Paul Lafargue

 

Die Predigt der Kurtisane [1]

(1887)


Leicht verkürzte Version von Kapitel III. aus Lafargues Satire Die Religion des Kapitals (französischen Ausgabe: Paris 1887).
Deutsche Erstausgabe: Paul Lafargue, Die Religion des Kapitals, London 1890.
Diese Version in Paul Lafargue, Geschlechterverhältnisse, Hrsg. Fritz Keller, Hamburg 1995, S.133-53. (Fußnoten, die mit * gekennzeichnet sind, stammen von dieser Ausgabe.)
Transkription: Fritz Keller.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


[...] Die Menschen, die in der Finsternis des Daseins herumtappen und nur das flimmernde Licht der blöden Vernunft als Leitstern nehmen, spotten und schimpfen über die Kurtisane. Sie stellen sie an den moralischen Pranger, sie schlagen ihr ihre eigenen Paradetugenden um die Ohren, sie stacheln zu Haß und Entrüstung gegen sie auf. Sie ist die Sklavin des Bösen und die Krone der Verruchtheit, der Mahlstein der Vertierungsmühle. Sie demoralisiert die blühende Jugend, sie entehrt die weißen Haare des Alters, sie entführt der Gattin den Gatten und saugt aus seinen verhexten und unersättlich gierigen Lippen das Glück, die Ehre und den Wohlstand seiner Familie.

O meine Schwestern! Brutale Wut und niedriger Neid haben mit bitterer Galle das Bild der Kurtisane besudelt, trotzdem der letzte der falschen Götter, Jesus von Nazareth, eine Maria Magdalena der Schmach der Menschen entrissen und in sein Paradies versetzt hat, neben die Heiligen und Seligen. [2]

Die Götter, die nacheinander den Himmel bewohnt, und die Religionen, die sich die Herrschaft auf Erden streitig gemacht, ehe das KAPITAL, der wahre Gott, gekommen, haben alle die Kurtisanen hochgeehrt. In der Gesellschaft des Altertums war sie die einzige Frau, der man erlaubte, von der Frucht des Baumes der Erkenntnis zu naschen. Die große babylonische Göttin Mylitta, die „geschickte Zauberin“, die „verführerische Prostituierte“, wollte mittels Prostitution verehrt werden. [3] Als Buddha nach Vesali kam, kehrte er bei der ersten Kurtisane des Ortes ein, vor der sich die Behörden in ihren Feiertagsgewändern aufstellten. [4] Der finstere Gott Jehova beherbergte Kurtisanen in seinemTempel. [5]

Die Menschen der ersten Gesellschaften, die der Glaube erleuchtete, versetzten die Kurtisane unter die Götter; sie stellte die Kraft der ewigen Natur dar, die da erschafft und zerstört.

Die Kirchenväter des Katholizismus, der die Menschheit in ihrer Kindheit jahrhundertlang mit seinen Märchen unterhielt, suchten die göttliche Eingebung in der heiligen Gesellschaft von Kurtisanen. Wenn der unfehlbare Papst seine Priester und Bischöfe zu einem Konzil zusammenberief, um über ein Glaubensdogma zu beraten, so strömten, geleitet von der Hand Gottes, die Kurtisanen aus allen Ländern der Christenheit herbei [6]; sie brachten den heiligen Geist hin, sie erleuchteten den Verstand der Schriftgelehrten. Der Gott des Christentums legte die Macht, Päpste, seine Statthalter auf Erden, ein- und abzusetzen, in die Hände der Theodora, der kaiserlichen Kurtisane. [7]

Das KAPITAL, unser Herr, weist der Kurtisanen einen noch höheren Platz an. Nicht hinfällige und stumpfsinnige Päpste sind es mehr, die sie kommandiert, sondern Tausende junger und kräftiger Arbeiter, Meister aller Wissenschaften und Schöpfer aller Erzeugnisse der menschlichen Kunst: sie weben, sticken, nähen, sie bearbeiten das Holz, das Silber, das Gold, sie schleifen Diamanten, sie suchen auf dem Meeresgrund Korallen und Perlen, sie ziehen im Winter die Blumen des Frühjahrs und die Früchte des Herbstes; sie erbauen Paläste, schmücken ihre Wände, bemalen Leinwand, erfinden Romane und Dramen, Opern und Balette, spielen und tanzen, um die Wünsche der Kurtisane zu befriedigen. [8]

Nie hatte Kleopatra, nie hatte Semiramis [9] ein so zahlreiches Heer von Arbeitern aller Berufe, aller Kunstzweige zur Erfüllung ihrer Launen zur Verfügung. Die Kurtisane ist die Königin der Zivilisation, und sie wird so lange über der Menschheit thronen, als das KAPITAL der souveräne Herrscher über Menschen und Dinge ist.

