Antonio Labriola

 

Zum Gedächtnis
des
Kommunistischen Manifestes

 

Teil II

Die proletarische Bewegung ist in den letzten dreißig Jahren ungeheuer gewachsen. Mitten durch zahllose Schwierigkeiten, durch Fort- und Rückschritte, hat sie allmählich eine politische Form angenommen; ihre Methoden sind ausgearbeitet und stufenweise angewandt worden. Alles das hat nicht die magische Aktion der Lehre bewirkt, wie sie durch die überzeugende Kraft der geschriebenen oder gebrochenen Propaganda verbreitet wurde. Seit den ersten Anfängen hatten die Kommunisten das Gefühl, daß sie die äußerste Linke jeder proletarischen Bewegung seien, aber in dem Maße, wie diese sich entwickelte und spezialisierte, wurde es für sie eine Notwendigkeit und eine Pflicht, durch die Ausarbeitung von Programmen und ihre Teilnahme an der politischen Tätigkeit der Parteien, die veränderlichen Zufälligkeiten der ökonomischen Entwicklung und der von ihr abhängigen politischen Situation auszunützen.

In den fünfzig Jahren, die uns von der Veröffentlichung des Manifestes trennen, ist die Spezialisierung und die verwickelte Zusammensetzung der proletarischen Bewegung so groß geworden, daß es fortan keinen Geist mehr gibt, der fähig wäre, sie in ihrer Gesamtheit zu umfassen und sie in ihren Einzelheiten zu verstehen, der ihre wahren Ursachen und ihre richtigen Beziehungen ergreifen könnte. Die einheitliche Internationale, die von 1864 bis 1873 bestand, mußte verschwinden, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatte, die einleitende Ausgleichung der allgemeinen Tendenzen und der gemeinsamen Ideen, die das ganze Proletariat nicht entbehren kann, und niemand wird beanspruchen können oder beanspruchen, etwas, das ihr gliche, wiederherzustellen

Zwei Ursachen vornehmlich haben stark zu dieser Spezialisierung und Verwicklung der proletarischen Bewegung beigetragen. In vielen Ländern hat die Bourgeoisie das Bedürfnis gefühlt, im Interesse ihrer eigenen Verteidigung einige der Mißbräuche zu beseitigen, die sich aus dem industriellen Systeme ergeben hatten; daher ist die Arbeiterschutzgesetzgebung oder, wie man sie pompös genannt hat, die soziale Gesetzgebung entstanden. Dieselbe Bourgeoisie hat in ihrem eigenen Interesse oder unter dem Drucke der Verhältnisse in vielen Ländern die allgemeinen Bedingungen der Freiheit vermehren, und namentlich das Wahlrecht ausdehnen müssen. Diese beiden Umstände haben das Proletariat in den Kreis der Tagespolitik gezogen, sie haben seine Möglichkeit, sich zu bewegen, beträchtlich vermehrt; die Behendigkeit und die Beweglichkeit, die es so erworben hat, gestatten ihm, mit der Bourgeoisie in den gewählten Versammlungen zu kämpfen. Und wie die Entwicklung der Dinge die Entwicklung der Ideen bestimmt, so hat dieser praktisch vielfältigen Bewegung des Proletariats eine gleiche Entwicklung in den Lehren des kritischen Kommunismus entsprochen, sowohl in der Art, die Geschichte und das tägliche Leben zu verstehen, als auch in der peinlich eingehenden Beschreibung, die er von den innersten Partien der Oekonomie gibt: mit einem Wort, er ist ein System geworden.

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Gibt es da nicht, fragen sich einige, eine Abweichung von der einfachen und gebieterischen Lehre des Manifestes? Was man an Fülle und Umfang gewonnen hat, sagen einige andere, hat man es nicht an Kraft und Schärfe verloren?

Diese Fragen entstehen nach meiner Ansicht aus einer unrichtigen Auffassung der gegenwärtigen proletarischen Bewegung und einer optischen Täuschung über den Grad von revolutionärer Energie und Wucht in den Kundgebungen von ehedem.

Welches immer die Zugeständnisse seien, die die Bourgeoisie in der ökonomischen Ordnung machen kann, und wäre es selbst eine sehr große Verkürzung des Arbeitstages, so bleibt es immer wahr, daß die Notwendigkeit der Ausbeutung, auf der die ganze gegenwärtige soziale Ordnung beruht, Grenzen zieht, über die hinaus das Kapital, als privates Werkzeug der Produktion, nicht gehen kann. Wenn ein Zugeständnis heute im Proletariat eine Art von Beschwerden beschwichtigen kann, so kann das Zugeständnis selbst nur dazu führen, das Bedürfnis nach neuen und immer wachsenden Zugeständnissen zu erwecken. Das Bedürfnis einer Arbeitsgesetzgebung ist in England vor der chartistischen Bewegung entstanden und hat sich dann mit ihr entwickelt; es hatte seine ersten Erfolge in der Periode, die unmittelbar auf den Sturz des Chartismus folgte. Die Prinzipien und die Vernunft dieser gesetzgeberischen Reformbewegung wurden in ihren Ursachen und in ihren Zwecken von Marx im Kapital kritisch gewürdigt, und sie gingen dann, durch die Internationale, in die Programme der verschiedenen sozialistischen Parteien über. Schließlich ist diese ganze Entwicklung, indem sie sich in der Forderung des Achtstundentags zusammenfaßte, mit dem Ersten Mai eine internationale Heerschau des Proletariats geworden, und ein Verfahren, seine Fortschritte abzuschätzen. Auf der anderen Seite demokratisiert der politische Kampf, an dem das Proletariat teilnimmt, seine Sitten; mehr noch, eine wahrhaftige Demokratie entsteht, die sich mit der Zeit nicht mehr in die gegenwärtige politische Form wird schicken können. Organ einer auf der Ausbeutung gegründeten Gesellschaft, wird diese Form gebildet durch eine bureaukratische Hierarchie, durch eine rechtsprechende Bureaukratie und eine Assoziation auf gegenseitige Hilfeleistung unter den Kapitalisten, um die Herrenrechte zu verteidigen, die ewige Rente der öffentlichen Schuld, die Grundrente, kurzum das Interesse des Kapitals in allen seinen Formen. So werden diese beiden Tatsachen, die, nach der Meinung der Unzufriedenen und Ueberkritischen, uns ablenken ins Unendliche der kommunistischen Voraussichten, im Gegenteil neue Mittel und Wege, diese Voraussichten zu bekräftigen. Was anscheinend von der Revolution ableitet, das beschleunigt sie alles in allem.

Zudem darf man nicht die Bedeutung der revolutionären Erwartung übertreiben, die vor fünfzig Jahren von den Kommunisten gehegt wurde. Wenn sie einen Glauben hatten, sowie die politische Situation in Europa gegeben war, so war es der, Vorläufer zu fein, und sie sind es gewesen; – sie hofften, daß die politischen Verfassungen Italiens, Oesterreichs, Ungarns, Deutschlands und Polens sich modernen Formen nähern würden, und das ist später eingetreten, stückweise und auf anderen Wegen. Wenn sie eine Hoffnung hatten, so war es die, daß die proletarische Bewegung Frankreichs und Englands fortfahren würde, sich zu entwickeln. Die Reaktion fegte viele Dinge aus und hielt mehr als eine Entwicklung auf, die schon begonnen hatte. Sie fegte auch die alte revolutionäre Taktik aus, und in den letzten Jahren ist eine neue Taktik entstanden. Das ist der ganze Wechsel.

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Das Manifest hat nichts anderes sein wollen, als der erste Leitfaden einer Wissenschaft und einer Praxis, welche die Erfahrung und die Jahre allein entwickeln konnten. Es gibt nur das Schema und den Rhythmus für den allgemeinen Gang der proletarischen Revolution. Ganz augenscheinlich wurden die Kommunisten durch die Erfahrungen der beiden Bewegungen beeinflußt, die sie unter ihren Augen hatten, die französische und besonders die chartistische, die bald durch die Kundgebung vom 10. April 1848 gelähmt werden sollte. Aber dies Schema legt nicht ein für allemal eine Kampftaktik fest, wie das schon mehrere Male geschehen war. Die Revolutionäre hatten in der Tat oft in Katechismusform auseinandergesetzt, was sich einfach aus der Entwicklung der Dinge ergeben muß.

