W.I. Lenin

 

Was tun?

 

II
Spontaneität der Massen und Bewußtheit der Sozialdemokratie

Wir sagten, daß unsere Bewegung, die viel breiter und tiefer ist als die der siebziger Jahre, mit der gleichen rückhaltlosen Entschlossenheit und Tatkraft wie damals erfüllt werden muß. Und wirklich, bisher scheint niemand daran gezweifelt zu haben, daß die Stärke der heutigen Bewegung im Erwachen der Massen (und von allen des Industrieproletariats) besteht, ihre Schwäche aber in Mangel an Bewußtheit und Initiative bei den revolutionären Führern.

In der allerletzten Zeit wurde jedoch eine sensationelle Entdeckung gemacht, die alle bisher herrschenden Ansichten in dieser Frage auf den Kopf zu stellen droht. Diese Entdeckung hat das Rabotscheje Delo gemacht, das in seiner Polemik gegen die Iskra und die Sarja sich nicht allein auf einzelne Einwände beschränkte, sondern den Versuch unternahm, die „allgemeine Meinungsverschiedenheit“ auf eine tieferliegende Wurzel zurückzuführen, und zwar auf die „verschiedene Bewertung der relativen Bedeutung des spontanen und des bewußt ‚planmäßigen‘ Elements“. Die Anklagethese des Rabotscheje Delo lautet: „Unterschätzung des objektiven oder spontanen Elements der Entwicklung.“ [A] Darauf wollen wir erwidern: Hätte die Polemik der Iskra und der Sarja absolut kein anderes Resultat gezeitigt, als das Rabotscheje Delo zu bewegen, diese „allgemeine Meinungsverschiedenheit“ zu entdecken, so würde uns schon allein dieses Resultat große Befriedigung gewähren: so vielbedeutend ist diese These, ein so grelles Licht wirft sie auf das ganze Wesen der heutigen theoretischen und politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den russischen Sozialdemokraten.

Das ist der Grund, warum die Frage, in welchem Verhältnis die Bewußtheit zur Spontaneität steht, von gewaltigem allgemeinem Interesse ist, und diese Frage müssen wir sehr eingehend behandeln.

 

 

a) Der Beginn des spontanen Aufschwungs

Wir haben im vorhergehenden Kapitel hervorgehoben, daß die gebildete russische Jugend um die Mitte der neunziger Jahre von einer allgemeinen Begeisterung für die Theorie des Marxismus erfaßt war. Einen ebenso allgemeinen Charakter hatten um ungefähr dieselbe Zeit, nach dem berühmten Petersburger Industriekrieg von 1896, die Arbeiterstreiks angenommen. Ihre Ausbreitung über ganz Rußland zeugte deutlich von der Tiefe der neu einsetzenden Volksbewegung, und wenn man schon vom „spontanen Element“ reden will, so wird man natürlich vor allem gerade diese Streikbewegung als spontan kennzeichnen müssen. Aber es gibt Spontaneität und Spontaneität. Streiks gab es in Rußland auch in den siebziger und in den sechziger Jahren (ja sogar in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts), und sie waren begleitet von „spontaner“ Maschinenstürmerei u.dgl. Verglichen mit diesen „Rebellionen“ kann man die Streiks der neunziger Jahre sogar als „bewußt“ bezeichnen – so bedeutend ist der Schritt vorwärts, den die Arbeiterbewegung in dieser Zeit getan hat. Dies zeigt uns, daß das „spontane Element“ eigentlich nichts anderes darstellt als die Keimform der Bewußtheit. Auch die primitiven Rebellionen brachten schon ein gewisses Erwachen des Bewußtseins zum Ausdruck: die Arbeiter verloren den uralten Glauben an die Unerschütterlichkeit der sie unterdrückenden Ordnung, sie begannen die Notwendigkeit einer kollektiven Abwehr ... ich will nicht sagen zu verstehen, so doch zu empfinden, und brachen entschieden mit der sklavischen Unterwürfigkeit vor der Obrigkeit. Aber das war dennoch viel eher Ausdruck der Verzweiflung und Rache als Kampf. Die Streiks der neunziger Jahre zeigen schon viel mehr Symptome der Bewußtheit: es werden bestimmte Forderungen aufgestellt, es wird im voraus erwogen, welcher Zeitpunkt der beste ist, es werden bestimmte Fälle und Beispiele aus anderen Orten erörtert usw. Waren die Rebellionen lediglich eine Auflehnung unterdrückter Menschen, so stellten die systematischen Streiks bereits Keimformen des Klassenkampfes dar, aber eben nur Keimformen. An und für sich waren diese Streiks ein trade-unionistischer und noch kein sozialdemokratischer Kampf; sie kennzeichneten das Erwachen des Antagonismus zwischen den Arbeitern und den Unternehmern, aber den Arbeitern fehlte – und mußte auch fehlen – die Erkenntnis der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen System, das heißt, es fehlte ihnen das sozialdemokratische Bewußtsein. In diesem Sinne blieben die Streiks der neunziger Jahre, trotz ihres gewaltigen Fortschritts im Vergleich zu den „Rebellionen“, eine rein spontane Bewegung.

Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein gar nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeugt davon, daß die Arbeiterklasse ausschließlich aus eigener Kraft. nur ein trade-unionistisches Bewußtsein hervorzubringen vermag, d.h. die Überzeugung von der Notwendigkeit, sich in Verbänden zusammenzuschließen, einen Kampf gegen die Unternehmer zu führen, der Regierung diese oder jene für die Arbeitet notwendigen Gesetze abzutrotzen u.a.m. [B] Die Lehre des Sozialismus ist hingegen aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, ausgearbeitet wurden. Auch die Begründer des modernen wissenschaftlichen Sozialismus, Marx und Engels, gehörten ihrer sozialen Stellung nach der bürgerlichen Intelligenz an. Ebenso entstand auch in Rußland die theoretische Lehre der Sozialdemokratie ganz unabhängig von dem spontanen Anwachsen der Arbeiterbewegung, entstand als natürliches und unvermeidliches Ergebnis der ideologischen Entwicklung der revolutionären sozialistischen Intelligenz. Zu der Zeit, von der wir sprechen, d.h. um die Mitte der neunziger Jahre, war diese Lehre nicht nur das bereits völlig ausgereifte Programm der Gruppe „Befreiung der Arbeit“, sondern sie hatte auch die Mehrheit der revolutionären Jugend in Rußland für sich gewonnen.

Es gab also sowohl ein spontanes Erwachen der Arbeitermassen, ein Erwachen zu bewußtem Leben und bewußtem Kampf, als auch eine mit der sozialdemokratischen Theorie gewappnete revolutionäre Jugend, die es stürmisch zu den Arbeitern hinzog. Dabei ist es besonders wichtig, die oft vergessene (und verhältnismäßig wenig bekannte) Tatsache festzuhalten, daß die ersten Sozialdemokraten dieser Periode, die sich eifrig mit ökonomischer Agitation befaßten (und in dieser Hinsicht den wirklich nützlichen Weisungen der damals erst als Manuskript vorliegenden Broschüre Über Agitation [25] durchaus Rechnung trugen), keineswegs diese Agitation als ihre einzige Aufgabe betrachteten, sondern, im Gegenteil, von Anfang an auch die weitestgehenden geschichtlichen Aufgaben der russischen Sozialdemokratie überhaupt und im besonderen die Aufgabe, die Selbstherrschaft zu stürzen, in den Vordergrund stellten. So wurde zum Beispiel von der Gruppe der Petersburger Sozialdemokraten, die den „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse“ gründete, schon Ende 1895 die erste Nummer einer Zeitung mit dem Titel Rabotscheje Delo zusammengestellt. Die bereits druckreife Nummer wurde in der Nacht vom 8. zum 9. Dezember 1895 während einer Haussuchung bei einem der Mitglieder der Gruppe, Anat. Alex. Wanejew [C], von Gendarmen beschlagnahmt, und das Rabotscheje Delo erster Fassung sollte nie das Licht der Welt erblicken. Der Leitartikel dieses Blattes (den in dreißig Jahren vielleicht irgendeine Russkaja Starina aus den Archiven des Polizeidepartements ausgraben wird) umriß die historischen Aufgaben der Arbeiterklasse in Rußland und stellte die Eroberung der politischen Freiheit an die Spitze dieser Aufgaben. [26] Ferner standen in dieser Nummer ein Artikel, „Woran denken unsere Minister?“ [27], der sich mit der Zerschlagung der Komitees für Elementarbildung durch die Polizei befaßte, sowie eine Reihe von Zuschriften nicht allein aus Petersburg, sondern auch aus anderen Gegenden Rußlands (z.B. über das Blutbad unter den Arbeitern im Gouvernement Jaroslawl). Dieser, wenn wir nicht irren, „erste Versuch“ der russischen Sozialdemokraten der neunziger Jahre war somit eine Zeitung, die keinen eng lokalen und noch weniger einen „ökonomischen“ Charakter trug, sondern bestrebt war, die Streikkämpfe mit der revolutionären Bewegung gegen die Selbstherrschaft zu vereinigen und alle durch die Politik der reaktionären Dunkelmänner Unterdrückten für die Unterstützung der Sozialdemokratie zu gewinnen. Niemand, der den Zustand der Bewegung in jener Zeit auch nur einigermaßen kennt, wird daran zweifeln, daß eine solche Zeitung sowohl die ungeteilte Sympathie der Arbeiter der Hauptstadt und der revolutionären Intelligenz als auch weiteste Verbreitung gefunden hätte. Der Mißerfolg des Unternehmens bewies nur, daß die damaligen Sozialdemokraten nicht imstande waren, den dringenden Erfordernissen des Augenblicks gerecht zu werden, da es ihnen an revolutionärer Erfahrung und praktischer Schulung gebrach. Das gleiche ist von dem S.-Peterburgski Rabotschi Listok und insbesondere von der Rabotschaja Gaseta und dem Manifest der im Frühjahr 1898 gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands zu sagen. Selbstverständlich fällt es uns nicht ein, diese mangelnde Schulung den damaligen Führern zum Vorwurf zu machen. Um aber die Erfahrungen der Bewegung auszunutzen und aus diesen Erfahrungen praktische Lehren zu ziehen, muß man sich über die Ursachen und die Bedeutung dieses oder jenes Mangels volle Rechenschaft geben. Darum ist es außerordentlich wichtig, festzustellen, daß ein Teil (vielleicht sogar die Mehrheit) der in den Jahren 1895 bis 1898 wirkenden Sozialdemokraten schon damals, ganz zu Beginn der „spontanen“ Bewegung, es durchaus mit Recht für möglich hielt, ein Programm und eine Kampftaktik mit weitgesteckten Zielen zu vertreten. [D] Die mangelnde Schulung der meisten Revolutionäre konnte, da sie eine durchaus natürliche Erscheinung war, keine besonderen Befürchtungen erregen. Waren einmal die Aufgaben richtig gestellt, war die Tatkraft vorhanden, um die Versuche, diese Aufgaben zu erfüllen, zu wiederholen, so konnten vorübergehende Mißerfolge nur ein halbes Übel sein. Revolutionäre Erfahrung und organisatorische Geschicklichkeit sind Dinge, die man erwerben kann. Man muß nur den Willen haben, die erforderlichen Eigenschaften in sich zu entwickeln! Man muß die Fehler nur einsehen, diese Einsicht ist in revolutionären Dingen schon mehr als die halbe Besserung!