Wenn die beschränkte Vernunft die Menschen nicht verdummt hätte, wenn der wahre Glaube die Tore ihres Verstandes geöffnet hätte, so würden sie einsehen, daß in den Händen Gottes die Kurtisane ein Faktor ist, der die Völker aufrüttelt und die Gesellschaft umgestaltet.

Im Mittelalter, damals als das KAPITAL, unser Herr, noch dem Kinde gleich, das in der Mutter Schoß sich regt, erst in den Tiefen des Wirtschaftslebens geheimnisvoll zu keimen begann, als kein Mund seine Geburt verkündete, als die Menschen noch keine blasse Ahnung hatten von dem Nahen des wahren Gottes, damals begann trotzdem das KAPITAL bereits die Handlungen der Menschen zu leiten. Es hauchte in den Geist der Christen Europas den wilden Taumel ein, der sie in Heeren, enger geschart als Ameisentrupps, auf die Straßen nach Asien trieb. Zu jener Zeit waren die Führer der Menschen plumpe Feudalherren, die in ihren Rüstungen lebten wie Hummer in ihrer Schale, die sich von grobem Fleisch und schweren Getränken ernährten, kein anderes Vergnügen schätzten als Lanzenstechen, keinen anderen Luxus kannten als das wohlgehärtete Schwert. Unser Gott mußte sich auf das Niveau der bleiernen Intelligenz dieser Viehnaturen herablassen, um sie in Bewegung zu setzen. Er pflanzte ihnen die Idee ein, das Kreuz zu nehmen, nach Palästina zu ziehen und die Steine eines Grabes zu befreien, das nie existiert hatte. Aber der himmlische Plan Gottes war, sie zu den Füßen der Kurtisanen des Orients zu führen [10], sie in Luxus und Wohlstand zu berauschen, in ihren Herzen die göttliche Leidenschaft, die Liebe zum Gold zu nähren.

Als sie in ihre düsteren Behausungen zurückkehrten, die Sinne noch verwirrt vom Glanz der Feste, von den Wohlgerüchen Arabiens und den Küssen der glatten Kurtisanen, da bekamen sie einen Ekel vor ihren linkischen und behaarten Weibern, die nur spinnen und Kinder gebären konnten, sie erröten über ihr Barbarentum, sie erbauten die Städte des Mittelmeeres, sie riefen die könglichen und herrschaftlichen Höfe ins Leben, und bereiteten so die Ankunft des GOTT-KAPITALS vor. [11]

Ich sage es euch aufrichtig, die Kurtisane ist unserem Gott teurer als dem Finanzmann das Geld des Aktionärs. Sie ist seine heißgeliebte Tochter, von allen Frauen diejenige, die am gelehrigsten seinem Willen gehorcht. Die Kurtisane handelt mit dem, was man weder wägen noch messen kann, mit der immateriellen Sache, der die geheiligten Regeln des Tausches nicht ankönnen; sie verkauft die Liebe, wie der Krämer Seife und Talg verschleißt, wie der Dichter Verse losschlägt. Aber indem sie die Liebe verkauft, verkauft die Kurtisane sich selbst, gibt ihrer Persönlichkeit einen wirtschaftlichen, einen Marktwert. Der Körper der Kurtisane nimmt damit an den Eigenschaften unsere Gottes teil; er wird ein Stück Gott, er wird KAPITAL. [12] Die Kurtisane ist die Menschwerdung Gottes.

