Paul Lafargue

 

Hochzeitslieder und -bräuche

(Teil 1)

 

IV

Der bretonische Bauer sandte, wenn er ein Mädchen heiraten wollte, einen Bazvalan, einen Liebesboten, zu ihrer Familie. Dieser Bote war in der Regel ein Schneider, da diese früher den Ruf hatten, eine Sprache zu führen, die ebenso fein sei, wie ihre Nadel. Die Wilden Mexicos verwendeten zu dem selben Geschäft alte Frauen. [53] Der bretonische Brautwerber mußte, wie Monsieur de La Villemarque erzählt, eine große Beredsamkeit mit einem Vorrat von Witz und unerschöpflicher Heiterkeit verbinden; er mußte imstande sein, alle guten Eigenschaften seines Klienten ins beste Licht zu rücken und mußte genau angeben können, wie viele Pferde, Hornvieh und Scheffeln Korn dieser besitzt. Er machte sich nur auf den Weg, wenn die Vorzeichen günstig waren, und kehrte augenblicklich um, wenn ihm eine Elster oder ein Rabe begegnete. Dagegen marschierte er fröhlich weiter, wenn eine Taube unterwegs gurrte. In Rußland machte sich der Brautwerber nur nachts an sein Unternehmen und wählte die abgelegensten Pfade, da jede Begegnung Unheil verkündete.

Der Bazvalan bot alle Blüten der Volkspoesie zu seiner Unterstützung auf. Mit lächelnder Miene kommt er zum Bauernhof: „Ein Sperber, rasch wie der Wind, hat mein kleines Täubchen verjagt [...] Mein Glück auf Erden ist dahin, wenn ich es nicht wiederfinde [...] Mein weißer Tauber stirbt vor Gram, wenn ich ihm seine Gefährtin nicht zurückbringe [...] die Taube hat sich hier im Garten niedergelassen, ich kann sie durch das Tor sehen“. Der Brentaer, der Anwalt der Familie, zieht ihn auf, und er erklärt schließlich, er wolle selbst in den Garten gehen und nach der Taube sehen. Er geht in das Haus und kehrt zurück: „Ich war im Gärtchen, mein Freund, aber ich habe keine Taube gefunden, wohl aber mancherlei Blumen, Flieder und Heckenrosen, vor allem aber eine reizende kleine Rose, die dort beim Busch wächst. Ich werde sie Dir bringen“. Er geht wieder ins Haus und kommt mit einem kleinen Mädchen an der Hand zurück: „Eine reizende Blume in der Tat“, sagt der Bazvalan, „wie geschaffen, ein Herz glücklich zu machen. Wäre mein Tauber ein Tautropfen, er würde sich auf ihr niederlassen“. Er macht Miene, ins Haus einzutreten, aber der Brentaer hält ihn zurück und sagt, er müsse noch einmal nachsehen. Er kehrt mit der Frau des Hauses zurück. „So viele Körner diese Ähre hat“, sagt der Bazvalan, „so viele Kleine hat meine weiße Taube unter ihren Flügeln“. Der Brentaer holt jetzt die Großmutter. „Ich finde nicht Deine Taube, ich habe nur einen Apfel gefunden, der schon seit langem runzelig ist. [...] Steck ihn in die Tasche und gib ihn Deinem Tauber zu fressen“. „Danke mein Freund; eine gute Frucht verliert nicht ihren Wohlgeruch, auch wenn sie runzelig wird; aber ich suche nicht Deinen Apfel, nicht Deine Ähre, nicht Deine Blume. Ich will mein Täubchen haben, ich werde es selbst suchen“. Der Bazvalan wird nun ins Haus geleitet, für einen Augenblick setzt er sich am Tisch nieder, dann führt er den Bräutigam herein. Sobald dieser erscheint, übergibt ihm der Hausvater einen Sattelgurt, den der Bräutigam nimmt und um die Hüfte seiner Zukünf„igen schnallt. In diesem Moment stimmt der Brentaer das Gurtlied (chant de la ceinture) an“. [54] Bei den Mayas in Mexico muß der Brautwerber drei Mal kommen, ehe er eingelassen wird. In rußland zündete man nach dem Abschluß des Ehevertrages vor dem hausheiligen eine Kerze an, bekreuzigte sich und richtete ein gebet an ihn.

Die Familie ließ nie das Bestreben merken, ihre Tochter an den Mann zu bringen; es brauchte mehr als guter Worte, sie zur Trennung zu bewegen. Im Berry erschien der Bräutigam mit seinen Freunden am Hochzeitsmorgen vor dem Tor seines künftigen Schwiegervaters, das er verschlossen und verrammelt fand. Der Bräutigam „mußte der Braut ein Geschenk versprechen, das ihrer würdig war“, wenn die Tore sich öffnen sollten, berichtet uns George Sand [55] in ihrer Mare au Diable [Die Teufelspfütze]. [56] Nun wurden die Geschenke aufgezählt, die der Bräutigam mitgebracht hat:

Öffne, öffne das Tor, mein Bräutchen, mein Schatz!
Sieh’, welch schönes Kleid ich gekauft;
Öffne, öffne das Tor und laß’ uns ein.

Man antwortete von Innen:

Der Vater will’s nicht, die Mutter fragt nicht danach!
Ich bin ein Mädchen, und mein Wert ist hoch,
Ich öffne jetzt nicht das Tor.

Der Zukünftige pries ein zweites Geschenk an, welches den Leuten im Haus auch ungenügend erschien. Das ging so fort, bis der Wert der Geschenke eine angemessene Höhe erreicht hatte. „Alle Lieder, die im Inneren Frankreichs gang und gäbe waren“, hatten den Refrain der Zeremonie der „Auslieferung“ aufgenommen, sagt Monsieur de Langardiere. [57]

Es gibt Lieder, die von einem Preis sprechen, der der Familie für die Tochter gezahlt wurde. In einem baskischen Lied sagt die Braut: „Vater, Du hast mich verkauft, wie ein Stück Rind; mein ältester Bruder hat den Kaufpreis im Empfang genommen; der jüngere Bruder half mir aufs Pferd, und mein jüngster Bruder hat mich begleitet“.

Eine der Einleitungszeremonien der russischen Hochzeit ist der Verkauf der Kosa, der Haarflechte, die das Mädchen als Zeichen der Freiheit trägt. Ein Gesang zeigt uns den Brautwerber, wie er sich an den Vater heranmacht; er beginnt mit der Nachfrage nach dem weißen Schwan (dem Mädchen) und nach dem Preis seiner Freiheit. „Und wenn Du 100 Rubel für sie gäbest, und 1.000 Rubel für ihre Haarflechte, das Mädchen ist mit keinem Preis zu bezahlen“. [58] In einem anderen Lied weint das Mädchen und verlangt, daß man sie schützt. “Verteidige mich, Bruder, widerstehe Bruder, verkauf’ nicht Deine Schwester für einen Rubel, nicht für Gold“. Und der Bruder antwortet: „Lieb ist dem Bruder die Schwester, aber noch lieber das Gold“. „Tartar von einem Bruder!“ Ein anderes Lied läßt sie jammern und ihre Familie anklagen. “Meine Eltern haben mich ausgeliefert, sie haben meine Freude und Freiheit für süßen Wein dahingegeben [...] sie haben meine Freiheit vertrunken“.

