Antonio Labriola

 

Zum Gedächtnis
des
Kommunistischen Manifestes

 

Einleitung

Wenn wir die Abhandlung Antonio Labriolas über das Kommunistische Manifest durch eine Uebersetzung den deutschen Arbeitern zugänglich machen, so geschieht es in erster Reihe um ihres sachlichen Wertes willen.

Labriola selbst wollte nur eine Gedenkschrift zu dem herannahenden fünfzigsten Geburtstage des Manifestes veröffentlichen, als er seine Arbeit im Frühling 1895 in italienischer und französischer Sprache zum erstenmal herausgab; er wollte weder eine Analyse noch einen Kommentar der weltgeschichtlichen Urkunde geben. Allein indem er die Entstehungsgeschichte des Manifestes schilderte und zugleich dessen Wirkungen in den Kreis seiner Darstellung zog, gab er doch beides, sowohl eine Analyse, wie einen Kommentar. Als leicht faßliche und durchsichtig klare Einführung in die Gedankenwelt des Manifestes steht seine Arbeit ebenbürtig neben der kleinen Schrift von Engels über Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, von der sie im übrigen völlig unabhängig ist.

Beide Schriften wiederholen sich so wenig, wie sie sich widersprechen, vielmehr ergänzen sie einander. Schon als Mitverfasser des Manifestes konnte Engels vieles nicht sagen, was Labriola mit gebührendem Nachdruck hervorhebt. Jedoch auch seine Art zu sehen ist eine andere. Labriola hat den historischen Materialismus, wie ihn Marx und Engels entwickelt haben, vollkommen durchdrungen, aber er reproduziert ihn als selbständiger Denker. So hat er abwechselnd den Vorwurf hören müssen, ein orthodoxer Marxist aber auch überhaupt kein Marxist zu sein. Darauf antwortete er mit feiner Ironie: „Ich bin kein Paladin von Marx, und ich nehme alle Kritiken an; ich bin selbst ein Kritiker in allem, was ich schreibe, und ich verleugne nicht den Satz: Verstehen heißt überwinden. Aber es scheint mir doch, notwendig, hinzuzufügen: Ueberwinden heißt verstanden haben.“ Gutmütiger und zugleich gründlicher ist der Revisionismus, und was in dies Gebiet schlägt, nie abgefertigt worden.

Labriola hat den historischen Materialismus verstanden, wie wenige. Er war aufs innigste vertraut mit der deutschen Literatur und namentlich auch mit der deutschen Philosophie. Als er Die heilige Familie von Marx und Engels, die doch selbst dem deutschen Leser so manches Kopfzerbrechen verursacht, zum ersten Male las, begrüßte er sie wie eine alte Freundin; er fühlte sich durch sie in seine Jugend zurückversetzt, die er unter den Hegelianern in Neapel verlebt hatte. Selbst bürgerliche Blätter rühmten bei seinem Tode: „Uns Deutsche geht sein Hinscheiden besonders deswegen an, weil wir in ihm den eifrigsten und kenntnisreichsten Vermittler deutschen Geistes in Italien verlieren“. Ein solcher Vermittler ist Labriola aber vor allem auf dem Gebiete des Sozialismus gewesen.

Er würdigte vollkommen die Schwierigkeit, die Werke von Marx und Engels in die romanischen Sprachen zu übertragen. „Seit siebenunddreißig Jahren“, schrieb er im Mai 1897, „lese ich deutsche Werke, und es hat mir immer scheinen wollen, daß wir, die Völker der lateinischen Zunge, in seltsamer Weise unsere sprachlichen und schriftstellerischen Fähigkeiten verlieren, wenn wir aus dieser Sprache übersetzen. Was im Deutschen voll Kraft und Klarheit und ergreifend ist, wird sehr oft, zum Beispiel im Italienischen, kalt, ohne Relief und manchmal selbst reiner Gallimathias“. Deshalb wollte Labriola ganz den Deutschen überlassen, die Werke von Marx und Engels herauszugeben und zu erläutern. Beide seien zwar internationale Geister, aber „die Form ihrer Gehirne, der Gang ihrer Produktionen, die Organisation ihrer Art zu sehen, ihre wissenschaftliche Bildung und ihre Philosophie sind die Frucht und das Resultat der deutschen Kultur“. Die romanischen Nationen empfahl Labriola, ihre eigene Geschichte mit der historisch-materialistischen Methode zu erleuchten, und er selbst weiß diese Methode mit einer unübertrefflichen Sicherheit zu handhaben, mit einer Sicherheit, die ein stählendes Geistesband auch für uns Deutsche ist, bei denen es in diesem Punkt auch manchmal hapert, trotz der Klarheit und Kraft, die Labriola bei uns vorauszusetzen so wohlwollend war.