O über eure Taubenklugheit, ihr Dichter und Romanciers, die ihr die Kurtisane heruntermacht, weil sie ihren Körper nur gegen Bezahlung hingibt. Die ihr sie mit Schmutz bewerft, weil sie ihre Reize in schwerem Geld taxiert. Ihr wollt wohl, daß sie das Göttliche, was ihr Körper birgt, profaniert, daß sie es so gemein macht wie Steine am Weg? O ihr Moralisten, ihr Brutanstalten für alle Laster, ihr scheltet sie Verbrecherin, weil sie das blinkende Gold dem liebesglühenden Herzen vorzieht! Stumpfsinnige Philosophen, die ihr seid, ihr haltet die Kurtisane wohl für einen Sperber, der sich mit zuckendem Fleisch vollstopft? Glaubt ihr in eurem reizenden Geiz etwa, daß die Kurtisane weniger begehrenswert ist, weil sie gekauft werden muß? Muß man nicht auch das Brot kaufen, das unser Leben enthält, den Wein, der uns die Sorgen vergessen macht? Kauft man nicht auch das Gewissen der Volksvertreter, die Kenntnisse des Ingenieurs, die Ehrlichkeit des Kassiers?

Aber die Kurtisane, die die Gnade Gottes, des KAPITALS, zu verdienen sucht, verstopft sich die Ohren bei euren Reden, die noch weniger angehört werden, als das Geschrei der Gänse, wenn sie gerupft werden; sie umgibt ihre Seele mit einer eisigen Hülle, die das Feuer keiner Liebe schmelzen kann. Denn wehe, dreimal wehe der Kurtisane, die da liebt, die da empfindet! Gott wendet sein Antlitz von ihr ab. Wenn ihr Herz ergriffen wird, wenn ihre Sinne dem Käufer von Liebe sprechen, so findet der, der auf den Geliebten des Herzens folgt, nur noch einen erschöpften, verbrauchten Körper.

Die Kurtisane muß sich mit anziehender Kälte wappnen. An dem Marmor ihres Körpers, der nichts von Leidenschaft fühlt, muß der Käufer seine brennenden Lippen erschöpfen, ohne dessen Frische zu beeinträchtigen. Nicht das Feuer ihrer Hände und die Glut ihrer Umarmungen, sondern die fiebernde Hitze des eigenen Blutes muß ihn berauschen. Während er in ihren Armen seinen Körper zugrunde richtet, denkt ihre freie Seele an das Geld, das sie zu erlangen hat. Die Kurtisane betrügt den, der sie kauft; sie nötigt ihn, das Vergnügen mit Gold aufzuwiegen, das er selbst mitbringt. Und weil sie ihre Liebesware fälscht, segnet sie unser Gott, denn die Fälschung gilt ihm als religiöse Tugend.

Frauen, die ihr mich anhört, ich habe euch das mystische Geheimnis der rätselhaften Kälte der Kurtisane enthüllt! –

So lädt die marmorne Kurtisane die gesamte Klasse der Auserwählten des KAPITALS zum Gastmahl an ihrem Körper ein und spricht zu ihnen. Esset und trinket, dies ist mein Leib, dies ist mein Blut!

Sie ist eine Erzieherin, welche Gott den Söhnen seiner Auserwählten sendet. Sie unterrichtet sie in dem gelehrten Raffinement des Luxus und der Wollust.

Sie ist die Trösterin, die Gott seinen Auserwählten zuteilt. Bei ihr vergessen sie die legitimen Frauen, die so langweilig sind wie ein Landregen im Herbst.

Die treue Gattin und gute Hausfrau, welche von den Männern von Welt ebenso eifrig gepriesen, wie allein zu Hause gelassen wird, isoliert den Mann von seinesgleichen und entwickelt in ihm die Eifersucht, diese antisoziale Eigenschaft, sie macht ihn zum Gefangenen des häuslichen Herdes, des Familienegoismus. Viel schöner ist dagegen die Rolle der Kurtisane: Wenn das Geld die Menschen trennt, so führt sie sie wieder zusammen. Leute, deren Interessen sich feindlich gegenüberstehen, fraternisieren in ihrem Boudoir; ein geheimer, unerklärlicher, aber tiefer und unwiderruflicher Pakt bindet sie, sie haben von ein und derselben Kurtisane gegessen und getrunken, sie haben vom selben Altar das Abendmahl genossen.

Mit mehr Kraft als die Hefe den jungen Wein zum Gären, treibt die Kurtisane den Reichtum in einen schwindelden Wirbel. Sie reißt die festgelegtesten Vermögen in den lustigen Tanz der Millionen; in ihren kalten und nachlässigen Fingern zerfließen Bergwerke, Fabriken, Banken, Staatspapiere, Weinberge, Getreideländereien und Wälder wie Schnee in der Sonne, und strömen in die tausend Kanäle des Handels und der Industrie. Ein dichter Schwarm von Dienern, Händlern und Wucherern umlagert sie, gleich Würmern, die das Aas anzieht; sie haben unergründliche Taschen, um den Goldregen aufzufangen, der sich ergießt, wenn sie ihr Kleid aufschürzt. Ein Muster von Selbstlosigkeit, ruiniert die Kurtisane ihre Liebhaber zugunsten von Dienern und Lieferanten, die sie wiederum betrügen. Und unter ihnen sucht sich Gott KAPITAL mit Vorliebe seine Auserwählten.