Dies Schema ist weiter und verwickelter geworden mit der Entwicklung und Ausdehnung des bürgerlichen Systems. Der Rhythmus der Bewegung ist langsamer und mannigfaltiger geworden, weil die Arbeitermasse als besondere politische Partei aufgetreten ist, was Art und Maß der Tätigkeit, und folglich auch die Bewegung ändert.

Ebenso wie vor der Vervollkommnung der Waffen und der anderen Verteidigungsmittel die Taktik der Empörungen unzulässig geworden ist, und ebenso wie die verschlungenen Verhältnisse des modernen Staats ausschließen, von einem durch Ueberraschung eroberten Rathause einem ganzen Volke die Ansichten und den Willen einer, sei es auch mutigen und fortschrittlichen Minderheit aufzuerlegen, ebensowenig hält sich die Masse der Proletarier ihrerseits an das Stichwort einiger Führer und ebensowenig regelt sie ihre Bewegungen nach den Vorschriften von Hauptleuten, die auf den Trümmern einer Regierung eine andere Regierung errichten könnten. Da, wo die Arbeitermasse politisch entwickelt ist, hat sie sich erzogen und erzieht sie sich demokratisch, sie wählt ihre Vertreter und unterwirft deren Tätigkeit ihrer Kritik; sie macht die Ideen und Vorschläge, die diese ihr unterbreiten, nach selbständiger Prüfung zu den ihrigen; sie weiß schon, oder sie beginnt doch, je nach den Ländern, zu verstehen, daß die Eroberung der politischen Macht nicht durch andere in ihrem Namen gemacht werden kann und darf, und besonders, daß diese Eroberung nicht die Folge eines Handstreichs sein kann. Mit einem Worte, sie weiß oder beginnt zu verstehen, daß die Diktatur des Proletariats, die zur Aufgabe haben wird, die Produktionsmittel zu sozialisieren, nicht die Tat einer von einigen Leuten geführten Masse sein kann, sondern daß sie das Werk der Proletarier selbst sein muß und wird, die schon in sich und durch eine lange Praxis eine politische Organisation geworden sind.

Die Entwicklung und die Ausdehnung des bürgerlichen Systems sind in den letzten fünfzig Jahren reißend und ungeheuer gewesen. Es zernagt bereits das alte und heilige Rußland und es schafft, nicht nur in Amerika, Australien und Indien, sondern selbst in Japan neue Zentren moderner Produktion, indem es so die Bedingungen der Konkurrenz und die Verwicklungen des Weltmarktes noch mehr verwirrt. In Folge davon sind politische Veränderungen entstanden oder werden nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ebenso reißend und kolossal sind die Fortschritte des Proletariats gewesen. Seine politische Erziehung macht jeden Tag einen neuen Schritt zur Eroberung der politischen Macht. Die Empörung der Produktivkräfte gegen die Produktionsweise, der Kampf der lebenden Arbeit gegen die aufgehäufte Arbeit wird jeden Tag augenscheinlicher. Das bürgerliche System befindet sich fortan in der Verteidigung und enthüllt seinen Niedergang durch diesen sonderbaren Widerspruch: Die friedliche Welt der Industrie ist ein ungeheures Lager des Militarismus geworden. Die friedliche Periode der Industrie ist, durch die Ironie der Dinge, zugleich die Periode geworden, die ununterbrochen neue Kriegsmaschinen erfindet.

Der Sozialismus hat sich durchgesetzt. Diese Halbsozialisten, selbst diese Charlatane, die mit ihrer Person die Presse und die Versammlungen unserer Partei sperren und uns oft verlegen machen, sind eine Hüldigung, die Eitelkeit und Ehrgeiz aller Art auf ihre Weise der neuen Macht darbringen, die am Horizont aufsteigt. Trotz des frühzeitigen Gegengiftes, das der wissenschaftliche Sozialismus bietet – den viele Leute freilich niemals verstehen lernen – blühen die Pharmazeuten der sozialen Frage, die alle ein besonderes Heilmittel gegen dies oder jenes soziale Leiden haben: Nationalisierung des Grund und Bodens, staatliches Getreidemonopol, demokratische Steuern, Verstaatlichung der Hypotheken, Generalstreik usw. Aber die soziale Demokratie beseitigt alle diese Phantasien, weil das Bewußtsein ihrer Lage die Proletarier zum erschöpfenden Verständnis des Sozialismus führt, sobald sie auf dem politischen Kampfplatze heimlich werden. Sie verstehen nachgerade, daß sie nur auf eine Frage blicken dürfen, auf die Beseitigung des Lohnes; daß es nur eine Gesellschaftsform gibt, welche die Ausrottung der Klassen ermöglicht und selbst notwendig macht; nämlich die Assoziation, die keine Waren produziert, und daß diese Gesellschaftsform nicht mehr der Staat, sondern sein Gegensatz ist, die technische und pädagogische Verwaltung der menschlichen Gesellschaft, die Selbstverwaltung der Arbeit. Zurück mit den Jakobinern, den Heldenriesen von 93 und ihrer Karikatur von 48!

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Soziale Demokratie! – Aber ist das nicht, sagen einige, eine offenbare Abschwächung der kommunistischen Lehre, so wie sie im Manifest niedergelegt ist, mit so entscheidenden und schwingenden Worten?

Es ist hier nicht der Augenblick, daran zu erinnern, daß der Name Sozialdemokratie in Frankreich von 1837 bis 1848 sehr viele Bedeutungen gehabt hat, die dann alle in eine verschwimmende Tendenz zerflossen. Es ist ebensowenig notwendig, zu erklären, wie die Deutschen in diesem Namen die ganze reiche und weite Entwicklung ihres Sozialismus haben zusammenfassen können, von der Episode Lassalles, die heute überwunden und verschlungen ist, bis auf unsere Zeit. Es ist gewiß, daß soziale Demokratie viele Dinge bezeichnen kann, bezeichnet hat und bezeichnet, die weder der kritische Kommunismus, noch der bewußte Weg zur proletarischen Revolution gewesen sind, sind oder sein werden. Es ist auch gewiß, daß der zeitgenössische Sozialismus, selbst in den Ländern, wo er am weitesten entwickelt ist, viele Schlacken mit sich schleppt, deren er sich allmählich auf der Länge seines Weges entledigt; es ist endlich gewiß, daß der breite Name bei sozialen Demokratie vielen ungebetenen Gästen als Schild und Wappen dient. Aber hier kommt es nur darauf an, unsere Aufmerksamkeit auf gewisse Punkte von entscheidender Wichtigkeit zu lichten.

Wir müssen den zweiten Teil des Ausdruckes betonen, um jede Zweideutigkeit zu vermeiden. Demokratisch war die Einrichtung des Kommunistenbundes, demokratisch seine Art, die neue Lehre zu empfangen und zu diskutieren; demokratisch seine Einmischung in die Revolution von 1848 und seine Beteiligung an dem aufständischen Widerstande gegen die verwüstende Reaktion; demokratisch endlich selbst die Form, worin er sich auflöste. In diesem ersten Typus unserer gegenwärtigen Parteien, in dieser ersten Zelle sozusagen, unserer umfassenden, elastischen und sehr entwickelten Organisation, herrschte nicht nur das Bewußtsein der Mission, die Vorläufer zu erfüllen hatten, sondern es bestand auch schon die Art und Form der Assoziation, die allein für die ersten Vorkämpfer der proletarischen Revolution passen. Es war keine Sekte mehr; diese Form war tatsächlich schon überwunden; die unmittelbare und phantastische Herrschaft des Individuums war ausgeschaltet. Vorherrschend war eine Disziplin, die ihre Quelle in der Erfahrung der Notwendigkeit hatte, und in der Lehre, die genau das zurückgestrahlte Bewußtsein dieser Notwendigkeit sein soll. Es war ebenso in der Internationalen, die nur denen autoritativ erschien, die ihre eigene Autorität in ihr nicht vorwiegen lassen konnten. Es muß ebenso sein, und es ist ebenso in den Arbeiterparteien; da, wo dieser Charakter nicht oder noch nicht ausgeprägt ist, erzeugt die proletarische Agitation, noch elementar und verworren, wie sie ist, nur Illusionen und gibt nur einen Vorwand für Intriguen ab. Und wenn dem nicht so ist, dann gibt es eine Gesellschaft, worin der Sektirer sich mit dem Narren und dem Spion drängt; es mag etwa noch die Gesellschaft der Internationalen Brüder Sein, die sich wie ein Schmarotzer an die Internationale heftete und sie diskreditierte: oder auch wohl die Genossenschaft, die als Unternehmung entartet und sich an einen Mächtigen verkauft: eine Arbeiterpartei, die außerhalb der Politik bleibt und die Schwankungen des Marktes studiert, um mit ihrer Streiktaktik in die Windungen der Konkurrenz einzudringen, oder endlich eine Gruppe von Unzufriedenen, zumeist Deklassierten und Kleinbürgern, die sich Spekulationen über den Sozialismus als über eine beliebige Phrase der politischen Mode hingeben. Die soziale Demokratie ist allen diesen Hindernissen auf ihrem Wege begegnet, und sie hat sich davon befreien müssen, ganz wie sie es noch von Zeit zu Zeit tun muß. Die Kunst der Ueberzeugung genügt nicht immer. Am häufigsten mußte und muß man sich vertrösten und abwarten, daß die harte Schule der Enttäuschung als Lehre dient, was sie besser besorgt, als es Vernunftgründe vermögen.