Wenn in Kleinrußland [59] der Brautpreis auf den Tisch gelegt wurde, sangen die Mädchen: „Tartar! Tartar von einem Bruder! Seine Schwester für einen Rubel zu verkaufen, ihre blonde Flechte für einen Zehner, ihr hübsches Gesicht für nichts!“ In einem sibirischen Lied weint das Mädchen und klagt seine eltern an: “Sie haben ihr steinernes Herz in einer Lade verschlossen, sie haben den Schlüssel dazu in das blaue Meer geworfen“. Während die Eltern mit dem Abgesandten des Freier unterhandelten, mußte das Mädchen vor dem Haustor warten, selbst, wenn es fror, daß die Vögeln aus der Luft fielen; und erst, wenn der Handel perfekt war, durfte sie wieder ins Haus. Es war, als fürchtet„ man sich, durch ihr Schreien und Weinen gestört zu werden.

Wenn es Sitte war, die Tochter zum Schein zu verkaufen, so war es auch im allgemeinen geboten, daß die Familie sich scheinbar nur mit Widerstreben von der Tochter trennte. Im Berry stand die Braut barfüßig da, wenn’s zur Kirche gehen sollte, und vergebens versuchten ihre Verwandten, einer nach dem anderen, ihr die Schuhe anzuziehen. Erst dem Bräutigam gelang es. Dieser Brauch geht weit ins Altertum zurück. Gregor von Tours [60] (in seinem Vitae patrum, XX) berichtet, daß Leobard [61], der später ins Kloster ging, bei seiner Verehelichung der Braut zuerst einen Ring ansteckte, sie dann küßte und einen Schuh überreichte, worauf die Hochzeitsfeier begann. Der Spartaner gab seiner Braut auch einen Schuh (Lykurgus, XXIII). Bei den Juden sollte eine Witwe dem Bruder ihres verstorbenen Gatten einen Schuh vor der Versammlung der Ältesten ausziehen, wenn er sich weigerte, sie zu ehelichen (5. Buch Mosis, XXV, 9). In Wales warfen die Verwandten der Braut die alten Schuhe aus den Fenstern des Hauses auf die Freunde des Bräutigams. Es war das eine Art, die Schiffe hinter sich zu verbrennen: Man wollte damit erklären, daß niemand aus diesem Hause in die Kirche gehen wolle oder könne.

Um ihrer Rolle treu zu bleiben, mußte die Braut am Hochzeitstag weinen. Falls die Tränen ausblieben, zerschnitt man in Haut-Bocage (Calvados) [62] höchst „frivol“ eine Zwiebel unter ihrer Nase. So streng hielt man es mit dem Lied der Braut, “daß in Rom während der Zeiten der öffentlichen Feste keine Mädchen heiraten durften, da sie traurig sind, wenn sie heiraten“, wie Varro [63] sagt. [64] Die Frauen der Gascogne sangen: „[...] Junge Frau, Du verläßt Deine Mutter für immer, um einem Fremden zu dienen [...] Die Neuvermählte hat feuchte Füße, der Tau hat sie nicht benetzt, es waren die Tränen, die herabrollten. Weint, ihr Wände, weint, ihr Dachsparren, ihr verliert die Blume des Hauses“.

Die verheirateten Frauen Rußlands sagten zur Braut:

Es ist hart, die Eltern zu verlassen,
Hart, Vater und Mutter zu verlassen,
Es ist hart, sich an eine fremde Familie zu gewöhnen,
An einen anderen Vater, an eine andere Mutter.

Wir haben gesehen, wie die Familie der Braut, trotzdem sie diese verkauft und den Preis dafür erhalten hat, über ihren Abschied wehklagt, ihn zu verhindern sucht, ja, die schon dem Bräutigam Übergebene noch auf dem Weg zur Kirche zurückzuerobern will. Auf der anderen Seite empfängt die Familie des Gatten seine junge Frau bei ihrem Eintritt rüde, wie einen Eindringling, dem man seinen Platz zuweisen und in die Pflicht nehmen muß. Sie muß flehen, man möge ihr doch die Tür öffnen. In der Champagne hatte sie, auf einem dornigen Reisigbündel kniend, ein Lied drei Mal zu singen. In der Gascogne empfing sie der Schwiegervater mit dem einladenden Vers:

So wie diese Feuerböcke hier
Sind die starken Zähne Deiner Schwiegermutter;
Sieh’, junge Frau, diese Ecken,
Sie werden Dir manchen Hieb eintragen [wenn sie nicht gefegt sind].

In Sparta und Rußland schor man den Kopf der Neuvermählten. In Rom hatte sie die Wohnung des Gatten mit dem Spinnrocken und der Spindel in der Hand zu betreten; in vielen Gegenden mußte sie einen Besen ergreifen, sobald sie die Schwelle des Hauses des Gatten überschritt.

Bei den slawischen Hochzeiten jammerte sie:

Man hat mich mit einem Schwachkopf verheiratet.
Seine Familie ist nicht klein;
Da ist ein Vater, da ist eine Mutter –
O, ich Unglückliche!
Da sind vier Brüder und drei Schwestern!
Mein Schwiegervater empfängt mich mit den Worten:
Man bringt mir hier ein Bärenweib.
Meine Schwiegermutter sagt:
Man bringt mir einen Dreckfink.
Meine Schwägerinnen sagen:
Man bringt uns eine Faulenzerin.
Meine Schwäger sagen:
Man bringt uns ein Streitobjekt.
Oh, oh, oh, wie unglücklich bin ich!

Die Komödie Lustspiel hat ein Ende und der Ernst des Lebens beginnt.


Die Hochzeitsbräuche sind verschiedene Szenen eines Schauspiels, in denen abwechselnd Gesänge, Tänze, Lustbarkeiten und Wehklagen, billige Witze und Gewalttätigkeiten vorkommen: ein Schauspiel, gedichtet und aufgeführt von den Völkern des Erdkreises. Das Thema ist überall dasselbe, nur die Episoden variieren. [65]

Das Schauspiel beginnt mit der Verlobung, die sich mit sonderbarem Zeremoniell vollzieht, wenn man die Roheit der Bauern in Betracht zieht: Der Abgesandte des Freiers prüft die Vorzeichen, unterhandelt des langen und des breiten und besiegelt schließlich den Kaufvertrag mit Gebeten an die Götter.

Im zweiten Akt bringen der Zukünftige und seine Freunde den verabredeten Kaufpreis und lassen sich das Mädchen unter Jammern und der Empörung der Familie ausliefern. Mitunter kam es zum Handgemenge. „Bojaren, zückt die Säbel!“ rief der Kleinrusse, sobald der Ehemann seine Braut in Empfang nahm. [66] Während des Ganges zur Kirche mußte man mit einem angriff der Verwandten der Braut rechnen, die, nachdem die Geschenke sicher verwahrt waren, versuchte, das verkaufte Mädchen zurückzuerobern. Das Schauspiel endete mit dem Eintritt der Vermählten in das Haus des Gatten, mit dem Eintritt in die patriarchalische Hölle.

