Alexandra Kollontai


Im Smolny

(1947)


Zum ersten Mal veröffentlicht 1947 unter der Überschrift Lenin im Smolny in der Zeitschrift Krasnoarmejez, Nr. 2.
Der vorliegende Abdruck enthält einen Teil der Erinnerungen nach dem Buch Erinnerungen an Wladimir Iljitsch Lenin, Bd. 2, Moskau 1969, russ.
Die Überschrift wurde von den Herausgebern gewählt.
(Siehe auch Vom Februar zum Oktober. Erinnerungen an Lenin aus dem Jahre 1917, Berlin 1977, S. 171 ff.)
Nach Ich habe viele Leben gelebt, Berlin 1980, S. 467–470.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Mir ist das Glück und die große Ehre zuteil geworden, als Volkskommissar für staatliche Fürsorge [1] in der ersten Sowjetregierung mit Lenin zusammenzuarbeiten.

In den ersten Wochen seines Bestehens tagte der Rat der Volkskommissare im Smolny; dort trat er in einem Zimmer des zweiten Stockes zusammen, das als „Lenins Arbeitszimmer“ bezeichnet wurde.

Die äußeren Umstände der Sitzungen des Rates der Volkskommissare waren sehr nüchtern, ja mehr als nüchtern, geradezu unzulänglich für die Arbeit. Wladimir Iljitschs Tisch stand an der Wand, dicht darüber hing eine Glühbirne. Wir Volkskommissare saßen im Kreis um Wladimir Iljitsch und zum Teil hinter ihm. Nahe am Fenster das Tischchen für Gorbunow, den Sekretär des Rates der Volkskommissare, der Protokoll führte. Jedes Mal, wenn Lenin einem von uns das Wort erteilte oder Gorbunow eine Anweisung gab, musste er sich umdrehen. Doch den Tisch an eine günstigere Stelle zu rücken, fiel damals keinem ein, waren wir doch mit großen Dingen beschäftigt. An sich selbst dachte man da nicht!

Eine Begebenheit soll hier erwähnt werden, denn sie charakterisiert trefflich, wie die Mitglieder des Rates der Volkskommissare und Lenin selbst in jenen heißen Tagen lebten.

Es war kurz nach Beendigung des II. Sowjetkongresses. Schwedische Genossen aus Stockholm hatten Wladimir Iljitsch und mir aus alter Verbundenheit ein paar Laibe holländischen Käse geschickt.

Dieses Geschenk kam gerade recht. Ich weiß noch, wie mir einmal auf einer Versammlung nach einer Rede und einem erbitterten politischen Wortgefecht mit Sozialrevolutionären schwindlig geworden war.

„Sind Sie krank, Genossin Kollontai?“ fragte mich ein Rotgardist und stützte mich. „Nein, wohl eher hungrig.“

Der Rotgardist bot mir einen Rubel an, um „ein bisschen Brot zu kaufen“. Da ich ablehnte, verschaffte er sich meine Adresse, brachte mir Brot nach Hause und ging ganz bescheiden wieder fort, ohne auch nur seinen Namen zu hinterlassen.

Aus diesem Grunde freute ich mich, ehrlich gesagt, über die Möglichkeit, Iljitsch mit Käse bewirten zu können. Der Vorsitzende der Regierung hatte genau wie wir nicht genug zu essen.

Vor einer Sitzung des Rates der Volkskommissare zeigte ich Iljitsch die runden, roten Käselaibe. Er machte sich sofort Gedanken, seine erste Sorge galt uns:

„Der muss auf alle aufgeteilt werden. Und vergessen Sie Gorbunow nicht. Bitte, machen Sie das selber.“

Lenin ging in sein Arbeitszimmer, und ich breitete auf dem Tisch des angrenzenden Durchgangszimmers Zeitungen aus, holte ein Messer und fing an, den Käse für die Genossen zum Abendbrot aufzuteilen.

Aber in der Sitzung des Rates der Volkskommissare war meine Anwesenheit unerlässlich. Ich ließ Messer und Käse auf dem Tisch liegen und ging hinein. Wie gewöhnlich in diesen Tagen zog sich die Sitzung bis in die späte Nacht hin. Den Käse hatte ich ganz vergessen. Als ich dann zurückkam, lag er nicht mehr an seinem Platz. Das Messer und die Zeitungen waren da, vom Käse aber nicht ein Krümchen ... Den ganzen Tag über waren die Posten vor der Tür viele Male abgelöst worden. Sie hatten angenommen, der in Portionen aufgeteilte Käse in diesem Zimmer sei ihre Verpflegungsration. Und so war es nicht verwunderlich, dass er im Laufe des Tages an die Genossen ausgegeben worden war.

Ich ging zu Wladimir Iljitsch ins Arbeitszimmer zurück, wo er zusammen mit Gorbunow das Protokoll überarbeitete (das tat er jedes Mal – diese außergewöhnliche Sorgfalt und Genauigkeit in der Arbeit konnten wir tagtäglich bei ihm lernen).

„Was gibt es denn?“ fragte Wladimir Iljitsch. Ich erzählte es ihm, und er lachte laut heraus.

„Ja und, hat der Käse wenigstens geschmeckt?“ fragte er herzhaft lachend. „Sie haben ihn selber nicht einmal probiert? Das ist natürlich schade. Doch so groß ist das Unglück nicht, meine ich; wenn nicht wir, dann haben ihn eben andere gegessen.“

In Iljitschs Augen lag ein warmes, gütiges Lächeln. Was tut’s, sagte dieser mir unvergessliche Blick Lenins, so haben sich also nicht die Volkskommissare, sondern Soldaten oder Arbeiter an dem Käse gütlich getan, haben was zum Abendbrot gehabt; das ist schon ganz in Ordnung.

Und Lenin machte sich wieder daran, das Protokoll zu lesen, wandte sich den alltäglichen Pflichten des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare zu.

Dieser große Mensch, der er war, setzte seine titanenhafte Arbeit am Aufbau des ersten Sowjetstaates in der Welt fort, jene Arbeit, die als unauslöschliche Seite in das Buch der Menschheitsgeschichte eingegangen ist.

*

Anmerkung

1. Alexandra Kollontai wurde auf dem II. Kongress der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten vom 25. bis 26. Oktober (7.–8. November) 1917 zum Volkskommissar für staatliche Fürsorge (soziale Fürsorge) ernannt und hatte diesen Posten bis März 1918 inne. Ihre Funktion als Volkskommissar nutzte Alexandra Kollontai vor allem, um eine Reihe von Gesetzen auszuarbeiten, die der Frau helfen sollten, voll berechtigtes Mitglied der Gesellschaft zu werden. Unter ihrer Mitwirkung wurden die Entwürfe für das Dekret über die Ehescheidung vom 19. Dezember 1917 und die Dekrete über die Zivilehe und die rechtliche Gleichstellung außerehelicher und ehelicher Kinder vom 20. Dezember 1917 vorbereitet. Sie hatte ferner Anteil an der Ausarbeitung der Bestimmungen über Schwangerschafts- und Wochenurlaub und die Zahlung von Beihilfen an junge Mütter.


Zuletzt aktualisiert am 31. Juli 2020