Alexandra Kollontai


Lenin im Smolny

(1947)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1947 in der Zeitschrift Krasnoarmejez (Der Rotarmist), Nr. 2.
In der vorliegenden Publikation wird ein Teil der Erinnerungen nach dem Buch Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Lenin, 1969, Bd. 2, russ., abgedruckt.
Im Text wurde eine logische Umstellung der Stellen zum II. Sowjetkongress vorgenommen.
(Siehe auch Vom Februar zum Oktober. Erinnerungen an Lenin aus dem Jahre 1917, Berlin 1977, S. 171 ff.)
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 423–425.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wladimir Iljitsch traf in der Nacht zum 25. Oktober (7. November) im Smolny ein. Er kam aus der Illegalität in Lesnoi, wo er sich auf Beschluss der Partei vor den Spürhunden Kerenskis verborgen gehalten hatte. [1]

Am nächsten Tag ging Lenin offen zur Sitzung des Petrograder Sowjets. [2]

Einige Genossen hatten versucht, ihn zurückzuhalten; sie wollten ihn nicht der Gefahr aussetzen, die sein offenes Erscheinen im Sowjet bedeutete. Wer dabei war, wird niemals die Minuten vergessen, in denen wir ängstlich um Iljitsch bangten.

Doch die Zeit der Illegalität war vorbei. Lenin wollte von Warnungen nichts hören. Er widersprach uns nicht einmal, sondern lief einfach in den Weißen Saal, wo der Sowjet tagte.

Lenin kannte die Stimmung der proletarischen Massen in Stadt und Land besser als wir, und er kannte die Frontkämpfer besser. Er wusste, dass sie auf ihn warteten, darauf, dass er das entscheidende Wort sprach.

Und da betrat Lenin den Saal.

Zunächst ein leises Raunen im Saal: „Lenin!“ Dann die stürmischen Ovationen der Deputierten, die ihn lange nicht zu Wort kommen ließen.

Wladimir Iljitschs Rede war von ungewöhnlicher Kraft. Der Wille der Sowjetdeputierten schien davon wie elektrisiert.

Aus dem Sitzungssaal zurückgekehrt, sagte Iljitsch mit freundlichem Lächeln zu uns:

„Da sehen Sie mal, wie die Deputierten reagiert haben. Und Sie haben noch gezweifelt!“

Er schüttelte missbilligend den Kopf und warf einen verschmitzten Blick zu seinen eifrigen „Leibwächtern“ hinüber.

Lenin nahm jetzt die Leitung des Aufstands unmittelbar in die Hand.

Ich erinnere mich an das Zimmer im Smolny, mit den Fenstern auf die Newa hinaus. Es war Abend, ein dunkler Oktoberabend. Von der Newa blies ein scharfer, böiger Wind herüber. Die Glühbirne über dem kleinen quadratischen Tisch verbreitete nur trübes Licht im Raum. Am Tisch hatten sich die Mitglieder des Zentralkomitees versammelt, die auf dem VI. Parteitag gewählt worden waren. Jemand brachte ein paar Gläser heißen Tee herein.

Lenin war hier. Lenin war unter uns. Das gab uns Mut und Siegesgewissheit. Lenin war ruhig und entschlossen. In seinen Anordnungen, in seinem ganzen Tun lagen eine Klarheit und eine Kraft, wie sie nur ein sehr erfahrener Kapitän im Sturm aufweist. Und dies war fürwahr ein Sturm wie nie zuvor, der Sturm der großen sozialistischen Revolution.

Bald darauf hörten wir die Salve des Kreuzers Aurora ...

Wenn man mich fragte, welche die größte und denkwürdigste Stunde in meinem Leben gewesen sei, würde ich ohne Zögern antworten: Das war die Stunde, in der die Sowjetmacht proklamiert wurde. [3]

Unvergesslich und mit nichts zu vergleichen ist die helle Begeisterung, die stolze Freude, die wir empfanden, als wir von der Tribüne des II. Sowjetkongresses im Smolny die einfachen und doch erhabenen Worte des historischen Beschlusses vernahmen:

„Die ganze Macht geht allerorts an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten über ...“ [4]

Unvergesslich ist mir Wladimir Iljitsch Lenin in dieser großen Stunde! [5] Er verkündete die berühmten ersten Dekrete der Sowjetmacht – das Dekret über den Frieden [6] und das Dekret über den Grund und Boden. [7] Sein Blick, durchdringend, voller Tatkraft und Gedanken, war nach vorn gerichtet. Er sah, was wir noch nicht sahen – die eben verkündeten Dekrete als lebendige Wirklichkeit, die Zukunft, die es zu erobern galt.

Erstaunlich und unvergesslich war auch diese konzentrierte und schöpferische Nachdenklichkeit Wladimir Iljitschs am Präsidiumstisch in der ersten gesetzgebenden Versammlung der Sowjets, als die Bolschewiki schon in den ersten Stunden der Macht den sozialistischen Aufbau, den Aufbau einer neuen Welt in Angriff nahmen.

*

Anmerkungen

1. Die letzte Phase von Lenins Illegalität währte 110 Tage, vom 6. Juli bis zum 24. Oktober 1917. Rasliw, Finnland, Wiborg und Petrograd waren Stätten des illegalen Aufenthaltes von Lenin. Am späten Abend des 24. Oktober (6. November) verließ Lenin seine letzte konspirative Wohnung auf der Wiborger Seite und begab sich zum Smolny.

2 Gemeint ist die Sitzung des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, die am 25. Oktober (7. November) 1917, 14 Uhr 35, eröffnet wurde. Auf dieser Sitzung hielt Lenin eine Rede über die Aufgaben der Sowjetmacht. Nach Lenins Rede wurde die von ihm verfasste Resolution mit Stimmenmehrheit angenommen.

3. Gemeint ist der II. Gesamtrussische Kongress der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, der am 25. Oktober (7. November), 22 Uhr 45, eröffnet wurde. Beendet wurde er am 27. Oktober (9. November), 5 Uhr 15.

4. Zitat aus dem von Lenin verfassten Aufruf An die Arbeiter, Soldaten und Bauern!.

5. Lenin war nur auf der zweiten, der Abendsitzung des II. Sowjetkongresses am 26. Oktober (8. November) 1917 zugegen.

6. W. I. Lenin: Dekret über den Frieden.

7. Dekret über den Grund und Boden.


Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2020