 

 

V

Um den wirklichen Sinn der Hochzeitslieder und -bräuche des Volkes zu verstehen, muß man die Sitten der patriarchalischen Familie kennen, wie sie z.B. in manchen slawischen Ländern erhalten geblieben ist.

Auf dieser Entwicklungsstufe der patriarchalischen Familie gab es weniger individuelles, mehr kollektives Eigentum: Das Haus, der Grund und Boden, die Arbeitswerkzeuge und das Vieh gehörten der ganzen Familie; deren einzelnen Mitglieder steht bloß das Nutzungsrecht zu. [67] Sie haben sie von ihren Vorfahren übernommen und auf ihre Nachkommen zu übertragen. Das Oberhaupt der Familie ist der Verwalter des kollektiven Eigentums. Dieses Oberhaupt konnte der Großvater sein, der Vater, der älteste Sohn, die Mutter, oder sogar der jüngste Sohn, wie es in der Bretagne zur Feudalzeit üblich war. Er hatte für alle Familienmitglieder zu sorgen, ausgenommen die Ausgeschlossenen und Geächteten. Die unverheirateten Töchter und die Söhne des Hauses samt ihren Frauen und Kinder hatten ihm und seiner Frau zu gehorchen. Im Jahr 1871 konnte ich in Bosost in den spanischen Pyrenäen eine patriarchalische Familie beobachten: Vier Familien lebten unter einem Dach und standen unter der nominellen Leitung des Großvaters, eines Greises von 90 Jahren, aber tatsächlich unter der Leitung des ältesten Sohnes. Wenn man genau forschen würde, könnte man zahlreiche Spuren dieser Familienform in der Auvergne [68], der Gascogne und den anderen Provinzen Frankreichs entdecken.

In Rußland überwachte und leitete das Oberhaupt der Familie die Arbeiten dieses kleinen Gemeinwesens. Er war der Herr des Hauses, und die Beamten der Gemeinde, die von den Hausvätern gewählt wurden, liehen ihm ihren Beistand. Er hatte das Recht, Männer und Frauen, die ihm untergeben waren, körperlich zu züchtigen und jeden widerspenstigen Sohn zur Armee oder selbst in die Verbannung nach Sibirien zu senden. In Griechenland und in Rom hatte der Vater das Recht, seine Kinder und die Frauen seiner Söhne zu verkaufen, ja selbst zu töten. Das den Juden von Gott gegebene Gesetz betonte ebensosehr die väterliche Gewalt: „Wenn jemand einen störrischen oder widerspenstigen Sohn hat, der auf die Mahnung seines Vaters und seiner Mutter nicht hören will und ihnen auch, nachdem sie ihn zurechtgewiesen haben, nicht gehorcht, so sollen ihn Vater und Mutter ergreifen und den Ältesten seiner Stadt, beim Tore seines Heimatsortes, vorführen. Sie sollen zu den Ältesten seiner Stadt sprechen: ‚Dieser unser Sohn da ist störrisch und widerspenstig, will auf unsere Mahnung nicht hören, ist ein Verschwender und Säufer!‘ Alle Männer seiner Stadt sollen ihn dann zu Tode steinigen, und so sollst du das Böse aus deiner Mitte hinwegtilgen, ganz Israel aber soll es vernehmen und sich fürchten“. [69]

Die nihilistische Bewegung, die sich nach der Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland entwickelte, richtete sich anfänglich gegen den patriarchalischen Despotismus in der Familie, der sich überlebt hatte. Es bedurfte der ganzen Intelligenz der russischen Regierung, um einer Bewegung, die sich ursprünglich ganz auf die Familie beschränkte, einen politischen Charakter zu verleihen. [70]

Die patriarchalische Familie war ein selbständiges Gemeinwesen, das sich selbst genügte: ein Staat im Staate, mit einer eigenen Religion, einem besonderen unantastbaren Herrschaftsgebiet und einem obersten Herrscher, dem König (basileus), wie ihn die Griechen nannten. [71] Seine Mitglieder mochten sich noch so sehr hassen und untereinander zerfleischen, gegen den Fremden hielten sie stets zusammen, gegen den außerhalb ihres Gemeinwesens Stehenden. Wenn ein Sohn des Hauses seine junge Gattin in diesen Kreis einführte, der allem feindlich gesinnt war, was von außen kam, wurde sie naturgemäß als Fremde, als Feindin mit Mißtrauen aufgenommen. Man duldete sie nur als Dienerin, der die schwersten und unangenehmsten Arbeiten zufielen. Wenn in Rußland eine Familie ein „Mädchen für alles“ brauchte, verheiratete sie einen der Söhne, selbst wenn er noch ein Kind war, mit einem erwachsenen Frauenzimmer. [72] Die Kleinrussen haben ein charakteristisches Sprichwort: „Wer holt das Wasser? – Die Schwiegertochter. – Wen schlägt man? – Die Schwiegertochter. – Warum schlägt man sie? – Weil sie die Schwiegertochter ist“. „Wenn ich heimkehre, harren meiner Prügel“, sang die Frau in der Normandie [73] und das Sprichwort der Gascogne sagt: „Das Weib, das lacht, wird bald weinen“.

Die junge Frau, die Sklavin des Gatten und seiner Eltern, wird von allen im Haus herumkommandiert, beschimpft, geprügelt. Tikhomirow teilt ein großrussisches Lied mit, das ihre Situation treffend charakterisiert. Erschöpft von ihrer Arbeit singt sie: „Ich, die Junge, bin schläfrig; mein Haupt sinkt auf das Kopfkissen. Da kommt der Schwiegervater und tritt in den Hausflur, wütend geht er im Hausflur auf und ab. Er schlägt, er wettert, er schlägt, er wettert. Er hindert die Schwiegertochter am Einschlafen. – Auf, du Faulenzerin, du Transuse, du Dreckfink!“ Der Ehemann hört diese Klagen, er liebt seine Frau. er kann sie nur bedauern und murmelt leise: „Schlaf, schlaf, meine Brave. Schlaf, Schlaf, meine Süße. Du bist erschöpft, todmüde, Du bist zu früh verheiratet worden!“ [74] “Mir ist mehr als eine Frau bekannt, daß sich der täglichen Peinigung durch den Selbstmord entzog“, berichtet Monsieur Dozon. [75]