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Alle diese inneren Schwierigkeiten der proletarischen Bewegung, welche die gewissenlos-gerissene Bourgeoisie am häufigsten selbst nährt und ausbeutet, umfassen zu einem beträchtlichen Teile die Geschichte des Sozialismus in den letzten Jahren.

Der Sozialismus hat für seine Entwicklung nicht nur in den allgemeinen Bedingungen der ökonomischen Konkurrenz und in dem Widerstande der politischen Macht Hindernisse gefunden, sondern auch in den Verhältnissen der proletarischen Masse selbst und in dem manchmal dunkeln, obgleich unvermeidlichen Mechanismus ihrer langsamen, veränderlichen, verwickelten, oft gegensätzlichen und widerstreitenden Bewegungen. Das hindert viele Leute, zu erkennen, wie alle Klassenkämpfe in wachsendem Maße auf den einen Kampf zwischen den Kapitalisten und den proletarischen Arbeitern zurückgehen.

So wenig das Manifest nach dem Vorbilde der Utopisten die Ethik und die Psychologie der zukünftigen Gesellschaft geschrieben hatte, so wenig gab es den Mechanismus dieser Gesellschaftsform und der Entwicklung, worin wir uns befinden. Es ist schon sehr viel, daß einige Pioniere den Weg geöffnet haben, den man einschlagen muß, um sie zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden. Zudem ist der Mensch das Versuchstier in erster Reihe; dafür hat er seine Geschichte oder vielmehr, dafür macht er seine eigene Geschichte.

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Auf diesem Wege des zeitgenössischen Sozialismus, der seinen Weg durch die Erfahrung macht, sind wir der Masse der Bauern begegnet.

Der Sozialismus, der sich praktisch und theoretisch zuerst an die Erkenntnis und Prüfung der Gegensätze gemacht hat, die in der eigentlich so genannten industriellen Produktion zwischen Kapitalisten und Proletariern bestehen, hat seine Tätigkeit der Masse zugewandt, in der die „bäuerische Beschränktheit“ blüht. Die Bauern erobern ist die Tagesfrage, obgleich der Quintessenz-Schäffle seit lange die antikollektivistischen Bauernschädel für die Verteidigung der Ordnung mobil gemacht hat. Die Ausschaltung und die Auswucherung der Hausindustrie durch das Kapital, der immer schnellere Uebergang der Landwirtschaft in kapitalistische Betriebe, die Vernichtung oder Verminderung des Kleinbesitzes durch die Hypotheken, das Verschwinden der Gemeindeweiden, der Wucher, die Steuern und der Militarismus, alles das beginnt jetzt Wunder auszuüben an diesen Schädeln, die angeblich die gegenwärtige Ordnung stützen sollen.

Die Deutschen haben zuerst diesen Feldzug unternommen; sie wurden durch die Tatsache ihrer ungeheuren Ausdehnung dazu veranlagt; aus den Städten sind sie zu den kleineren Orten gegangen, und sie gelangten so unvermeidlich an die Grenzen des platten Landes. Die Versuche werden langwierig und schwierig sein; das erklärt, entschuldigt und wird die Irrtümer entschuldigen, die begangen worden sind oder in Zukunft begangen werden. So lange die Bauern nicht gewonnen sein werden, so lange werden wir immer diese „bäuerische Beschränktheit“ hinter uns haben, die unbewußt, und zwar weil sie beschränkt ist, den 18. Brumaire und den 2. Dezember macht oder von neuem versucht.

Die Entwicklung der modernen Gesellschaft in Rußland wird wahrscheinlich in gleichem Schritt mit dieser Eroberung des platten Landes marschieren. Wenn dies Land in die liberale Aera getreten sein wird, mit allen ihren Unvollkommehheiten und Uebelständen, mit allen Formen der rein modernen Ausbeutung und Proletarisation, aber auch mit den Entschädigungen und Vorteilen, welche die politische Entwicklung des Proletariats bietet, dann wird die soziale Demokratie nicht mehr unvorhergesehene Gefahren von außen zu fürchten haben, und sie wird zugleich durch die Eroberung der Bauern über die inneren Gefahren triumphiert haben.

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Das Beispiel Italiens ist lehrreich. Nachdem dies Land die kapitalistische Aera eröffnet hatte, ist es für mehrere Jahrhunderte aus dem Laufe der Geschichte gefallen. Es ist ein typischer Fall von Niedergang, den man in allen seinen Phasen genau und urkundlich studieren kann. Zur Zeit der napoleonischen Herrschaft ist es teilweise wieder in die Geschichte eingetreten. Es hat seine Einheit wiedergewonnen und ist nach der Periode der Reaktion und der Verschwörungen unter den allgemein bekannten Umständen ein moderner Staat geworden. Schließlich besitzt Italien alle Laster des Parlamentarismus, des Militarismus und der modernen Finanzen, ohne gleichzeitig die moderne Produktionsweise und die Möglichkeit der Konkurrenz unter gleichen Bedingungen zu besitzen. Es kann mit den Ländern, wo die Industrie weiter vorgeschritten ist, nicht konkurrieren, wegen absoluten Mangels an Steinkohlen, wegen der Seltenheit des Eisens, wegen Mangels an technischen Fähigkeiten; es erwartet oder hofft jetzt, daß die Anwendung von Elektrizität ihm gestatten wird, die verlorene Zeit wieder einzuholen. Ein moderner Staat, in einer fast ausschließlich ackerbautreibenden Gesellschaft und in einem Lande, wo der Ackerbau zum großen Teile zurückgeblieben ist, nährt dies allgemeine Gefühl allumfassenden Ungemachs.

Daher kommt die Unbeständigkeit und Zusammenhanglosigkeit der Parteien, die reißend schnellen Schwankungen von der Demagogie bis zur Diktatur, das Gedränge, die Menge und die zahllose Armee der politischen Schmarotzer, Projektenmacher und Phantasten. Dies sonderbare soziale Schauspiel einer gehinderten, verzögerten, verschränkten und doch unsicheren Entwicklung wird in einer sehr lebendigen Art aufgeklärt durch einen durchdringenden Geist, der nicht immer der Ausdruck und die Frucht einer modernen, breiten und wahren Kultur ist und doch, als Rest einer tausendjährigen Kultur, das Zeichen eines sehr großen Geistesraffinements trägt. Italien ist aus leicht begreiflichen Gründen niemals ein geeigneter Boden für die ursprüngliche Entstehung sozialistischer Ideen und Tendenzen gewesen. Der Italiener Philipp Buonarotti, zuerst der Freund des jüngeren Robespierre, wird der Gefährte Babeufs uns später versucht er, nach 1830, den Babouvismus in Frankreich wieder herzustellen! Der Sozialismus ist in Italien zuerst zur Zeit der Internationalen erschienen, in der verworrenen und zusammenhanglosen Form des Bakunismus; er war zudem nicht eine Bewegung von Arbeitern, sondern von Kleinbürgern und Revolutionären aus Prinzip. [9] In den letzten Jahren hat der Sozialismus sich in einer Form festgelegt, die beinahe den allgemeinen Typus der sozialen Demokratie widerspiegelt. Nun haben in Italien die Aufstände der sizilischen Bauern, denen andere Revolten derselben Art auf dem Kontinent gefolgt sind oder noch folgen werden, das erste Lebenszeichen des Proletariats gegeben. Ist das nicht sehr bezeichnend?