Es ist sein bleibendes Verdienst, an seinem Teil die Schranken niedergerissen zu haben, die dem geschlossenen Zusammengehen des internationalen Proletariats durch die nationalen Unterschiede erwachsen, in erster Reihe durch die Unterschiede des Geisteslebens im deutschen Volk und in den romanischen Nationen. Von den Hindernissen, die ihr dadurch bereitet werden, weiß die internationale Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts fast auf jeder Seite zu erzählen. Die ökonomischen Unterschiede zwischen den Ländern, in denen sich die kapitalistische Produktionsweise durchgesetzt hat und durchsetzt, gleichen sich mehr und mehr aus; hier stößt die brutale Gewalt der Tatsachen die Proletarier der verschiedenen Länder unablässig auf ihre gemeinsamen Interessen. Aber weit schwieriger ist es, die überlieferten und an sich so verschiedenen Denkformen, in denen die Arbeiter Deutschlands, Frankreichs, Italiens und anderer Länder ausgewachsen sind, aus- und umzuschalten in die Denkformen des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, der mit einem sehr krausen Schlüssel geöffnet worden ist, mit der deutschen und namentlich mit der Hegelschen Philosophie.

Von ihr war Labriola, wie Marx und Engels, zum Sozialismus gekommen. Es ist hier nicht der Ort, auf seine früheren philosophischen Schriften einzugehen; genug daß er sich in heißer Arbeit und in schweren Kämpfen zur proletarischen Weltanschauung durchgerungen hat, obgleich oder vielmehr weil seine sozialistischen Schriften nichts davon verraten. Diese durchsichtige Klarheit, diese sichere Beherrschung des Stoffes findet man nicht am Wege. Aber eben weil diese Schriften nicht erklügelt, Sondern erlebt sind, ergreifen sie mit lebendiger Gewalt den Leser. Es ist echtester Marxismus, unverfälschter Wein, jedoch umgegossen in romanische Darstellungs- und Denkform, frei von aller Pedanterie und allem Schulstaub, wovon die deutsche Denkform sich so schwer befreit.

Auch nach seiner Wendung zum wissenschaftlichen Sozialismus blieb Labriola in seiner Stellung als Professor an der Universität in Rom. Auf diesem alten Kulturboden achtet man – im Gegensatze zum neureichsdeutschen Protzenpatriotismus – die Wissenschaft auch noch, wenn ihre Ergebnisse den profitablen Augenblicksinteressen der herrschenden Klassen widersprechen. Auf der anderen Seite war es ein ehrenvolles Zeugnis für Labriola, daß er die Würde des sozialistischen Revolutionärs auch in einer offiziellen Stellung zu behaupten wußte. Mindestens seit dem Jahre 1895, seit der Veröffentlichung dieser Abhandlung über das Kommunistische Manifest, war er allgemein als Marxist bekannt, und er gehörte nicht zu denen, die den Marxismus mit irgendwelchen gelehrten oder gelehrt scheinenden Vorbehalten bekennen. Er vertrat ihn frank und frei.

Freilich ein Vielschreiber ist er nie gewesen; so sind auch seine sozialistischen Schriften wenig umfangreich. Neben der vorliegenden Gedenkschrift hat er noch eine vorläufige Aufklärung über den historischen Materialismus (beide Arbeiten sind von ihm unter dem gemeinsamen Titel: Essays über die materialistische Geschichtsauffassung zusammengefaßt worden), sowie eine Reihe von Briefen über Philosophie und Sozialismus veröffentlicht. Aber als Sozialist hat er doch immer noch mehr geschrieben, denn als Philosoph. Er sagt einmal: „Ich habe niemals eine sehr große Neigung gehabt, für das Publikum zu schreiben, und ich habe mich niemals um die Kunst zu schreiben gekümmert, so wenig, daß ich meine Feder gewöhnlich nur laufen lasse. Ich habe im Gegenteil immer die mündliche Unterweisung geliebt und liebe sie noch in allen ihren Formen. Erst später, als ich Sozialist geworden war, bin ich in dieser intellektuellen Wiedergeburt begieriger geworden, mit dem Publikum zu verkehren, durch Flugblätter, durch Gelegenheitsbriefe, durch Adressen, die sich mit den Jahren, sozusagen ohne mein Vorwissen, vervielfältigt haben.“ Da haben wir gleich den ganzen Mann; der deutsche Professor, den die Wehen der intellektuellen Wiedergeburt überraschen, flüchtet vielmehr in sein entlegenstes Kämmerlein.