Die Künstler und Gewerbsleute würden im Fett ihrer Mittelmäßigkeit ersticken, wenn die Kurtisane sie nicht zwänge, ihr Gehirn anzustrengen und immer neue Genüsse, immer neue, nie zuvor gekannte Nichtigkeiten zu ersinnen. Denn in ihrem Durst nach dem Ideal hat die Kurtisane das, was sie besitzt, nur, um einen Ekel davor zu bekommen, kostet sie ein Vergnügen nur, um seiner überdrüssig zu werden.

Die arbeitssparende Maschine würde die arbeitenden Klassen zum Müßiggang, diesem Urheber aller Laster, verurteilen, aber die Kurtisane erhebt die Verschwendung zur Höhe einer sozialen Tugend und steigert ihren Luxus und ihre Ansprüche in dem Maße, wie die gewerbliche Technik fortschreitet, damit es den Verdammten des Proletariats nicht an Arbeit, dieser Mutter aller Tugenden, mangle.

Die Kurtisane, welche mehr Vermögen verschlingt und mehr Produkte zerstört, als eine Armee im Felde, ist dem Gott KAPITAL am liebsten; die Fabrik- und Handelsherren beten sie an, sie ist der Schutzgeist, der Handel und Gewerbe belebt und kräftigt. Aber Fluch der verliebten Kurtisane, der „Kameliendame[13], die sich hingibt, aber sich nicht verkauft! Gott erweckt, hetzt und schleudert gegen sie alle niedrigen und mißgünstigsten Leidenschaften, die in den Herzen der Männer und Frauen gären. Verflucht die dirnen, die sich für einige Mark, für einige Nickel dem Arbeiter und dem Soldaten verkaufen! Gott, furchtbarer als die Pest, martert diese Fledermäuse der Venus ohne Erbarmen. Er vergiftet ihren Körper, er liefert sie den „Louis [Zuhälter]“ der Gosse aus, die sie schlagen und ausplündern, er unterstellt sie, gleich dem fauligen Freibank-Fleisch, der entehrendsten Polizeikontrolle.

Höher und reiner als die falschen Religionen der Vergangenheit, verzichtet die Religion des KAPITALS darauf, die Gleichheit der Menschen zu verkünden – eine Minderheit, eine verschwindende Minderheit nur ist berufen, sich der Gunst des KAPITALS zu erfreuen. Nicht mehr macht, wie in Urzeiten, der „Phallus [Schwanz]“ die Menschen gleich. Nur für seine Auserwählten bewahrt Gott solche kostbaren und feinen Gaben von Natur und Kunst, wie die höhere Kurtisane.

Die Kurtisane, die Gott für die Reichen und Mächtigen aufzieht, bildet und pflegt, lebt herrlich und in Freuden. Respektable und respektierte Männer des Adels und der Bourgeoise betteln um die Ehre, diejenige zur Frau in der Gesellschaft machen zu dürfen, die bis dahin Frau d e r Gesellschaft war – sie schließt die Serie ihrer tollen Hochzeiten mit einer Vernunftehe. Im Frühling ihrer Jahre legen ihr die Reichen ihre Herzen, die sie verachten, und ihre Schätze, die sie verschleudert, zu Füssen; Künstler und Literaten scharwenzeln um sie herum und schmeicheln ihr in der servilsten und plattesten Weise. [14] Wenn sie im Herbst ihres Lebens, träge und fett geworden, das Geschäft schließt und „ein Haus macht“, so widmen ihr ernste Männer und sittsame Frauen ihre Pflege und Aufmerksamkeit, um das Glück zu ehren, das ihre geschlechtliche Arbeit belohnte. „

Gott überhäuft die Kurtisane mit seinem Segen. Hat sie die Natur nicht mit Schönheit und Geist gesegnet, so stattet er sie mit Chick, der Pikanterie, mit Rasse aus – Dinge, welche die erhabene Seele seiner Auserwählten bis zur Raserei hinreißen.