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Nach diesem Streifzug in die Geschichte des zeitgenössischen Sozialismus, lenkt sich der Gedanke gern zu unseren Vorläufern von vor fünfzig Jahren zurück, die mit dem Manifest einen vorgeschobenen Posten auf dem Wege des Fortschritts besetzten. Und das gilt nicht nur von den Theoretikern, nämlich Marx und Engels. Beide würden immer und unter allen Umständen, vom Katheder oder der Tribüne oder durch ihre Bücher, einen beträchtlichen Einfluß auf die Politik und die Wissenschaft ausgeübt haben, selbst wenn sie auf ihrem Wege nicht dem Bunde der Kommunisten begegnet sein würden; so groß war die Kraft und Ursprünglichkeit ihres Geistes und die Ausdehnung ihrer Kenntnisse. Aber ich will von all den Unbekannten sprechen, um den dünkelhaften und leeren Jargon der bürgerlichen Literatur anzuwenden, von dem Schuhmacher Bauer, dem Schneidern Leßner und Eccarius, dem Miniaturmaler Pfänder, dem Uhrmacher Moll, von Lochner usw., und von so vielen anderen, die zuerst die bewußten Träger unserer Bewegung gewesen sind. Der Ruf: Proletarier aller Länder, vereinigt euch, zeigt ihr Erscheinen an, der Uebergang des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft kennzeichnet das Ergebnis ihrer Arbeit. Das Fortwirken ihres Instinkts und ihres ersten Anstoßes in dem Werke von heute ist der unvergeßliche Anspruch, den diese Vorläufer auf die Dankbarkeit aller Sozialisten erworben haben.

Als Italiener kehre ich um so lieber zu diesen Anfängen der modernen Sozialismus zurück, als, für mich wenigstens, folgende strikte Mahnung von Engels nicht ohne Wichtigkeit ist: „Die Entdeckung, daß überall und immer die politischen Zustände und Ereignisse ihre Erklärung finden in den entsprechenden ökonomischen Zuständen, wurde keineswegs von Marx im Jahre 1845 gemacht, sondern von Herrn Loria 1886. Wenigstens hat er dies seinen Landesleuten und, seit sein Buch französisch erschien, auch einigen Franzosen glücklich aufgebunden und kann jetzt als Autor einer neuen epochemachenden Geschichtstheorie herumstolzieren, bis die dortigen Sozialisten Zeit finden, dem Juristen Loria die gestohlenen, Pfauenfedern herunterzuzupfen.“

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Ich möchte schließen, ober ich muß noch zögern. Von allen Seiten und aus allen Lagern erheben sich Proteste, drängen sich Einwürfe gegen den historischen Materialismus. Und mit diesen Stimmen vereinigen sich auch, von hier und da, die zu neu angekommenen, die philantropischen, die sentimentalen und manchmal hysterischen Sozialisten. Und dann erscheint, wie eine Warnung, die Magenfrage wieder. Andere ergeben sich logischen Fechtübungen über die abstrakten Kategorien des Egoismus und des Altruismus; für andere endlich erscheint immer im günstigen Augenblicke der unvermeidliche Kampf ums Dasein.

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Die Moral! Aber wir haben längst die Moral der bürgerlichen Periode aus der Bienenfabel Mandevilles gelernt, die zugleich mit der Entstehung der klassisschen Oekonomie erschien. Und ist die Politik dieser Moral nicht in klassischen unvergeßlichen Zügen durch den ersten klassischen Schriftsteller des kapitalistischen Zeitalters erläutert worden, durch Macchiavel, der den Macchiavelismus nicht erfunden hat, aber sein fleißiger und treuer Sekretär und Redakteur war? Und das logische Lanzenbrechen zwischen dem Egoismus und Altruismus, haben wir es nicht vor uns. Von dem Geistlichen Malthus bis zu diesem langweiligen und weitschweifigen Schwätzer ins Leere, dem unvermeidlichen Spencer? Kampf ums Dasein! Aber wollt ihr einen solchen beobachten, studieren, verstehen, der für uns wichtiger wäre als der, den die proletarische Agitation erzeugt und in riesenhaftem Umfang uns bietet? Oder wollt ihr vielleicht die Erklärung dieses Kampfes, der Sich auf dem übernatürlichen Gebiete der Gesellschaft abspielt, das der Mensch selbst in der Folge der Zeiten durch die Arbeit, die Technik und die Einrichtungen geschaffen hat und das der Mensch selbst durch andere Formen der Arbeit, der Technik und der Einrichtungen ändern kann, wollt ihr sie einfach auf die Erklärung des allgemeinsten Kampfes beschränken, den die Pflanzen und die Tiere und auch die Menschen, so lange sie nur Tiere sind, im Schoße der Natur kämpfen?

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Aber kehren wir zu unserem Gegenstande zurück!

Der kritische Kommunismus hat sich niemals geweigert und weigert sich nicht, die reiche und vielfältige Anregung, ideologische, ethische, psychologische und pädagogische Anregung anzunehmen, die ihm aus der Kenntnis und dem Studium aller Formen des Kommunismus erwachsen kann, von Phaleas von Chalcedonien bis auf Cabet. Noch mehr: durch das Studium und die Kenntnis dieser Formen entwickelt und befestigt sich das Bewußtsein, wie sich der wissenschaftliche Sozialismus von dem ganzen Reste scheidet. Wer wird bei diesem Studium nicht anerkennen, daß Thomas Morus eine heroische Seele und ein großer Schriftsteller des Sozialismus war? Wer wird in seinem Herzen keinen reichen Zoll der Bewunderung für Robert Owen empfinden, der zuerst der Ethik des Kommunismus dies unanfechtbare Prinzip gab: der Charakter und die Moral der Menschen sind das notwendige Ergebnis der Verhältnisse, worin sie leben, und der Umstände, die sie umgeben? Und die Anhänger des kritischen Kommunismus halten es für ihre Pflicht, indem sie die Geschichte mit dem Gedanken durchlaufen, die Partei aller Unterdrückten zu nehmen, mag auch ihr Geschick fast immer gewesen sein, unterdrückt zu bleiben, und noch einem vorübergehenden Erfolge der Herrschaft neuer Unterdrücker den Weg zu bahnen.

Aber die Anhänger des kritischen Kommunismus unterscheiden sich an einem Punkte unzweideutig von allen anderen Arten oder Formen des alten, modernen ober zeitgenössischen Kommunismus oder Sozialismus, und dieser Punkt ist von entscheidender Wichtigkeit.

Sie können nicht zugeben, daß die vergangenen Ideologien ohne Wirkung geblieben seien, und daß die vergangenen Anläufe des Proletariats immer durch reinen Zufall, durch reines Ungefähr, durch eine Laune der Umstände besiegt worden seien. Obgleich alle diese Ideologien in der Tat soziale Gegensätze, das heißt reelle Klassenkämpfe empfunden haben, mit einem hohen Gerechtigkeitsgefühl und einer tiefen Hingebung an ein Ideal, so offenbaren sie alle ihre Unkenntnis der wahren Ursachen und der tatsächlichen Art der Gegensätze, gegen die sie sich durch eine Tat freiwilliger und oft heldenmütiger Empörung erhoben haben. Daher stammt ihr utopischer Charakter. Wir erklären uns gleichermaßen, weshalb die Unterdrückungszustände anderer Zeitalter, mochten sie selbst barbarischer und grausamer sein, nicht die gehäufte Energie, die gesammelte Kraft und den dauernden Widerstand hervorgerufen haben, die sich in dem Proletariat unserer Zeit verkörpern. Der Wechsel in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, die Bildung des Proletariats im Schoße der großen Industrie und des modernen Staats, das Erscheinen des Proletariats auf der politischen Bühne – das sind in Summa die neuen Tatsachen, die das Bedürfnis nach neuen Ideen erzeugt haben. So ist der kritische Kommunismus weder Moralist, noch Prediger, noch Ankläger, noch Utopist; – er hält schon die Sache in seinen Händen, und in die Sache selbst hat er seine Moral und seinen Idealismus gelegt.