Die Macht des Schwiegervaters über die Schwiegertochter war unbeschränkt: Oft verdrängte er sogar den Sohn von ihrer Seite, um sich an dessen Stelle zu setzen. Dies war etwas so Gewöhnliches, daß die Russen eine eigene Bezeichnung dafür erfunden haben: snokatsch. Die Gerichtsverhandlungen haben furchtbare häusliche Dramen enthüllt; oft wurde das Oberhaupt der Familie vom Sohn aus Eifersucht mit der Axt erschlagen oder von der Schwiegertochter vergiftet, die so die an ihr begangene Vergewaltigung rächte. Der Ehebruch durch den Vater, der die Nihilisten so empörte, die das despotische Joch der Familie brechen wollten, erschien in den Anfängen dieser Familienform als keine unnatürliche Sache, wie die Geschichte der Tamar beweist. Juda verheiratete Tamar nacheinander mit zwei seiner Söhne, Ger und Onan, von denen jeder vom Herrn aus verschiedenen Ursachen getötet wurde. Judas dritter Sohn Sala war noch nicht erwachsen, er sandte daher Tamar in ihres Vaters Haus, wo sie wohnen sollte, bis Sala groß war. Aber Juda vergaß, sie seinem Sohn zur Frau zu geben, als dieser herangewachsen war. Um ihn an seine Pflichten zu erinnern, setzte sie sich einmal an den Weg, den er zu passieren hatte, verschleiert wie eine Prostituierte. „Da lag er bei ihr ohne sie zu kennen und sie ward von ihm schwanger“. Als man Juda mitteilte, daß seine Schwiegertochter von einem fremden Mann schwanger sei, ließ er sie zu sich kommen, „daß sie verbrannt werde“. Aber als sie nachwies, daß sie von ihm schwanger sei, gestand er: „Sie ist gerechter denn ich“. Und er gab sie seinem Sohn Sala, der die Vaterschaft der Zwillinge übernahm, die Tamar gebar. Einer dieser Zwillinge, Perez, wurde der Stammvater der Familie, aus der David und Jesus stammten (1. Buch Mosis, XXXVIII, Ruth, IV, 18-22). Erst später wurde derjenige verdammt, der mit seiner „Schwiegertochter [...] verkehrt“ (3. Buch Mosis, XVIII, 15).

Die Brüder des Gatten beanspruchten über seine Frau das Recht der ersten Nacht. Die Religion mußte einschreiten, um der Blutschande in der Familie ein Ende zu machen. Hesiod [76] bedrohte jeden mit dem Zorn des Zeus, „der das Bett seines Bruders bestieg, um ihm heimlich das Weib zu rauben“ (Werke und Tage). Jehova gebot: „Mit der Frau deines Bruders darfst du nicht verkehren, sie ist deines Bruders Fleisch“ (3. Buch Mosis, XVIII, 16).

Gleich nach dem Familienvater kam seine Gattin, die Matrone. Sie übte ihre Autorität über den ganzen weiblichen Teil der Familie aus; ihre Überwachung war noch schärfer, ihr Despotismus noch strenger, als der des Hausvaters, ihre Herrschaft daher noch viel unerträglicher als die seine. Sie wurde am meisten gefürchtet und am meisten gehaßt. Ihr moralischer Einfluß erstreckte sich auch auf die Männer, besonders auf ihre eigenen Kinder, die ihr blind ergeben waren. In den Volksliedern befiehlt sie ihren Söhnen und ordnet selbst Verbrechen an. Im berühmten schottischen Lied Edward bewaffnet die Mutter den Vatermörder. Edward erscheint vor ihr wieder, blutig und noch schaudernd vor dem Mord, der er soeben begangen hat: Er habe seinen Vater erschlagen und um die Tat zu sühnen verbanne er sich selbst. Er will das meer durchsegeln, er verläßt sein Schloß, seine Frau, seine Kinder. „Was hinterläßt Du Deiner lieben Mutter, Edward, Edward? Antworte mir, geliebter Sohn. – Ich hinterlasse Dir den Fluch der Hölle, meine Mutter, meine Mutter! Ich hinterlasse Dir den Fluch der Hölle, weil Du mir so geraten hast!“

In einem Lied von Sainteonge (Niedercharente [77]) stiftet die Mutter den Sohn zur Ermordung seiner Frau an. Ergeben erwidert er ihr: „Warte nur bis Sonntag morgen, meine liebe Mutter“, und gehorcht ihr schließlich. In einem Lied der Provence [78] entbindet die Frau, während sie getötet wird, und der Gatte erschlägt mit seiner Frau auch sein eigenes Kind.

Die Mutter spielt in der Volkspoesie die Rolle des bösen Geistes. Die Söhne folgen ihr willenlos; sie raffen sich höchstens dazu auf, ihr zu fluchen, wenn sie die Untat begangen haben. Das bulgarische Lied vom Stojan zeigt, daß für den Gedanke der Auflehnung gegen die Mutter im Kopf des Sohnes keinen Platz war. Erbittert durch die falschen Beschuldigungen der Mutter tötet Stojan seine Frau in einem Anfall von Eifersucht; als er die Unschuld der Erschlagenen erkennt, „zieht er sein Messer und durchbohrt sein Herz, zu Borianska sprechend: Stirb, stirb, meine Liebe, sterben wir zusammen, daß meine Mutter vor Freude außer sich gerät“.

Man findet in einigen Provinzen Frankreichs, in Katalonien [79] und in Italien ein Lied, welches das selbe Thema behandelt. Ein Ritter, der mit seinem Lehensherren auszieht, um das heilige Grab zu befreien, gerät außer sich vor Schmerz bei dem Abschied von seiner schwangeren Frau. Seine Mutter spricht:

Zieh, zieh, mein Sohn Jousseaume,
Ich werde Dein Weib umsorgen. –
Als Jousseaume im Krieg war,
Im Krieg, fern von dahin,
Da wurde seine Mutter
Ihrer Versprechungen untreu.
Sie nahm ihr [der Schwiegertochter] die Ringe weg,
Die Ringe und die Goldstoffe,
Sie hingen ihr die Tonaille [80] um
Und ließ sie die Gänse hüten.

In einer anderen Version beraubt die Schwiegermutter die Schwiegertochter ihres Schmuckes, um ihre eigene Tochter damit zu verschönern.

Nach sieben Jahren kehrt Jousseaume heim und erfährt von seiner Frau, die er anfangs gar nicht wiedererkennt, ihr Leiden:

Sieben Jahre habe ich in keinem Bett geschlafen,
Sondern im Ofenloch,
Als wäre ich eine Aschenkatze.

Nach der katalanischen Version wurde sie zum Schweinehüten verwendet. Der Gatte geht, nachdem er seine Frau angehört hat, zu seiner Mutter, ohne sich zu erkennen zu geben. Nach dem Abendbrot verlangt er von ihr ein Mädchen als Schlafgenossin. (Es scheint, daß im alten Frankreich wie bei den Arabern und vielen wilden Stämmen heute noch, der Wirt die Verpflichtung hatte, für alle Bedürfnisse des Gastes zu sorgen, für Tisch und Bett). Die Mutter antwortet:

Ich gebe Dir nicht meine Töchter,
Um mit Dir zu schlafen;
Nimm das Gänsemädchen.

Jousseaume, entrüstet über die Schande, die seiner Frau angetan wird, erhebt sich und gibt sich zu erkennen:

Wärst Du nicht meine Mutter,
Ich ließe Dich verbrennen
Und Deine Asche
Von den Winden davontragen.