Gott schützt sie vor den Schwächen ihres Geschlechtes. Die Rabenmutter Natur verurteilt die Frau zur harten Arbeit der Fortpflanzung der Art, aber die Schmerzen der mütterlichen Wehen suchen nur die Geliebten, die Gattinnen heim. Der Kurtisane erspart Gott die mißgestaltende Schwangerschaft und die Qual des Gebärens, er verleiht ihr die so beneidete Gabe der Unfruchtbarkeit. Die Gattin, die Geliebte sind es, welche gezwungen sind, zur heiligen Maria zu beten und das heiße Gebet der Ehebrecherin an sie zurichten: „O heilige Jungfrau, die du empfangen hast, ohne zu sündigen, gib, daß ich sündige, ohne zu empfangen“: Die Kurtisane gehört dem dritten Geschlecht an – sie überläßt der gemeinen Frau das schmutzige und lästige Geschäft, die Menschheit fortzupflanzen. [15]

Bis jetzt rekrutieren sich die Kurtisanen der zivilisierten Welt gewöhnlich aus den ärmeren Kreisen – aber ist es nicht eine Schande, ist es nicht wahrhaft herzbrechend, sehen zu müssen, wie diejenigen, die einen so hohen Platz in der Gesellschaft einnehmen, aus dem Straßenkot gelesen werden?

O meine Zuhörerinnen, die ihr den höheren Klassen angehört, erinnert euch, wie einst der Adel Ludwig XV. [16] Vorwürfe darüber machte, daß er seine Beischläferinnen aus dem Bürgerstand nahm! Reklamiert als eines eurer köstlichsten Privilegien das Recht, den Auserwählten des KAPITALS Kurtisanen zu stellen! Schon beginnt eine immer größere Zahl von euch, sich über die tristen Pflichten der Gattin hinwegzusetzen und sich gleich Kurtisanen zu verkaufen, aber sie tun es noch heimlich, heucheln noch dabei. Schüttelt das Joch der altmodischen, idiotenhaften Vorurteile, das höchstens für Sklavinnen paßt, von euch ab, werft es zu Boden, tretet es mit Füßen. GOTT-KAPITAL hat der Welt eine neue Moral gegeben, er hat das Dogma der menschlichen Freiheit proklamiert. Und wie erlangt man die Freiheit? Dadurch, daß man das Recht erobert, sie zu verkaufen! Befreit euch von dem Ehejoch, indem ihr euch verkauft!

In der kapitalistischen Gesellschaft gibt es keine ehrenvollere Aufgabe als die der Kurtisane! Blickt um euch, betrachtet die Arbeit der Näherin, der Stickerin, der Spinnerin usw. und vergleicht mit derselben die der Kurtisane. Nach ihrem langen, eintönigen Arbeitstag seht ihr die Arbeiterin, blaß und abgerackert, einen dürftigen Lohn in der mageren Hand, der gerade hinreicht, sie am Verhungern zu hindern. Die Kurtisane hingegen erhebt sich frisch und munter, wie ein junger Gott, von ihrem Bett oder Kanapee, schüttelt ihr parfümiertes Lockenhaar und zählt nachlässig ihre Goldfüchse und Banknoten. Ihr breitgestirnten Philosophen, die ihr nur die alte, abgelebte Moral wiederzukäuen wißt, sagt doch, welche Arbeit ist unserem Gott angenehmer; die der Arbeiterin oder die der Kurtisane? Das KAPITAL beweist seine Achtung vor einer Sache durch den Preis, um den es ihr gestattet, sich zu verkaufen. Nun, ihr scheinheiligen Moralpriester, welche Arbeit der Hand oder des Kopfes wird so hoch bezahlt, wie die des Geschlechtes? Sind das Wissen des Gelehrten, der Mut des Soldaten, der Geist des Schriftstellers, die Geschicklichkeit des Arbeiters je annäherend so hoch bezahlt worden wie die Umarmungen einer Cora Pearl? [17]

Die Arbeit der Kurtisane ist eine geheiligte Arbeit, die Gott höher belohnt als jede andere.

Teuerste Schwestern, hört mich an, Gott spricht aus meinem Munde:

Wenn ihr so gottverlassen seid, die erdrückende, Geist und Körper abrackernde Arbeit der Fabriksklavin nicht zu verabscheuen, das vegetierende Dasein der in der Familie zu klösterlicher Haft und zur schmutzigen Sparsamkeit verdammten Hausfrau zu ersehnen, als Einsiedlerin am häuslichen Herd zu sitzen, während der Mann eure Mitgift zur Kurtisane schleppt, so prostituiert euch nicht!