Diese Erklärung, die den Sentimentalen zu hart erscheint, weil sie zu wahr und zu wirklich ist, gestattet uns rückschreitend die Geschichte des Proletariats zu schreiben und der anderen Unterdrückten, die ihm vorangegangen sind. Wir sehen ihre verschiedenen Phasen; wir machen uns den Mißerfolg des Chartismus und der Verschwörung der Gleichen klar, und wir gehen noch weiter zurück, zu den Erhebungen des Aufstandes und des Widerstandes, zu den Kriegen, zu dem berühmten Bauernkriege in Deutschland und zur Jacquerie und zu Fra Dolcino. In allen diesen Taten und allen diesen Ereignissen werden wir Formen und Phänomene entdecken, die sich auf das Werden der Bourgeoisie beziehen, wie sie das feudale System zerriß und umstürzte, darüber triumphierte und daraus hervorging. Wir können es ebenso mit den Klassenkämpfen der alten Welt machen, jedoch mit geringerer Klarheit. Diese Geschichte des Proletariats und der anderen unterdrückten Klassen, ihrer wechselnden Kämpfe und Revolten gibt uns schon ein genügendes Verständnis dafür, weshalb die Ideologien des Kommunismus in anderen Zeitaltern verfrüht gewesen sind.

Wenn die Bourgeoisie noch nicht überall an die Grenze ihrer Entwicklung gelangt ist, so ist sie bestimmt, in gewissen Ländern, auf ihrem Gipfel angekommen. In den vorgeschrittensten Ländern unterwirft sie in der Tat die verschiedenen älteren Produktionsformen, sei es mittelbar oder unmittelbar, der Aktion und dem Gesetze des Kapitals. Und so vereinfacht sie, oder strebt doch nach dieser Vereinfachung, die verschiedenen Klassenkämpfe von ehemals, die sich damals durch ihre vielfache Anzahl ausschlossen, in den einen Kampf zwischen dem Kapital, das alle zum Leben notwendigen Produkte der menschlichen Arbeit in Waren verwandelt, und der proletarisierten Masse, die ihre selbst zur einfachen Ware gewordene Arbeitskraft verkauft. Das Geheimnis der Geschichte ist vereinfacht. Es ist ganz prosaisch. Und ebenso wie der gegenwärtige Klassenkampf die Vereinfachung aller anderen ist, ebenso vereinfacht das Manifest in theoretisch klaren und allgemeinen Formen die ideologische, ethische, psychologische und pädagogische Anregung der anderen Formen des Kommunismus, nicht indem es sie leugnet, sondern indem es sie höher hebt. Alles ist prosaisch und der Kommunismus selbst nimmt Teil daran: er ist jetzt eine Wissenschaft. Auch gibt es im Manifest weder Rhetorik, noch Proteste. Es lamentiert nicht über den Pauperismus, um ihn zu beseitigen. Es vergießt keine Träne um nichts. Die Tränen der Dinge haben sich von selbst in freiwillig zurückfordernde Kraft verwandelt. Die Ethik und der Idealismus bestehen fortan darin, den wissenschaftlichen Gedanken in den Dienst des Proletariats zu stellen. Wenn diese Ethik den Sentimentalen, die meist einfältig und hysterisch sind, nicht moralisch genug erscheint, so mögen sie bei dem Hohenpriester Spencer eine Anleihe von Altruismus machen. Er wird ihnen dessen abgeschmackte und zerfließende Definition geben: mögen sie sich daran genügen lassen!

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Aber dann wird der ökonomische Faktor allein dazu dienen müssen, um die ganze Geschichte zu erklären?

Historische Faktoren! Das ist ein Ausdruck von Empiristen oder Ideologen, die ihren Herder wiederholen. Die Gesellschaft ist ein verwickeltes Ganzes, oder ein Organismus, nach dem Ausdruck einiger, die ihre Zeit damit verlieren, über den Wert und die analoge Anwendung dieses Ausdrucks zu streiten. Dieser Komplex hat sich gebildet und hat mehrere Male gewechselt. Was ist nun die Erklärung dieses Wechsels?

Schon lange ehe Feuerbach der theologischen Erklärung der Geschichte den Todesstoß gab (der Mensch macht die Religion, und nicht die Religion den Menschen), hatte der alte Balzac, der Balzac des 17. Jahrhunderts, ihre Satire geschrieben, indem er aus den Menschen die Marionetten Gottes machte. Und hatte nicht Vico schon anerkannt, daß die Vorsehung in der Geschichte nicht von außen her handle? Und hatte nicht dieser selbe Vico, ein Jahrhundert vor Morgan, die Geschichte auf eine Entwicklung zurückgeführt, die der Mensch selbst durch eine allmähliche Erfahrung macht, durch die Erfindung der Sprache, der Religionen, der Sitten und des Rechts? Hatte nicht Lessing bekräftigt, daß die Geschichte eine Erziehung des Menschengeschlechts sei? Hatte Jean-Jacques nicht gesehen, daß die Ideen aus den Bedürfnissen entspringen? Hatte nicht Saint-Simon, wenn er sich nicht in die Unterscheidung der organischen und unorganischen Epochen verlor, die wirkliche Entstehungsgeschichte des dritten Standes erkannt, und machten seine in Prosa übersetzten Ideen nicht aus Augustin Thierry einen Erneuerer der historischen Studien?

In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und namentlich in der Periode von 1830 bis 1850 waren die Klassenkämpfe, welche die antiken Historiker und die italienischen Historiker zur Zeit der Renaissance so klar beschrieben hatten, belehrt durch die Erfahrung dieser Kämpfe in dem engen Bezirk ihrer städtischen Republik, gewaltig gewachsen und hatten auf beiden Seiten des Kanals immer größeren Umfang und ein immer handgreiflicheres Dasein gewonnen. In der Mitte der großen Industrie geboren, erleuchtet durch die Erinnerung und das Studium der großen Revolution, wurden sie anschaulich und lehrreich, weil sie in den Programmen der politischen Parteien mit mehr oder weniger Klarheit und Bewußtsein ihren anregenden und gegenwärtigen Ausdruck fanden: Freihandel oder Kornzoll in England usw. Die Geschichtsauffassung wechselte sichtbarlich in Frankreich, auf dem rechten wie auf dem linken Flügel der literarischen Parteien, von Guizot bis Louis Blanc und bis zum bescheidenen Cabet. Die Soziologie war das Bedürfnis der Zeit, und wenn sie ihren theoretischen Ausdruck vergebens in August Comte suchte, einem verspäteten Scholastiker, so fand sie ihren Künstler in Balzac, der in Wahrheit die Psychologie der Klassen gefunden hat. in die Klassen und ihre Reibungen den wirklichen Gegenstand der Geschichte, und die Bewegung dieser in die Bewegung jener zu setzen, das war man im Zuge zu suchen und zu finden, und die Theorie von alledem mußte in genauen Ausdrücken festgestellt werden.

Der Mensch hat seine Geschichte weder in bildlicher Entwicklung gemacht, noch um auf der Linie eines vorher beschlossenen Fortschrittes zu marschieren. Er hat sie gemacht, indem er sich seine eigenen Bedingungen schuf, das heißt, indem er sich durch seine Arbeit eine künstliche Umwelt schuf, indem er nach und nach seine technischen Fertigkeiten entwickelte und indem er die Früchte seiner Tätigkeit in dieser neuen Umwelt aufhäufte und umbildete. Wir haben nur eine einzige Geschichte, und wir können der wirklichen Geschichte, die sich tatsächlich abgespielt hat, nicht von einer anderen nur möglichen Geschichte näher kommen. Wo die Gesetze dieser Bildung und Entwicklung finden? Die sehr alten Bildungen sind nicht auf den ersten Blick durchsichtig. Aber die bürgerliche Gesellschaft, da sie frisch geboren ist und noch nicht einmal in allen Teilen Europas ihre volle Entwicklung gefunden hat, trägt die Keimspuren ihres Ursprungs und ihres Fortschritts an sich, uns setzt sie in volles Licht in den Ländern, wo sie eben erst unter unseren Augen entsteht, wie in Japan. Insoweit diese Gesellschaft alle Produkte menschlicher Arbeit mit Hilfe des Kapitals in Waren verwandelt, das Proletariat voraussetzt oder es schafft und in sich die Unruhe, die Verwirrung, die Unsicherheit beständiger Neuerungen trägt, ist sie in bestimmten Zeiten, nach klaren und aufzeigbaren, obgleich veränderlichen Weisen entstanden. In der Tat hat sie in den verschiedenen Ländern verschiedene Entwicklungsarten: in Italien z.B. beginnt sie zu allererst uns hört dann auf, in England ist sie das Produkt dreier Jahrhunderte, in denen die alten Produktionsformen oder, um mit den Juristen zu sprechen, die alten Eigentumsformen ökonomisch vernichtet wurden. In manchem Lande arbeitet sie sich allmählich heraus, indem sie sich mit den vor ihr bestehenden Kräften verbindet, wie in Deutschland, und durch Anpassung erleidet Sie deren Einfluß; in manch anderem Lande zerbricht sie heftig die Hülle und die Kräfte des Widerstandes, wie in Frankreich, wo die große Revolution uns das kräftigste und schwindelerregendste Beispiel der historischen Aktion gibt, das man kennt, und richtet so die größte Schule der Soziologie ein.