Das Lied vom Ritter Jousseaume, das so populär war, zeigt ebenso wie die anderen, früher zitierten Lieder und die angeführten Tatsachen, wie traurig das Los der neuvermählten Frau in der patriarchalischen Familie war. Jede Frau hatte diese Leiden am Anfang ihrer Ehe durchzumachen; sie wußte, was ihrer Tochter bevorstand, wenn sie heiratete; kein Wunder, daß die Trennung von ihr sie mit Trauer erfüllte. Die Symbole des tiefsten Schmerzes, die in den Ehezeremonien mit den übermütigsten Späßen abwechseln, sind eine Erinnerung an den Schmerz der Eltern, wenn sie ihre Tochter aus dem Haus ziehen sahen. Im Kalevala sagte eine Mutter zur Tochter, als diese das Haus verläßt: „Das Leben war fröhlich und freundlich für Dich im Hause Deines Vaters; Du hattest Milch und Butter, so viel Du wolltest; Du wuchst auf wie eine Blume im Feld, wie eine Erdbeere im Wald; Deine Arbeiten hast den Fichten im Forst anvertraut, Deine Seufzer den Winden am Seestrand. Jetzt gehst Du in ein anderes Haus, eine andere Mutter wird Dir begegnen, und finster ist das Tor, das in den Angeln kreischt“.

Das Mädchen antwortet: „Meine Gedanken sind düster, wie eine Herbstnacht, stürmischer, als ein Wintertag“.

Schließlich werden die beiden Gatten über ihre gegenseitigen Pflichten belehrt: Die Frau hat geduldig alle Arbeiten, alle Mühen auf sich zu nehmen; der Mann soll fünf Jahre verstreichen lassen, ehe er den Weidenzweig abschneidet, mit dem er sie züchtigt.

„Worin besteht die Ehe, Mutter?“ „Im Spinnen, Gebären und Weinen“, erwidert die deutsche Frau.

Die Mutter fürchtete es besonders, wenn die Tochter in eine entfernte Gegend heiratete. Sie konnte dann ihrem Kind nicht ihren Schutz angedeihen lassen: Die Sitte wollte es daher, daß die Töchter in die Nachbarschaft heirateten. Eine Ballade, die man in Griechenland, Albanien, Serbien und Bulgarien antrifft, berichtet von der Strafe des Himmels, die eine Familie wegen Verletzung dieser Sitte ereilte. Eine Mutter, erzählt die Ballade, hatte neun Söhne und eine Tochter aufgezogen; letztere war die jüngste, die von allen zärtlich geliebt wurde. 12 Jahre wurde sie alt, ohne daß sie die Sonne erblickte: Im Finsteren badete sie, beim Mondschein flocht ihr die Mutter das Haar. Da kommt aus Babylon eine Werbung um sie. Die Mutter und die acht Brüder sind dagegen, aber der neunte nimmt sie günstig auf, der älteste, das Oberhaupt der Familie. Aber er ruft Gott und alle Heiligen zu Zeugen an, daß er losziehen werde, seine Schwester zu suchen und zurückzuholen, damit sie mittrauern oder sich mitfreuen könne, wenn in der Familie ein Unglücksfall oder ein freudiges Ereignisse eintrete.

In den Donauländern werden noch andere Gelegenheiten aufgezählt, welche die junge Frau ermächtigen, heimzukehren.

Um dieses Verlangen, den Herd des Gatten zu verlassen, zu bekämpfen, wurde in manchen Ländern der Neuvermählten verboten, ihre Familie vor Ablauf eines Jahres zu besuchen. Plutarch [81] erzählt, daß die Venus der Eleer, die Skulptur von Phidias [82], „den einen Fuß auf eine Schildkröte stützt, zum Zeichen, daß die Frau in ihrem Hause bleiben sollte“. [83] Die Böotier [84] verbrannte die Achse des Wagens, der die Frau ins Haus des Gatten geführt hatte, um ihr jede Hoffnung der Rückkehr zu nehmen.

Doch kehren wir zu unserer Ballade zurück. Das Mädchen hat kaum das Haus verlassen, um ihrem Gatten in die Fremde zu folgen, da bricht auch schon die Pest aus und rafft wie ein Strafgericht des Himmels alle neun Brüder weg. Die Mutter bleibt allein zurück „gleich einem einsamen Halm in der Steppe“. Sie klagt auf dem Grab ihrer Söhne, sie ruft den ältesten an und erinnert ihn an seinen Eid: „Erhebe Dich, ich will meine Tochter haben!“ Er steigt aus seinem Grab heraus, verwandelt eine wolke in ein Pferd, ein Stern zum Saumzeug, nimmt den Mond zum Gefährten und zieht aus, die Schwester zu suchen.

Während ihre Brüder im Grab schliefen, weinte ihre Schwester bitterlich. Ihr Schwägerinnen beschimpften sie: „Hundsvieh, das Du bist! Deine Brüder sind Dir Feind geworden! Jelica weinte immer, Tag und Nacht“ (serbische Ballade).

Sobald ihr Bruder erscheint, läßt sie alles im Stich, um ihm zu folgen und setzt sich zu ihm aufs Pferd. Als sie durch den Wald ziehen, erzählt die bulgarische Version, singen die Vögel: „Wer hat das je gesehen, wer hat das je gehört, daß eine Lebende mit einem Toten reitet?“. Aber im albanischen Gesang braucht das Mädchen, das da Garentina heißt, nicht die Vogelstimmen, um an der Existenz ihres Reisegefährten zu zweifeln: „Bruder, ich sehe ein böses Zeichen an Dir; deine breiten Schultern sind voll Moder. – Garentina, meine Schwester, es ist der Rauch der Gewehre, der meine Schultern beschmutzt hat. – Bruder, Dein Lockenhaar ist zu Staub geworden. – Du irrst, Garentina, das ist der Staub der Straße“. An der Pforte des Hauses angekommen, verschwindet der Bruder. „Die Mutter umarmt die Tochter, die Tochter umarmt die Mutter, Mutter und Tochter sinken entseelt zu Boden“.

 

 

VI

Man weiß jetzt, daß der patriarchalischen Familie, welche in den Ländern der Zivilisation bei der letzten Phase ihrer Entwicklung angelangt ist, eine andere Form der Familie voranging: Bei dieser war nicht der Vater, sondern die Mutter das Oberhaupt der Familie; sie war es, von der die Kinder ihren Namen und ihre Güter erbten. Die Frau verließ nicht das Haus und nicht den Stamm, um dem Gatten zu folgen. Dieser kam im Gegenteil zu ihr als Gast, den sie verabschiedete, wenn er ihr nicht mehr gefiel oder seinen Verpflichtungen zur Erhaltung des Hauswesens nicht nachkam. [85] In der patriarchalischen Familie sind die Rollen vertauscht, die Gattin folgte dem Gatten; aus der Herrin des Hauses wurde die Magd des Mannes und seiner Eltern. Eine so gewaltige Revolution in der gesellschaftlichen Stellung der Frau konnte sich nicht plötzlich und ohne Schwierigkeiten vollziehen.