Wenn ihr aber auf euer Glück sinnt, so prostituiert euch!

Wenn ihr zuviel Adel der Seele in euch fühlt, um die erniedrigenden Mühen der Arbeiterin und das verdummende Dasein der Hausfrau auf euch zu nehmen, so prostituiert euch!

Wenn ihr die Königin der Feste und Freuden der Zivilisation sein wollt, so prostituiert euch!

Das ist die Gnade, die ich euch wünsche. Amen!

 

 

Anmerkungen

1. * Um die Einleitung verkürztes Kapitel III. aus Lafargues Satire Die Religion des Kapitals. Der Text folgt der deutschen Erstausgabe: Paul Lafargue, Die Religion des Kapitals, London 1890. Bearbeiter: Kurt Lhotzky.

2. * Maria Magdalena war die Begleiterin Jesu. Sie ist die Schutzpatronin der Büßerinnen und Prostituierten.

3. Nach einem Bericht in Herodots Geschichte müßte „jede Frau [...] sich einmal in ihrem Leben [...] einem Fremden preisgeben“ und zwar, indem sie sich an einem bestimmten Tag vor den Tempel setzte und mit jedem schlief, der ihr ein Geldstück zuwarf, sie mit der anrede ansprach: „Im Namen der Mylitta, komm!“ * Herodots Schilderung (I, 199) bezieht sich auf die babylonische Göttin „Belet-ili [Herrin der Götter]“. Weitere Beispiele für „Tempelprostitution“ finden sich in W.H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884-1886, I, 390ff.

4. * 524 v.u.Z wurde Buddha in die Hauptstadt der Licchavi-Republik Vesali (heute Vaishali im Norden Indiens nahe der Grenze zu Nepal) gerufen, um der Bevölkerung gegen Trockenheit und Cholera zu helfen: „In der berühmten indischen Stadt Vesali war die Ehe untersagt, und die Dame, die als Vorsteherin der Hetären ein öffentliches Haus hielt, nahm einen hohen Rang ein“. Buddha „erhielt eine Wohnung in einem Garten, der der Vorsteherin der Hetären gehörte. Er empfing den Besuch dieser vornehmen Frau, die in prächtigem Wagen zu ihm gefahren kam. Nachdem sie sich ihm genähert und sich vor ihm verneigt hatte, setzte sie sich an seine Seite und lauschte seiner Rede über Drahma. [...] Als sie wiederum zur Stadt zurückkehrte, begegnete sie den im prächtigen Aufzuge daherfahrenden Fürsten von Vesali; allein deren Equipagen machten der ihrigen Platz. Sie baten sie, ihnen die Ehre der Bewirtung Sakyamunis [Buddhas] zu überlassen; doch verweigerte sie ihnen diesen Wunsch, und als der große Mann selbst von den Herrschern in eigener Person ersucht wurde, war er ebenfalls nicht zu bewegen, sein freundschaftliches Übereinkommen mit der Dame aufzuheben“ (Mrs. Spier’s Life in Ancient India, 281; zit. nach F. Müller-Lyer, Die Familie, München 1921, 34).

5. Der Legat des Papstes spielt hier zweifelsohne auf den Satz im Buch der Könige an: „Die Wohnungen der männlichen und weiblichen Buhlen, die sich im Tempel des Herrn befanden [...], ließ er [Josia] niederreißen (2. Buch der Könige; XXIII, 7). Im tempel der Mylitta hatten babylons Prostituierte änliche Quartiere. * Weitere Beispiele für „Tempelprostitution“ finden sich in W.H. Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884-1886, I, 390ff. * „Im späten Mittelalter besaß nahezu jede Stadt ein Bordell [...] und beziehungsvoller Weise lag es meist in einer Seitengasse neben der Kirche“ (Karlheinz deschner, Das Kreuz mit der Kirche, Düsseldorf-Wien, 1990, 396).