Wie ich schon hervorgehoben habe, ist diese Bildung der modernen oder bürgerlichen Geschichte mit lehrreichen und schnellen Zügen im Manifest gegeben worden, das ihr allgemeines anatomisches Profil in seinen aufeinanderfolgenden Ansichten gegeben hat: die Zunft, den Handel, die Manufaktur und die große Industrie, und so auch die Aufzählung ihrer abgeleiteten und verwickelten Organe und Werkzeuge; das Recht, die politischen Formen usw. Die Elemente der Theorie, welche die Geschichte durch das Prinzip des Klassenkampfes erklären soll, waren darin schon mittelbar enthalten.

Diese selbe bürgerliche Gesellschaft, die die früheren Produktionsformen revolutionierte, hatte sich selbst und ihre Entwicklung beleuchtet, indem sie die Lehre ihres Baues schuf, die Oekonomie. Sie hat sich in der Tat nicht in der Unbewußtheit entwickelt, die den ursprünglichen Gesellschaften eigen war, sondern im vollen Lichte der modernen Welt, von der Renaissance an.

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Wie man weiß, entstand die Oekonomie in ihrem Ursprunge bruchstückweise, mit der ersten Bourgeoisie, die Handel trieb und große geographische Entdeckungen machte, das will sagen, mit der ersten und zweiten Phase des Merkantilismus. Und sie entstand, um auf spezielle Fragen zu antworten, zum Beispiel: – Ist der Nutzen berechtigt? Ist es vorteilhaft für die Staaten und die Nationen, Reichtümer aufzuhäufen? Sie wuchs dann und beschäftigte sich mit den verwickeltsten Seiten, die das Problem des Reichtums bot, und sie entwickelte sich in dem Uebergange vom Merkantilismus zur Manufaktur und dann reißender und rücksichtsloser noch im Uebergange von dieser zur großen Industrie. Sie wurde die geistige Seele der Bourgeoisie, welche die Gesellschaft erobern sollte. Sie hatte fast schon, als Wissenschaft, ihre großen allgemeinen Linien am Vorabend der großen Revolution gezogen; sie würde das Signal der Empörung gegen die alten Formen der Feudalität, der Zunft, des Vorrechts, der Arbeitsbeschränkungen; mit einem Worte, sie wurde das Signal der Freiheit. In der Tat war das Naturrecht, das sich von den Vorläufern des Grotius bis auf Rousseau, Kant und die Konstitution von 93 entwickelte, nichts anderes, als die Verdoppelung und die ideologische Ergänzung der Oekonomie, bis zu dem Grabe, daß oft die Sache und ihre Ergänzung im Geiste und in den Forderungen der Schriftsteller zusammenfallen, wie wir ein typisches Beispiel dafür bei den Physiokraten gehabt haben.

Als Lehre trennte, unterschied, untersuchte sie die Elemente und die Formen der Entwicklung in der Produktion, der Zirkulation und der Distribution, indem sie das Ganze auf Kategorien zurückführte: Geld, Geldkapital, Zinsen, Profit, Grundrente, Lohn usw. Sicher ihrer selbst uns ihre Untersuchungen häufend, marschierte sie von Petty zu Ricardo. Alleinige Herrin des Terrains, reizte sie nur zu seltenen Einwürfen. Sie ging von zwei Behauptungen aus, die sie sich nicht einmal die Mühe gab, zu beweisen, so selbstverständlich erschienen sie ihr: daß die soziale Ordnung, die sie erklärte, die natürliche Ordnung sei und daß das Privateigentum an den Produktionsmitteln eins sei mit der menschlichen Freiheit, woraus sich das Lohnsystem und die Minderwertigkeit der Lohnarbeiter notwendig ergab. Mit anderen Worten, sie erkannte nicht den historischen Charakter der Formen, die sie studierte. Die Gegensätze, auf die sie bei ihrem, mehrmals vergebens, unternommenen Versuche der Schematisierung stieß, versuchte sie auf logischem Wege zu beseitigen, wie z.B. Ricardo in seinem Kampfe gegen die Grundrente.

Am Beginne des Jahrhunderts brechen mit Heftigkeit die Krisen und die ersten Arbeiterbewegungen aus, die ihren unmittelbaren Ursprung in einer starken Arbeitslosigkeit haben. Das Ideal der natürlichen Ordnung ist umgestürzt! Der Reichtum hat das Elend erzeugt! Indem die große Industrie alle sozialen Beziehungen umwälzte, hat sie die Laster, die Krankheiten, die Untertänigkeit vermehrt; sie ist, mit einem Worte, eine Quelle der Entartung. Der Fortschritt hat den Rückschritt erzeugt. Was tun, damit der Fortschritt nur den Fortschritt erzeuge, das heißt, im gleichen Maße für alle das Gedeihen, die Gesundheit, die Sicherheit, die Erziehung und die geistige Entwickelung? In dieser Frage ist der ganze Owen enthalten, der mit Fourier und Saint-Simon darin übereinstimmt, daß sie nicht mehr an die Entsagung und die Religion appellieren, sondern die sozialen Gegensätze auslösen und überwinden wollen, ohne die technische und industrielle Energie des Menschen zu Schwächen, ja sie noch stärkend. Auf diesem Wege ist Owen zum Kommunisten geworden, und er ist der erste, der es in einer Umgebung wurde, die von der modernen Industrie geschaffen war. Der Gegensatz ist ganz in dem Widersprüche zwischen der Produktions- und der Distributionsweise enthalten. Dieser Gegensatz muß also in einer Gesellschaft, die kollektiv produziert, unterdrückt werden. Owen wird Utopist. Er will die vollkommene Gesellschaft auf dem Wege des Versuchs herstellen, und er widmet sich der Aufgabe mit einer heroischen Ausdauer und einer beispiellosen Entsagung, indem er seine Vorschläge im einzelnen selbst mit mathematischer Genauigkeit ausarbeitet.

