Alexandra Kollontai


Lenin dachte an das Große,
ohne darüber das Kleine
zu vergessen

(1946)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1946 in der Zeitschrift Rabotniza, Nr. 1.
Der vorliegende Abdruck erfolgte nach dem Buch Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Lenin, Bd. 3, Moskau 1969, russ.
(Siehe auch Genosse Lenin. Erinnerungen von Zeitgenossen, Berlin 1967, S. 177 ff.)
Nach Ich habe viele Leben gelebt. Berlin 1980, S. 470–474.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es erfüllte mich immer wieder mit Staunen, wie Wladimir Iljitsch es vermochte, an das Große und Wichtige zu denken, ohne dabei die alltäglichen Kleinigkeiten zu vergessen, wie er, der einen neuen, bisher in der Welt einmaligen Staat schuf, gleichzeitig keine Gelegenheit ungenutzt ließ, uns klarzumachen, auch bei kleinen Dingen daran zu denken, dass für einen Staat, insbesondere für einen sozialistischen, Rechnungsführung und Ordnung unerlässlich sind. Ich will ein Beispiel anführen.

Dezember 1917. Die Weihnachtsfeiertage stehen vor der Tür, aber an sie denkt bei uns im Smolny niemand. Im Smolny läuft die Arbeit auf Hochtouren. Der Winter ist noch nicht endgültig eingezogen. Es fällt nasser Schnee, und die Newa entlang weht ein kalter Nordwind.

Nadeschda Konstantinowna sucht Wladimir Iljitsch zu überreden, für ein paar Tage, über Weihnachten, aufs Land zu fahren. Sie meint, Wladimir Iljitsch brauche eine Ruhepause. Er schläft in letzter Zeit schlecht und ist offensichtlich erschöpft.

Zu mir ins Volkskommissariat für staatliche Fürsorge kam der leitende Arzt des Sanatoriums Chalila in Finnland, auf der Karelischen Landenge, und erzählte, dass er in seinem Sanatorium ein neues Einfamilienhäuschen habe, warm und hell, dass er Lenin gern ganz zur Verfügung stellen wolle. Aber Wladimir Iljitsch wehrt alle unsere Überredungsversuche ab. Obwohl wir auch sagen, dass dort ringsum herrlicher Wald sei und man nach Herzenslust auf die Jagd gehen könne, antwortet Wladimir Iljitsch:

„Die Jagd ist eine gute Sache, aber wir haben so unendlich viel zu tun; wir haben die Arbeit zwar in Angriff genommen, jedoch einen neuen Staat in zwei Monaten einzurichten, das schaffen auch die Bolschewiki nicht. Dazu ist mindestens ein Jahrzehnt erforderlich.“

Nadeschda Konstantinowna unterbricht ihn: „Was denn, da willst du wohl all die Jahre ständig hinter dem Schreibtisch sitzen?“ – „Na, das werden wir dann schon sehen“, erwidert Wladimir Iljitsch.

Es vergingen jedoch nur wenige Tage, und Wladimir Iljitsch kam auf den Gedanken, dass er in diesen drei oder fünf Tagen auf dem Lande eine ganze Arbeit schreiben könnte, wozu er im Smolny nicht die Zeit fände. [1] Und dieser Gedanke begeisterte ihn derart, dass er eines Morgens zu Nadeschda Konstantinowna sagte:

„Wenn die Kollontai in ihrem Volkskommissariat wirklich ein Häuschen im Wald hat, wo mich keiner stört, dann bin ich bereit zu fahren.“

Am 24. Dezember morgens kam ich zum Finnländischen Bahnhof, um mich von Wladimir Iljitsch vor seiner Reise ins Erholungsheim zu verabschieden. Wladimir Iljitsch, Nadeschda Konstantinowna und Maria Iljinitschna waren gerade eingestiegen. Wladimir Iljitsch setzte sich ans Fenster, ganz in die Ecke, um möglichst unbemerkt zu bleiben. Neben ihn setzte sich Maria Iljinitschna und ihnen gegenüber Nadeschda Konstantinowna. Wladimir Iljitsch war der Meinung, dass es sicherer sei, wenn er in einem gewöhnlichen Personenzug reise. Im gleichen Abteil nahmen auch zwei Rotarmisten und ein zuverlässiger finnischer Genosse Platz.

