu mir. „Wir haben hier gottgefällig gelebt, als Wohltäter, haben die Kleinen gerettet, die sonst auf der Straße ausgesetzt worden wären. Wir haben von den Wärterinnen Ordnung und strengen Glauben verlangt. Dann aber haben Sie alles genommen und dem ehrwürdigen Vater kein Gehalt mehr gezahlt.“

Sie sprach nicht direkt aus, dass wir eigentlich den Brand auf dem Gewissen hätten. Doch sie war derart bemüht, sich reinzuwaschen, dass sie sich völlig verriet. Es stand fest, dass es die Gräfin gewesen war, die die Sabotage gesteuert und vielleicht sogar das Feuer gelegt hatte.

Das Verhör war zu Ende. Als ich das Gebäude verließ, drehte ich mich noch einmal um, um einen Blick auf mein zerstörtes Werk zu werfen. Gestern erst hatten wir über der Tür das Blechschild mit der stolzen Aufschrift „Palast für Mutter und Kind“ angebracht. Jetzt hing es schief und baumelte kläglich an einem Nagel. Sollte das wirklich alles sein, was von dem Palast übriggeblieben war? Soja nahm mich bei der Hand.

„Gräm’ dich nicht. Es war ein altes Gebäude, das gar nicht richtig geeignet war. Wir werden schon noch viele neue prachtvolle Häuser für unser Volk, für die Kinder und die Mütter bauen. Sei unbesorgt, die Energie der Bolschewiki wird alle Hindernisse überwinden.“

Sie hatte recht. Inzwischen erstreckt sich über die gesamte Sowjetunion ein Netz von Einrichtungen, die für das Wohl von Mutter und Kind Sorge tragen. Nur dass sie heute eine schlichtere Bezeichnung tragen – „Haus für Mutter und Kind“.

*

Anmerkung

1. Gemeint ist Pawel Jefimowitsch Dybenko, der seit 1912 Mitglied der Partei war. Im Jahre 1917 war er Vorsitzender des Zentralkomitees der Baltischen Flotte; nach der Oktoberrevolution gehörte er als Volkskommissar für Heereswesen und Marine der ersten Sowjetregierung an. Während des Bürgerkrieges befehligte er Truppenteile und Verbände der Roten Armee an der Ukrainischen Front, der Südfront und der Kaukasischen Front sowie an anderen Frontabschnitten. Von 1918 bis 1923 war Pawel Jefimowitsch Dybenko mit Alexandra Kollontai verheiratet.


Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2020