Nachdem der Gegensatz zwischen Produktion und Distribution einmal entdeckt war, fanden sich in England, von Thompson bis Bray, eine Reihe von Schriftstellern, deren Sozialismus nicht im strengen Sinne utopistisch, aber einseitig war, weil er sich das Ziel steckte, die enthüllten und angezeigten Fehler der Gesellschaft durch ebensoviele ihnen angepaßte Heilmittel zu beseitigen. In der Tat ist der erste Schritt aller derer, die sich auf der Straße des Sozialismus befinden, die Entdeckung des Widerspruchs zwischen Produktion und Distribution. Dann erheben sich unverweilt die harmlosen Fragen: Warum nicht die Armut vernichten? Warum nicht die Arbeitslosigkeit beseitigen? Warum nicht das Zwischending des Geldes unterdrücken? Warum nicht den direkten Austausch der Produkte fördern, auf Grund der Arbeit, die sie enthalten? Warum nicht dem Arbeiter das ganze Produkt seiner Arbeit geben? Und so weiter. Diese Fragen führen die widerstrebenden und zähen Dinge des wirklichen Lebens auf ebensoviele Vernünftgründe zurück, und sie bekämpfen das kapitalistische Regiment, als ob es eine Maschine wäre, der man Stücke, Räder und Triebwerke wegnehmen oder zufügen könne. Die Anhänger des kritischen Kommunismus haben endgültig mit allen diesen Tendenzen gebrochen. Sie haben die klassische Oekonomie als ihre Nachfolger fortgesetzt, als die Lehre vom Bau der gegenwärtigen Gesellschaft. Niemand kann diesen Bau praktisch, politisch, revolutionär bekämpfen, ohne sich vorher eine genaue Rechnung seiner Beziehungen und Elemente zu machen, indem er gründlich die Lehre studiert, die ihn erklärt. Diese Beziehungen, Elemente und Formen entstehen unter bestimmten historischen Bedingungen, oder sie bilden ein System und eine Notwendigkeit. Wie kann man hoffen, ein solches System durch eine logische Verneinung zu zerstören oder es durch Vernunftgründe zu beseitigen? Den Pauperismus ausrotten? Aber er ist eine notwendige Bedingung des Kapitalismus. Dem Arbeiter das ganze Produkt seiner Arbeit geben? Aber was sollte dann aus dem Profit des Kapitals werden? Und wo und wie könnte das für den Kauf von Waren ausgelegte Geld sich vermehren, wenn unter allen Waren, auf die es trifft und mit denen es sich austauscht, sich nicht gerade eine befände, die dem, der sie gekauft hat, mehr einbringt, als sie ihm gekostet hat: und ist diese Ware nicht gerade die gelohnte Arbeitskraft? Das ökonomische System ist kein Gewebe von Vernünftgründen, sondern ein zusammenhängender Komplex von Tatsachen, der ein verwickeltes Gewebe von Beziehungen erzeugt. Es ist töricht, zu glauben, daß dies System von Tatsachen, das die herrschende Klasse mit großer Mühe, Jahrhunderte lang, durch Gewalt, List, Talent und Wissenschaft eingerichtet hat, abdanken und sich selbst zerstören werde, um den Ansprüchen der Armen, die ihre Rechte wiederfordern, und den Vernunftgründen ihrer Fürsprecher Platz zu machen. Wie kann man die Unterdrückung des Elends fordern, ohne den Umsturz des ganzen Restes zu fordern? Es heißt, eine abgeschmackte Forderung stellen, wenn man von dieser Gesellschaft beansprucht, das Recht zu wechseln, wodurch sie sich verteidigt. Es heißt im Mangel an Logik ertrinken, wenn man vom Staate beansprucht, daß er aufhören solle, der Verteidigende Schild dieser Gesellschaft und dieses Rechts zu sein. [10] Der einseitige Sozialismus, der, ohne gerade utopistisch zu sein, von der Annahme ausgeht, daß die Gesellschaft die Verbesserung einzelner Fehler zulasse ohne Revolution, daß heißt, ohne gründliche Umwandlung in dem allgemeinen und elementaren Bau der Gesellschaft selbst, ist nur eine harmlose Einbildung. Der Widerspruch mit den strengen Gesetzen der tatsächlichen Entwicklung zeigt sich in ganzer Klarheit bei Proudhon, der einige jener einseitigen Sozialisten in England wissentlich ober unwissentlich nachahmte und die Geschichte aufhalten und ändern wollte, durch eine Definition und bewaffnet mit einem schulgerechten Vernunftschluß.

Die Anhänger des kritischen Kommunismus erkannten der Geschichte das Recht zu, ihren Beruf zu verfolgen. Die bürgerliche Periode kann überschritten, und sie wird überschritten werden. Aber solange sie existiert, hat sie ihre Gesetze. Die Bedingtheit der Gesetze besteht darin, daß sie sich unter bestimmten Bedingungen bilden und entwickeln, jedoch die Bedingtheit ist nicht einfach das Gegenteil der Notwendigkeit, kein bloßer Schein, keine Seifenblase. Diese Gesetze können verschwinden, und sie werden verschwinden, sobald sich tatsächlich der Wechsel der Gesellschaft vollzieht. Aber sie weichen nicht der willkürlichen Anregung, die eine Verbesserung fordert, eine Reform verkündet oder einen Plan entwirft. Der Kommunismus macht gemeinsame Sache mit dem Proletariat, weil nur in diesem die revolutionäre Kraft beruht, welche die gegenwärtige soziale Form zerbricht, zerschlägt, erschüttert und auflöst und in ihr allmählich neue Verhältnisse schafft, oder um genauer zu sein, die Tatsache seiner Bewegung selbst zeigt uns, daß diese neuen Verhältnisse bereits entstehen.

Die Theorie des Klassenkampfes war gefunden. Man sah ihn in den Ursprüngen der Bourgeoisie erscheinen, deren innere Entwicklung schon durch die Wissenschaft der Oekonomie erklärt worden war, und in dieser neuen Erscheinung des Proletariats. Die Bedingtheit der ökonomischen Gesetze war entdeckt, aber zugleich verstand man ihre bedingte Notwendigkeit. Hierin besteht die ganze Methode und Vernunft der neuen Geschichtsauffassung. Diejenigen täuschen sich, die mit der Berufung auf die ökonomische Auslegung der Geschichte alles zu verstehen glauben. Diese Berufung paßt besser und ausschließlich auf gewisse analytische Versuche, die, getrennt voneinander, auf der einen Seiten die ökonomischen Formen und Kategorien, auf der anderen zum Beispiel das Recht, die Gesetzgebung, die Politik, die Sitten untersuchen und dann die wechselseitigen Einflüsse der verschiedenen, in abstrakter Weise betrachteten Seiten des Lebens aufeinander studieren. Ganz anders ist unsere Stellung. Wir stehen einer organischen Auffassung der Geschichte gegenüber. Vor unserem Geiste steht das Ganze des einheitlichen sozialen Lebens. Die Oekonomie selbst löst sich in dem Laufe einer Entwicklung auf, um in ebensovielen morphologischen Stadien zu erscheinen, in deren jedem sie als Unterbau für alles übrige dient. Es handelt sich, alles in allem, nicht darum, den sogenannten ökonomischen Faktor, in abstrakter Weise isoliert, auf den ganzen Rest auszudehnen, wie es sich unsere Gegner einbilden, sondern es handelt sich vor allem darum, die Oekonomie historisch zu verstehen und durch ihre Aenderungen die anderen Aenderungen zu erklären. Das ist die Antwort auf alle die Kritiken, die uns von allen Gebieten der gelehrten Unwissenheit kommen, mit Einschluß der ungenügend unterrichteten, sentimentalen und hysterischen Sozialisten. Und so erklären wir uns, weshalb Marx im Kapital nicht das erste Buch des kritischen Kommunismus, sondern das letzte große Werk der bürgerlichen Oekonomie geschrieben hat.

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Als das Manifest geschrieben wurde, ging der historische Horizont nicht über die antike Welt, die germanischen Altertümer, die kaum erst studiert waren, und über die biblische Ueberlieferung hinaus, die man seit kurzem auf die profanen Bedingungen aller Geschichte zurückgeführt hatte. Unser historischer Horizont ist jetzt ganz anders, weil er bis auf die arischen Altertümer zurückgeht, auf die sehr alte Gesellschaftsform Egyptens und Mesopotamiens, die allen semitischen Traditionen vorhergehen. Und man geht noch weiter zurück in die Prähistorie, das heißt in die ungeschriebene Geschichte. Morgan hat uns die Kenntnis der alten, will sagen vorpolitischen Gesellschaft gegeben, und den Schlüssel des Verständnisses dafür, wie von daher alle späteren Gesellschaftsbildungen ausgegangen sind, die Einehe, die Entwicklung der väterlichen Familie, das Eigentum erst der Gens, dann der Familie, endlich des Individuums, die allmählichen Bündnisse zwischen den Gentes, aus denen der Staat hervorging. Alles das wird beleuchtet durch die Kenntnis der technischen Entwicklung in der Erfindung und Anwendung der Arbeitsmittel und Arbeitswerkzeuge, und der Einsicht in die Aktion, die diese Entwicklung auf den sozialen Komplex ausübt, indem sie ihn in gewisser Richtung vorwärts treibt und ihn gewisse Stadien durchlaufen läßt. Diese Entdeckungen können an gewissen Punkten verbessert werden, namentlich durch

das Studium der verschiedenen spezifischen Formen, nach denen sich in den verschiedenen Teilen der Welt der Uebergang von der Barbarei zur Zivilisation vollzogen hat. Aber von nun an ist es eine unbestreitbare Tatsache, daß wir den allgemeinen Entwicklungsgang des menschlichen Geschlechtes unter den Augen haben, vom ursprünglichen Kommunismus bis zu den verwickelten Bildungen, beispielsweise in Athen und Rom, mit ihren die Bürger nach dem Zensus in Klassen teilenden Verfassungen, die bis vor kurzem die Säulen des Herkules für die historischen Studien in der geschriebenen Ueberlieferung bildeten. Die Klassen, die das Manifest voraussetzte, sind fortan in ihren Bildungsprozeß aufgelöst, und in diesem erkennt man schon das Schema der verschiedenen ökonomischen Gründe und Ursachen wieder, die in unserer bürgerlichen Periode die Kategorien der ökonomischen Wissenschaft bilden. Der Traum Fouriers, die Epoche der Zivilisation in die Reihe einer langen und weiten Entwicklung eintreten zu sehen, hat sich verwirklicht. Man hat wissenschaftlich die Frage gelöst, wie die Ungleichheit unter den Menschen entstanden ist, eine Frage, die Jean Jacques Rousseau durch Gründe einer originalen Dialektik, aber mit einer zu geringen Zahl tatsächlicher Anhaltspunkte zu beantworten versucht hatte.