Der Mann konnte seine Frau nicht ihrer Familie entreißen ohne ihr eine Entschädigung für den Verlust zu bieten, den er ihr verursachte. Er mußte die Frau kaufen. Sobald sich dies als allgemeine Sitte durchsetzte, wurden die Mädchen zu W a r e n, durch deren Verkauf man sich bereichern konnte. In der Ilias heißen die Mädchen „aphesiboioi“, Rinder einbringend (Ilias, XVIII, 593). Man tauscht sie gegen Rinder aus. [86] Mitunter wird die Frau geradezu eine Währungsinheit: In Afghanistan sühnte man einen Mord durch die Übergabe von 12 jungen Frauen; der Verlust einer Hand, eines Ohres, einer Nase, brachte sechs Frauen ein; wer einem anderen einen Zahn einschlug, hatte drei zu erlegen, wer eine Stirnwunde verursachte, eine.

Man raubte die Frau nicht ihrer Familie, wie es Mac Lennan annimmt, man kaufte sie. Damit ist nicht gesagt, daß man sich das Vergnügen versagte, feindlichen Frauen zu rauben, ebenso wie Rinder, Waffen und andere bewegliche Sachen. Die Gefangene wurde wie jede andere Beute unter die Krieger verteilt, und es kam vor, daß eine Frau einer ganzen Horde preisgegeben wurde, ehe man sie einem einzelnen zuwies. Die Helden erhielten auf diese Weise Sklavinnen, Konkubinen, aber keine Ehefrauen.

Die Sitte des Frauenkaufes, findet man heute noch bei wilden und barbarischen Völkern, die das Stadium des Mutterrechtes überschritten haben; sie war bei allen Völkern auf einer gewissen Stufe der Entwicklung verbreitet, bei denen die patriarchalische Familie zur Herrschaft gelangt ist. Wenn die Gesetze des Manu verbieten, das Mädchen zu verkaufen, und empfehlen, den Kaufpreis, den der Bräutigam zahlen müßte, als Aussteuer der Braut zu verwenden, so beweist das nur, wie verhältnismäßig jung die überlieferte Version dieser Gesetze ist und daß bis dahin bei den Indern die Sitte herrschte, die legitimen Frauen zu kaufen. [87]

Die Gesetze der Israeliten, die viel primitiver waren als die des Manu, anerkannten dieses Mittel, um Frauen zu erhalten (2. Buch Mosis, XXI, 7 und 9). Die gekaufte Frau genoß nicht das Recht des gewöhnlichen hebräischen Sklaven, der nach sechs Jahren Knechtschaft frei ging. Sie wurden als ein bewegliches Gut der Familie betrachtet; wenn ihr Gatte starb, so heirateten sie seine Brüder, einen nach dem anderen, wie aus der Geschichte von Judas und Tamar und dem 5. Buch Mosis hervorgeht (XXV, 5-10). Die Erinnerung an diese biblischen Einrichtungen hätte die Spanier hindern sollen, sich zu wundern, daß die Indianer von Mexico „ihre Frauen kauften und sie hinderten, zu ihren Eltern zurückzukehren, selbst wenn sie Witwen wurden, da der Bruder des Verstorbenen die Witwe heiratete, oder, in Ermangelung eines solchen, der nächstfolgende Verwandte“. [88]

Bei manchen Stämmen im nördlichen Kalifornien wurde die Frau, wenigstens zum Teil, auf Kredit verkauft. Aber diese Kreditform war für den Käufer viel unangenehmer als der Kauf gegen bar; er war nur halb verheiratet, denn seine Frau blieb bei ihrer Familie, wie zur Zeit des Mutterrechtes, und er mußte ihr dienen, bis der ausgehandelte Preis völlig bezahlt war. [89] Bei gewissen Stämmen der Nation der Mayas, welche die Halbinsel Yukatan [90] bewohnen, dient der Gatte seinem Schwiegervater vier bis fünf Jahre, ehe er dessen Frau zur Tochter erhält. [91]

Daß die Sitte auch bei den Juden während einer gewissen Zeit herrschte, beweist die Erzählung von Jakob, der 14 Jahre lang seinem Schwiegervater Laban dienen mußte, ehe er dessen zwei Töchter Lea und Rachel zur Ehe erhielt. Monsieur Blade hat zwei Fragmente von gascognischen Liedern veröffentlicht, die vermuten lassen, daß eine ähnliche Sitte auch im südlichen Frankreich herrschte. [92]

Aber ehe sich die Sitten der patriarchalischen Familie eingebürgert hatten und die Frau der Herrschaft des Familienoberhauptes willenlos unterworfen war, genügte es nicht, daß der Bräutigam den Vater durch Geschenke oder jahrelange Dienstpflicht befriedigte; er mußte auch die Zustimmung seiner Auserwählten gewinnen. Bei den Pueblos-Indianern Mexicos erlegte der junge Mann zuerst den Preis des Mädchens, dann machte er sich daran, ihr Herz zu gewinnen: Tag für Tag erschien er vor der Hütte seiner Dulcinea [93] und suchte sie durch sein Flötenspiel zu rühren. Zeigte sie sich nicht, so war das ein Beweis, daß sie die Werbung nicht annahm und der Vater mußte die erhaltenen Geschenke zurückgeben. Kam sie jedoch aus der Hütte zu ihm, dann nahm er sie mit zu sich und vollzog die Ehe ohne weitere Zeremonien. Bei den Olcepas [94] floh das Mädchen und versteckte sich drei Mal nacheinander im Walde; hatte sie der Freier zwei Mal nicht gefunden, so mußte er auf sie verzichten. Es war schwer, ein Mädchen zu finden, das nicht gefunden werden wollte. [95]

Wo die väterliche Autorität mehr entwickelt ist, wird das Mädchen verkauft, ohne gefragt zu werden. Weigert sie sich, dem Käufer zu folgen, und leistet sie Widerstand, so wird sie von ihrem Verehrer tüchtig verprügelt und dann mit Gewalt fortgeschleppt, gerade wie ein störrischer Esel, den der Bauer auf dem Markt gekauft hat. Die Symbole der Entführung, die in den Ehebräuchen so vieler Völker eine große Rolle spielen, zeigen deutlich, daß es schlagender Gründe bedurfte, um das Mädchen zu bewegen, seine Familie zu verlassen und dem Gatten zu folgen. In Indien, in Rom und anderen Gegenden wurden die Haare der Braut mit einer Lanzenspitze (hasta coelibaris) gescheitelt; diese Zeremonie erinnert an die Zeit, wo man sie mit einem Schlag auf den Kopf betäuben mußte, um sie ungehindert fortbringen zu können, wie das heute noch bei manchen Wilden der Fall ist.

In den Anfängen der patriarchalischen Familie hatte der Vater nur wenig Beziehung zu seinen Kindern; das Opfer, das von Abraham verlangt wurde, der seinen Sohn hingeben sollte, war nicht so groß, wie es scheint. Die Patriarchen der Römer und anderer Völker verkauften und töteten ihre Kinder ohne Gewissensbisse. Die Liebe der Mutter zu ihren Kindern war hingegen sehr groß.