6. * Zu den Konzilen in Konstanz (1414-1418) und Basel (1431-1441) eilten angeblich 1.500 Huren. Rom war in der Renaissance von Dirnen überflutet: 1490 gab es nach einer ziemlich zuverlässigen Statistik 6.800 „Honorarjungfrauen“ – was bei noch nicht 100.000 Einwohner bedeutet, daß sich jede siebente Römerin prostituierte. Die Päpste Sixtus IV. (1471-1484) und Julius II. errichteten selbst Bordelle. Sixtus, der sich selbst Sexualexzessen hingab, bezog von seinen Dirnen eine Steu„r von 20.000 Dukaten im Jahr, sein Neffe Kardinal Pietro Riario hurte sich buchstäblich zu Tode (Karlheinz Deschner, a.a.O. [siehe Anm.5] S.395-7). im 20. Jahrhundert ist man diskreter: „Pius XII. (1939-1958) wetteiferte mit der im Blütenalter von 23 Jahren engagierten Nonne Pasqualina Lehnert, wer zuerst das Licht ausknipst“ (Karlheinz Deschner, Ein Jahrhundert Heilsgeschichte, Köln 1982, 14).

7. Durch ihre Heirat mit Justinian (527-565) wurde die Hetäre Theodora (502-548) oströmische Kaiserin.

8. * Zum Beispiel wurde Imperia da Ferrara (1481-1512), die sich selbst „nobilissimum Romae scortum“ (die edelste Hure Roms) nannte, von Raffael porträtiert.

9. * Semiramis war von 811-807 vor unserer Zeitrechnung Königin von Assyrien (vgl. Herodot I, 184).

10. * Jerusalem war schon im 4. Jahrhundert „Brutstätte sittenlosester Ausbrüche“. „Der erste Troubadour, Graf Wilhelm IX., war bei seinem Kreuzzug von einem solchen Nuttenschwarm umgeben, daß Chronisten das Mißglücken der Expedition auf seine sexuelle Beanspruchung zurückführten [...] Die Tempelritter, die Buchhalter der Kreuzfahrer, zählten in einem einzigen Jahr 1.300 Strichdamen [...]“ (Karlheinz Deschner, Das Kreuz mit der Kirche [Siehe Anm.5], 394-5). Vgl. Pierre Dufour, Geschichte der Prostitution, Berlin o.J., IV, 77ff.

11. * Im Detail wird diese Vorbereitungsarbeit in Luxus und Kapitalismus (München-Leipzig 1892) von Werner sombart beschrieben.

12. * „Just im November 1987 wollte Mr. Ronal Li mit seinem ‚Club Volvo‘, dem größten Hongkonger Bordell mit über 1.000 Prostituierten, an die Börse gehen [...]“. Skeptischen „Dividendenhaien hatte Mr. Li die überzeugende Antwort gegeben: ‚Was ist mit den Fast-Food-Restaurants wie McDonalds? Deren Fleischbestand hält nur wenige Tage. Und doch sind diese Firmen börsengängig.‘ Das Projekt scheiterte – vorerst [am Börsenkrach]“ (Winfried Wolf, Casino-Kapitalismus; in Ernest Mandel/Winfried Wolf, Krach und Krise, Frankfurt 1988, 7).

13. * Nach dem Drama Die Kameliendame von Alexandre Dumas dem Jüngeren (1824-1894).

14. * Die Kurtisane Veronica Franco (1546-1591) war die Geliebte Tizians; Ninon de Lenclos (1620-1705) begründete die Mode der Salons, unterstützte Molière und hinterließ Voltaire ein Vermächtnis.

15. Die Verfasser der Predigt zeigen sich hier von einem Gedankengang August Comte's durchdrungen. Der Stifter des Positivismus prophezeite die Bildung einer höheren Frauenrasse, die von der Schwangerschaft und Zeugung befreit sein würde. Die Kurtisane verwirklicht das Ideal des berühmten Bourgeois-Philosophen.

16. * Unter Ludwig XV. (1710-1774), der bereits mit fünf Jahren den Thron bestieg, wurden die französischen Staatsfinanzen total zerrüttet; Mätressen – vor allem die Pompadour und die Dubarry – bestimmten die Politik.

17. * Die „cocotte“ Cora Pearl (?-1886) hatte unzählige Affären mit Männern der Gesellschaft. Ihr prominentester Liebhaber war Prinz Napoleon (1822-1891), genannt „Plon-Plon“, der Sohn von Jérôme, dem jüngeren Bruder von Napoleon I. (vgl. Friedrich Engels/Paul und Laura Lafargue, Correspondence, (englisch), Moskau 1960, Bd.II, S.360).

 


Zuletzt aktualisiert am 23.8.2003