In zwei Punkten, den äußersten Punkten für uns, ist die menschliche Entwicklung handgreiflich: in den Ursprüngen der Bourgeoisie, die noch so frisch sind und von der Wissenschaft der Oekonomie erleuchtet werden, und in der alten Form der in Klassen geteilten Gesellschaft, um mit Morgan zu sprechen, in dem Uebergange von der höheren Stufe der Barbarei zur Zivilisation (die Epoche des Staats). Alles, was zwischen diesen beiden Perioden liegt, ist das, womit sich bisher die Chronikenschreiber und die eigentlich so genannten Historiker, die Juristen, die Theologen und die Philosophen beschäftigt haben. Dies ganze Gebiet mit der neuen Geschichtsauffassung zu durchgehen und wieder aufleben zu lassen, ist keine leichte Sache. Man darf sich nicht überhasten und an schematischer Auffassung kleben. Vor allen Dingen muß man die Oekonomie kennen, die jeder historischen Periode eigentümlich war [11], um genau die Klassen zu unterscheiden, die sich in ihr entwickeln; man muß unsichere Hypothesen vermeiden und sich hüten, unsere eigenen Verhältnisse in jede dieser Epochen zu übertragen. Für diesen Zweck sind Phalangen von Arbeitern nötig. So gilt zum Beispiel nicht allgemein, was das Manifest über den ganzen ersten Ursprung der Bourgeoisie sagt, die aus den Sklaven des Mittelalters hervorgegangen sei und sich allmählich in den Städten gesammelt habe. Diese Art der Entstehung gilt für Deutschland und die anderen Länder, die eine ähnliche Entwicklung gehabt haben. Nicht so war es in Italien oder in Südfrankreich oder in Spanien, den Gebieten, wo die erste Geschichte der Bourgeoisie, das will sagen der modernen Zivilisation begonnen hat. In dieser ersten Phase findet man alle Voraussetzungen der ganzen kapitalistischen Gesellschaft wieder, worauf Marx in einer Note zum ersten Bande des Kapitals hinweist. Diese erste Phase, die ihre vollkommene Form in der italienischen Kommune findet, bildet die Vorgeschichte der kapitalistischen Akkumulation, die Marx mit so vielen bezeichnenden Einzelheiten in der englischen Entwicklung nachgewiesen hat. Aber hier will ich aufhören.

Die Proletarier können nur die Zukunft im Auge haben. Vor allem beschäftigt die wissenschaftlichen Sozialisten die Gegenwart, in der sich die Verhältnisse der Zukunft von selbst entwickeln und heranreifen. Die Kenntnis der Vergangenheit ist praktisch nur in dem Maße interessant und nützlich, worin sie die Erklärung der Gegenwart fördert und stärkt. Für den Augenblick genügt es, daß die Anhänger des kritischen Kommunismus schon seit fünfzig Jahren die Elemente der neuen und endgültigen Geschichtsphilosophie erfaßt haben. Bald wird sich diese Art zu denken durchsetzen, weil es unmöglich geworden sein wird, das Gegenteil zu denken: es wird mit dieser Entdeckung dann gehen, wie mit dem Ei des Kolumbus. Vielleicht werden, ehe noch ein Heer von Gelehrten diese Auffassung auf die fortlaufende Darstellung der ganzen Geschichte angewandt hat, die Erfolge des Proletariats so groß geworden sein, daß die bürgerliche Epoche allen als überwunden gelten wird, weil sie auf dem Punkte stehen wird, überwunden zu werden. Verstehen, heißt überwinden (Hegel).

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Als das Manifest vor fünfzig Jahren die Proletarier aus Unglücklichen, mit denen man Mitleid hat, zu berufenen Totengräbern der Bourgeoisie machte, mußte der Umfang dieses Kirchhofs sehr klein erscheinen, in der Vorstellung der Schriftsteller, die in der Wucht des Stils den Idealismus ihrer intellektuellen Leidenschaft schlecht verbargen. Der Umfang, der ihnen wahrscheinlich erscheinen mochte, umfaßte damals nur Frankreich und England; er würde kaum die Grenzen der anderen Länder, zum Beispiel Deutschlands, berührt haben. Heute erscheint uns dieser Umfang ungeheuer, durch die gewaltige und reißende Ausdehnung der bürgerlichen Produktionsweise, die im Gegenschlage die proletarische Bewegung erweitert, verallgemeinert und vervielfältigt und den Schauplatz, auf den sich die Anwartschaft des Kommunismus richtet, ins Ungeheure ausbreitet. Der Kirchhof reckt sich unabsehbar aus. Je mehr Produktivkräfte der Magier erweckt, um so mehr Kräfte der Empörung reizt und rüstet er gegen sich.

Alle ideologischen, religiösen und utopistischen, oder selbst prophetischen und mystischen Kommunisten haben in der Vergangenheit immer geglaubt, das Reich der Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Glücks müßte die Welt zur Bühne haben. Heute wird die Welt durch die Zivilisation verwüstet und überall entwickelt sich die Gesellschaft, die auf den Klassengegensätzen und der Klassenherrschaft, will sagen, der bürgerlichen Produktionsweise beruht. (Japan kann uns als Beispiel dienen.) Das gleichzeitige Dasein zweier Nationen in einem und denselben Staat, das schon der göttliche Plato erkannt hatte, verewigt sich. Die Erde wird nicht schon von morgen ab für den Kommunismus erobert sein. Aber je breiter die Grenzen der bürgerlichen Welt werden, um so zahlreichere Massen strömen hinein, indem sie die niederen Produktionsformen überschreiten; – und so klärt und stärkt sich die Erwartung des Kommunismus: vorzüglich weil sich auf dem Gebiete und im Kampfe der Konkurrenz die Irrungen der Eroberung und der Kolonisation vermindern. Die Internationale der Proletarier, die der Bund der Kommunisten vor fünfzig Jahren noch im Keime enthält, wird fortan interozeanisch, und sie bekräftigt an jedem ersten Mai, daß die Proletarier der ganzen Welt tatsächlich und tätig vereinigt sind. Die nahen ober zukünftigen Totengräber der Bourgeoisie, ihre Nachfahren und ihre Urenkel werden sich ohne Aufhören an den Tag erinnern, wo das Manifest der Kommunisten entstand.

Rom, 7. April 1895

 

 

Notes

9. Anders war es in Deutschland. Nach 1830 wurde der Sozialismus dort eingeführt; er wurde eine literarische Strömung und erlitt die philosophischen Aenderungen, deren Hauptvertreter Grün war. Aber schon vor der neuen Lehre hatte der Sozialismus ein chrakteristisches proletarisches Gepräge durch die Propaganda und die Schriften Weitlings erhalten. Es war der Riese in der Wiege, wie Marx im Vorwärts von 1844 sagte

10. So ist namentlich in Preußen die Illusion einer sozialen Monarchie entstanden, die, über die liberale Periode hinaus, harmonisch die sogenannte soziale Frage lösen würde. Diese Albernheit ist in zahllosen Spielarten von Katheder- und Staatssozialismus reproduziert worden. Zu den verschiedenen Formen von ideologischem und religiösem Utopismus hat sich eine neue Form gesellt; die bureaukratische und fiskalische Utopie, die Utopie der Kretins.

11. Wer hätte vor wenigen Jahren an die Entdeckung und die zuverlässige Erklärung eines alten babylonischen Rechtes geglaubt?

 


Zuletzt aktualisiert am 22.3.2004