Sobald der Vater einmal den Kaufpreis einkassiert hatte, überließ es dem Schwiegersohn, mit der Braut fertig zu werden, so gut er konnte: Er verkaufte ihm die Ware, verpflichtete sich aber nicht zur Lieferung ins Haus. Welchen Hindernissen da der Schwiegersohn im Anfang der Entwicklung der patriarchalischen Familie begegnete, das zeigen uns heute noch die Sitten der Kamtschadalen. [96] Gewöhnlich sucht der junge Kamtschadale seine Frau in einem benachbarten Dorf; hat er dort ein Mädchen gefunden, das ihm gefällt, so versichert er sich der Zustimmung des Vaters dadurch, daß er sich ihm für eine bestimmte Anzahl von Jahren verdingt. Nach Ablauf der vereinbarten Zeit erhält er die Erlaubnis, das Mädchen zu sich zu nehmen. Das ist aber nicht so einfach, als man glauben sollte. Die Mutter und alle alten Frauen des Dorfes tun sich zu einer Respekt einflößenden Leibwache des Mädchens zusammen: Sie schlafen in ihrem Gemach und lassen sie nicht aus den Augen. Sobald der Bräutigam den Versuch macht, sich ihrer zu bemächtigen, fallen sie ihm in den Rücken und setzten ihm mit Nägeln, Zähnen, Fäusten und Füßen so tüchtig zu, daß er gezwungen ist, seine Beute fahren zu lassen. Oft muß der Liebhaber ein bis zwei Jahre warten, ehe sich ihm eine günstige Gelegenheit bietet, das erkaufte Mädchen in Besitz zu nehmen. Ein Reisender erzählt, daß er einen jungen Mann sah, dem es nach sieben Jahren noch nicht gelungen war, seine Frau zu erobern; und doch hatte er es an Versuchen nicht fehlen lassen, wie die entstellenden Wunden bewiesen, die ihm die alten Frauen beigebracht hatten. [97] Der Jüngling mußte seine Freunde zu Hilfe rufen und eine wirkliche Schlacht schlagen, um das Mädchen den sie verteidigenden Frauen zu entreißen. Und hatte er sie, dann mußte er darauf gefaßt sein, daß ihre Beschützerinnen sich ihrer bei der ersten besten Gelegenheit wieder bemächtigten.

Restif de la Bretonne hat uns ein französisches Spiel überliefert, welches in liebenswürdigen Formen die brutalen Sitten der Kamtschadalen wiedergibt.

Das „Jungfrauenspiel“ – berichtet er – nahm ganz dramatische Formen an. Man bedeckte ein Mädchen, welches die Jungfrau (pucelle) vorstellte, mit den Schürzen der anderen mitspielenden Mädchen und den Jacken der Burschen, bis das ganze eine Art Pyramide darstellte. Dieser Turm wurde von den Burschen belagert, von den Mädchen, die sich herum aufstellten, verteidigt.

Sie sangen im Wechselgesang:

Die Tore, Feinliebchen,
Sind sie geöffnet?
Nein, sie verbirgt sich
Und zerfließt in Tränen.
Wir wollen die Braut
Zur Hochzeitsfeier.
Nein, nein, einmal vermählt
Würdet Ihr sie wütend schlagen.

Die Aufgabe der Burschen bestand darin, jedes Kleidungsstück, mit dem die Jungfrau bedeckt war, wegzuholen, ohne von den Mädchen berührt zu werden. War dies erreicht, dann gehörte sie den Burschen, und die Mädchen stimmten folgendes Klagelied an:

Einer entblätterte die Rose
Wird sie bald gleich sein,
Wie eine vom Baum gefallene Pflaume
Wird sie verzehrt werden
Vom Siebenschläfer.
Das arme Wesen wird welken
Wie die Küchenschelle
Welche die Eier färbt. [98]

Dann lieferte man sie den Burschen aus. Man ließ einen freien Platz zwischen Burschen und Mädchen; in diesen trat die Jungfrau und flehte mit gefalteten Händen die Mädchen an:

Oh! Ihr verlaßt mich also?
Ihr gebt mich preis?

Die Mädchen antworteten:

Das ist Dein Schicksal.
Du mußt dem Gatten folgen.
Aber wir werden Dich beweinen
Das ganze Jahr hindurch,
Denn Schläge erwarten Dich.

Sie begannen zu jammern und zu weinen und eine von ihnen zerraufte das Haar der Jungfrau. Dann gingen die Burschen vor und umringten sie, die sich händeringend vor ihnen auf die Knie warf. Die Jünglinge wurden gerührt und riefen ihr zu:

Komm’, komm’, wir wollen Dich besser hüten
Als die Unterröcke da drüben,
Die Dich nicht zu schützen verstanden.

Die Jungfrau erhob sich und reichte ihre Hand demjenigen unter den Burschen, der ihr am besten gefiel. Der wurde ihr Gatte. Damit endete das Spiel und die Burschen brachten höflich das Mädchen wieder zu den Freundinnen zurück [...] Dieses Spiel hat heutzutage ganz aufgehört. [99]

In dieser Weise erhalten die Volkslieder und Hochzeitsbräuche die Sitten der Vorzeit, die unsere Historiker ignorieren.

 

 

Anmerkungen

53. H(*ubert-Howe) Bancroft: (* The) native races of the Pacific states of North America, (* London) 1875, II, S. 234. * Der amerikanische Publizist und Historiker (1832-1918) veröffentlichte aufgrund einer immensen Materialsammlung eine 39-bändige Geschichte der nord- und zentralamerikanischen Pazific-Küste.

54. H. de La Villemarqué (* siehe Anm.4): Barzas Breiz, chants populaires de la Bretagne. Le chant de la demande en mariage (* 1839).

55. * George Sand, eigentlich Armandine-Aurore-Lucile Dupin (1804-1876).

56. * In dieser bäuerlichen Idylle (auch Das Teufelsmoor oder Der Teufelssumpf genannt) berichtet ein einfacher Landmann der Erzählerin die Geschichte seiner zweiten Eheschließung.

57. Ch. Ribaut de Langardieré: Les noces de campagnes en Berry, 1855.

58. W(*illiam) R(*alston) S(*hedden) Ralston: The songs of Russian people, 1872 (* englisch-russischer Gelehrter [1828-1889]).

59. Kleinrußland, „malorossija“ wurde von der Mitte des 17. bis zum Beginn des 20.Jahrhunderts die Ukraine genannt, um sie von den alten Staatsgebieten (Großrußland) zu unterscheiden.

60. * Der Geschichtsschreiber Gregor von Tours (538-594 [?]) verfaßte eine Frankengeschichte, die die wichtigste historische Quelle für das Merowingerreich darstellt.

61. * Begründer und erster Abt des Klosters Maursmünster im Elsaß (? – 618 [?])

62. * Haut-Bocage ist eine Landschaft der Normandie (* siehe Anm.71) im Grenzgebiet der Départements Manche und Calvados.

63. * Zitate aus den nicht erhaltenen 72 Büchern des Gelehrten Marcus Terentius Varro (116-27) sind die wichtigsten Quellen über das Alltagsleben im alten Rom.