Wladimir Iljitsch trug seinen abgetragenen Übergangsmantel, in dem er aus dem Ausland zurückgekehrt war, und einen Filzhut, obwohl schon starker Frost herrschte. Hinter mir stieg ein Genosse ein, der drei Pelzmäntel und eine Pelzmütze mit Ohrenklappen über dem Arm trug. „Ziehen Sie das über“, sagte ich zu Wladimir Iljitsch, „wenn Sie im Schlitten über freies Feld fahren müssen, wird es sehr kalt sein. Von der Bahnstation bis zum Sanatorium ist es sehr weit. Die Pelze“, fügte ich hinzu, „sind aus den Beständen des Volkskommissariats.“ – „Das sieht man auch“, sagte Wladimir Iljitsch und kehrte das Futter eines Mantels nach außen. Darin waren die Nummer des Lagers und die Inventarnummer eingenäht.

„Das habt ihr gemacht, damit wir gut auf die Pelze achtgeben und sie nicht vergessen. Das staatliche Eigentum will registriert sein. So gehört es sich auch.“

Wladimir Iljitsch wollte, dass ich mitkäme, aber mich hielten die dringenden laufenden Geschäfte des Volkskommissariats zurück, vor allem die Organisierung der Hilfe für Mutter und Kind. Ich versprach, später nachzukommen.

Plötzlich fiel Wladimir Iljitsch ein, dass er kein finnisches Geld hatte.

„Es wäre gut, wenn Sie wenigstens hundert Finnmark besorgen könnten, für den Gepäckträger auf der Bahnstation oder für irgendwelche andere notwendige Kleinigkeiten.“

Ich eilte zur Kasse, aber ich hatte wenig Geld bei mir und bekam nicht einmal hundert Finnmark.

Wladimir Iljitsch fragte: „Sie sagen also, ein separates und warmes Häuschen, und im Wald kann man jagen? Gibt es denn dort Hasen?“ Ich antwortete, dass ich mich für Hasen nicht verbürgen könne, dass es aber sicherlich Eichhörnchen gebe. „Na, Eichhörnchen schießen, das ist doch ein Kinderspiel.“ Nadeschda Konstantinowna fügte hinzu: „Wenn Wladimir Iljitsch doch bloß in den Wald gehen und nicht alle drei Tage hinter dem Schreibtisch sitzen wollte.“ – „Aber dort ist auch im Zimmer die Luft reiner“, warf Wladimir Iljitsch ein.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Mitreisenden ahnten nicht einmal, dass der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare als gewöhnlicher Passagier zweiter Klasse mitfuhr.

Nach einigen Tagen arbeitete Wladimir Iljitsch wieder im Smolny.

Da bekam ich einen Zettel, auf dem von Wladimir Iljitschs Hand geschrieben stand:

„Ich schicke Ihnen die Pelzmäntel aus den Beständen Ihres Volkskommissariats mit bestem Dank und wohlbehalten zurück. Wir konnten sie gut gebrauchen. Uns hat ein Schneesturm überrascht. Im Chalila selbst war es schön. Das finnische Geld schicke ich Ihnen noch nicht, aber ich habe so ungefähr ausgerechnet, wie viel das in russischem Geld ausmacht, es sind etwa 83 Rubel, die lege ich bei. Ich weiß, dass es mit Ihren Finanzen nicht besonders gut steht. Ihr Lenin.“ [2]

Das ist so typisch für Wladimir Iljitsch. Neben all den gewaltigen Sorgen um die Belange des Staates konnte er an solche Kleinigkeiten denken und immer ein aufmerksamer Genosse sein.

*

Anmerkungen

1. Im Sanatorium Chalila weilte Lenin vom 24. bis 27. Dezember 1917 (6.–9. Januar 1918). Er schrieb dort die Arbeit Aus dem Tagebuch eines Publizisten, die Aufsätze Durch den Zusammenbruch des Alten Verängstigte und für das Neue Kämpfende und Wie soll man den Wettbewerb organisieren? sowie die vorläufigen Thesen und den endgültigen Text des Entwurfs eines Dekrets über die Konsumkommunen.

2. Das Original dieser Zeilen wurde nicht aufgefunden.


Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2020