Vom deutschen Professor hatte Labriola auch sonst nichts. Er kannte diese Rasse und redet sie einmal an: „In Deutschland erhalten die alten feudalen Gewohnheiten, die protestantische Heuchelei und die Feigheit einer Bourgeoisie, die zwar die Gunst der ökonomischen Umstände ausnützt, aber weder revolutionären Geist noch revolutionären Mut entwickelt, dem Wesen Staat den trügerischen Schein einer sittlichen Mission. In wieviel wenig appetitlichen Saucen habt ihr uns diese Ethik des Staates, und obendrein des preußischen, serviert, ihr deutschen Professoren, schwerfällig und pedantisch wie ihr seid.“ Von den deutschen Professoren unterschied sich Labriola noch in einer anderen Beziehung, die er mit den Worten andeutet: „Einige – es sind ihrer wenige – bieten dem Publikum das Ergebnis ihrer eigenen Arbeit und glauben nicht, die intime Geschichte ihrer Lektüre oder gar die Photographie ihrer Feder beifügen zu müssen. Andere – und Sie sind in der großen Mehrzahl – empfinden das gebieterische Bedürfnis, die ganze Frucht ihrer Lektüre drucken zu lassen. Sie sind aufmerksame Hüter ihrer Hefte, damit nichts von ihren Mühen für die Gegenwart oder die Zukunft verloren gehe.“ Zu jenen Wenigen gehörte Labriola. Wenn er behauptete, die Kunst des Schreibens nicht zu verstehen, so sprach er mit der lässigen Ueberlegenheit, die sich die Meister des Stiles erlauben dürfen, wie etwa Lessing geringschätzig von seinen „Schmierereien“ zu sprechen pflegte. Labriolas Schriften scheinen flüchtig und leicht hingeworfen zu sein, aber wie fest und sicher sind sie aufgebaut, wie durchdacht bis ins letzte Wort, und im Inhalt, wie klar und tief!

So glauben wir den deutschen Arbeitern einen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen zunächst die Gedenkschrift Labriolas über das Kommunistische Manifest zugänglich machen. Keiner von ihnen wird sie ohne reichen Nutzen lesen, ohne schärfer und tiefer in das Manifest einzubringen, das jedem klassenbewußten Arbeiter in Fleisch und Blut übergegangen sein sollte, wenn auch leider noch nicht übergegangen ist, eben wegen der Schwierigkeit, die fein Verständnis bietet. Hier kann ihnen Labriola als sicherer Führer dienen, als ein Führer, den es sich wahrlich lohnt, kennen zu lernen.

Und auch um des Willen haben wir seine Schrift übersetzt. Labriola ist dem deutschen Proletariat unbekannt, unbekannter selbst als der deutschen Bourgeoisie. Er selbst hätte darüber am wenigsten geklagt; er wußte wohl, daß, wer so glücklich ist, unter der Fahne des proletarischen Klassenkampfes zu streiten und gleichwohl noch einen anderen Lohn begehrt, damit seinen Lohn dahin hat. Allein, was der Lebende nicht beansprucht hat, das gebührt dem Toten in desto reicherem Maße.

Im Jahre 1904 hat ein Kehlkopfleiden dem Leben Labriolas im Alter von 62 Jahren ein allzu frühes Ziel gesetzt. Er trug die tückische Krankheit mit der stoischen Ruhe des Weisen; eine wenige Tage vor seinem Tode an deutsche Freunde gerichtete Karte, worin er meldete, daß die Schwierigkeit der Nahrungsaufnahme ihn zum Skelett abgemagert habe, trug die unveränderten Züge seiner festen und männlichen Handschrift. Aber in den Jahrbüchern des internationalen Sozialismus wird er fortleben, als der Besten einer von denen, die das Werk von Marx und Engels fortgeführt haben.

Und so mag dies Schriftchen dazu beitragen, dein Bild auch unter den deutschen Arbeitern wach zu halten.

 

Steglitz-Berlin, im November 1909
Franz Mehring

 


Zuletzt aktualisiert am 22.3.2004