64. Plutarch: Questiones romanae. § 105.

65. * So wird in der Geschichte Von Metsen hochzit, die sich im 13. Jahrhundert in der Gegend um den Bodensee abgespielt hat, von einer Hochzeit ohne „schuole und pfaffen“, also ohne Mitwirkung der Kirche, folgendes berichtet: Die Gäste „suffent und trunkent, daß ihnen die zung hunkent“. Die Braut Metzi muß sich auf dem Weg ins Gemach ihres Bärschi nach altem Brauch wehren, weinen und laut „o weh! o weh!“ rufen. Tanz, Gesang und allgemeine Prügelei unter der Dorflinde beenden die Feierlichkeiten.

66. * Satz fehlt in der deutschen Version.

67. * Die Wiener Arbeiter-Zeitung vom 24. Juli 1896 berichtet über ein solches „kommunistisches Dorf“ (Tschitschmang im Trencsiner Komitat).

68. * Historische Landschaft in Mittelfrankreich um Vichy.

69. 5. Buch Mosis, XXI, 18-21.

70. * Der Schrifsteller Iwan Turgenjew (1818-1883) bezeichnete in seinem Roman Väter und Söhne (1862) die russischen Anarchisten als Nihilisten; diese übernahmen diese Etikettierung und machten sie populär.

71. In der Ilias, XVIII, 556 heißt der Hausvater, der die Ernte überwacht, basileus.

72. Report by Mr. Mitchell on the land tenure in Russia. Dieser ausgezeichnete Bericht, der 1870 vom englischen Parlament veröffentlicht wurde, versetzte durch seine rücksichtslose Unparteilichkeit und Offenherzigkeit die russische Regierung in so hochgradige moralische Entrüstung, daß sie zu seiner Widerlegung die große Enquete von 1873 anordnete, die Rußland seiner eigenen Regierung enthüllte.

73. * historische Landschaft im Norden Frankreichs um Rouen

74. L. Tikhomoriow: La Russie politique et sociale, 1886. * Die Passage ab „Der Ehemann ...

75. A. Dozon: Chants populaires bulgares, Einleitung (* siehe Anm.7).

76. * Hesiod (700 v.u.Z. [?]) beschäftigt sich – anders als Homer – nicht mit der Welt der Adeligen, sondern der Bauern.

77. * Département in Frankreich.

78. * historische Landschaft in Südfrankreich, deren Bevölkerung stark mit Italienern vermischt ist.

79. * von den Katalanen bewohnte Landschaft im Nordosten der Pyrenäenhalbinsel mit Barcelona als Zentrum.

80. Tonaille heißt der Schäfermantel aus groben Tuch im Poitou.

81. * Der griechische philosophische Schriftsteller Mestrius Plutarchus (46-125[?]) setzte sich besonders mit Fragen der sittlichen Lebensführung auseinander.

82. * Der attische Bildhauer Phidias, griechisch Pheidias (500-432 [?]) schuf für Elis eine Aphrodite Urania.

83. Plutarch: Ehevorschriften, XXXII.

84. * Bewohner von Böotien (boiotia) im östlichen Mittelgriechenland.

85. Diese Familienform ist ausführlich dargestellt in der Abhandlung über Das Mutterrecht. – Anm.d.Übers.

86. Die Inder des Heroenzeitalters nannten die einleitende Ehezeremonie Godana (von Go, das Rind). Dabei tauschte man die Jungfrau gegen Kühe aus. Im ersten Buch des indischen Heldengedichtes Ramayana verlobt der König Dschanaka seine Tochter dem Sohn des Königs Dacaratha, Rama, und fordert diesen auf, die glückbringende Zeremonie des Godana zu vollziehen. Rama verteilt eine fabelhafte Anzahl von Kühen unter die Brahmanen. –„Die Männer der wilden Stämme in Tonking“ (* Nordteil von Vietnam) schreibt Mahé de la Bourdonnais (* Memoires Historiques ... recuellis et publies par son petit fils, Paris 1892 [2. ed.]), „verehelichen sich spät, gegen das fünfundzwanzigste Jahr; denn um eine Frau zu erhalten, muß man die Elt ern der Braut eine beträchtliche Summe überreichen. Diese beträgt in der Klasse der Edlen mindestens 3-4.000 Franken, eine große Geldsumme für die Länder“ (Revue Scientifique, 24. Juli 1886). (* Der französische Seefahrer Bertrand-François Mahé de la Bourdonnais [1699-1753] stand im dienste der Indischen Handels-Kompagnie; er begründete mahe, die Hauptstadt der Seychellen).

87. Die heiligen Bücher des Manu sollen nach einigen Orientalisten aus dem 4. Jahrhundert v.u.Z. stammen. Andere verlegen die Zeit ihrer Zusammenstellung jedoch weiter zurück, bis in das 12. Jahrhundert (H.S. Mayne: Dissertations on early law and custom, 1883, Ch.I).

88. Ximenes: (* Las) Historia(*s) de los Indios de (* esta provincia de) Guatemala, (* trad. de la lengua quiche al castellano [...] Exactemente segun el texto espanol, Viena 1857], S.207. Die Sitte des Frauenkaufes, der Beschneidung und andere führten eifrige Christen und Verfechter der Einheit des Menschengeschlechtes zur Annahme, die Azteken seien Abkömmlinge eines jüdischen Stammes. (* 1854 wurde an der Universität San Carlos in Guatemala drei umfangreiche Manuskripte des Dominikaner-Paters Ximenes entdeckt).

89. Bancroft, a.a.O., I, S. 350.

90. * Halbinsel zwischen dem Golf von Mexico und dem Golf von Honduras.

91. Bancroft, a.a.O., II, S. 666.

92. Das eine Fragment sagt:

Dort unten am Wasser
Ist ein reiches Haus;
Der Meister, der es baute
Forderte kein Geld.
Der Herr hatte nur eine Tochter,
Die verlangte er zu seinem Lohn,
Nachdem er sie erhalten,
Zog er mit ihr davon.

Das andere Fragment bezieht sich auf die Erbauung der Stadt Casteljaloux im Departement Lot und Garonne.

Der Maurer, der sie [die Stadt] baute,
Verlangte kein Geld,
Es ist da eine schöne Jungfrau,
Die will ich zum Lohn.

93. * Dulcinea von Toboso ist die eingebildete Geliebte im Don Quijote von Miguel Cwervantes Saavedra (1547-1616).

94. * Indianerstamm Nordamerikas.

95. Bancroft, a.a.O., I, S.549, 389

96. * altsibirisches Fischervolk auf der Halbinsel Kamtschataka, ihrer Eigenbezeichnung nach „Itelmen“.

97. J. Farrer: Primitive manners and customs, 1879. Ein ähnlicher Bericht findet sich in Georg Wilhelm Steller: Beschreibung von Kamtschatka, Frankfurt 1774, S.343.

98. Die Blüte der Küchenschelle (anemona pulsatilla) wird zum Färben der Ostereier verwendet.

99. Restif de la Bretonne: Monsieur Nicolas (*; ou le coeur-humain de voile, Paris) 1794(*-1779), I, 144. * Nicolas Edme Restif de la Bretonne (1734-1806) schrieb sittengeschichtliche Romane mit Schilderungen des Landlebens, in denen er die Ansichten Jean-Jacques Rosseaus popularisierte.

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004