Aber das halbe Übel wurde zu einem ganzen, als diese Einsicht zu schwinden begann (bei den Mitgliedern der obengenannten Gruppen war sie sehr lebendig gewesen), als Leute – und sogar sozialdemokratische Organe – auftauchten, die bereit waren, aus der Not eine Tugend zu machen, die versuchten, ihre sklavische Anbetung der Spontaneität sogar theoretisch zu begründen. Es ist jetzt an der Zeit, das Fazit aus dem Wirken dieser Richtung zu ziehen, deren Inhalt sehr ungenau mit dem für sie zu engen Begriff „Ökonomismus“ gekennzeichnet wird.

 

 

Fußnoten von Lenin

A. Rabotscheje Delo Nr.10, September 1901, S.17 und 18. Hervorgehoben vom Rabotscheje Delo.

B. Der Trade-Unionismus schließt keineswegs, wie man manchmal glaubt, jede „Politik“ aus. Die Trade-Unions haben stets eine gewisse (aber nicht sozialdemokratische) politische Agitation und einen gewissen politischen Kampf geführt. Vom Unterschied zwischen trade-unionistischer und sozialdemokratischer Politik sprechen wir im nächsten Kapitel.

C. A.A. Wanejew starb im Jahre 1899 in Ostsibirien an der Schwindsucht, die er sich in der Einzelhaft im Untersuchungsgefängnis geholt hatte. Wir hielten es deshalb für möglich, die hier angeführten Tatsachen zu veröffentlichen; für ihre Richtigkeit leisten wir Gewähr, denn sie stammen von Personen, die A.A. Wanejew unmittelbar gekannt und ihm sehr nahegestanden haben.

D. „Zur Tätigkeit der Sozialdemokraten Ende der neunziger Jahre verhält sich die Iskra ablehnend und ignoriert, daß damals die Bedingungen für eine andere Arbeit als den Kampf für kleine Forderungen nicht gegeben waren“, erklären die „Ökonomisten“ in ihrem Brief an die russischen sozialdemokratischen Organe (Iskra Nr.12). Die im Text angeführten Tatsachen beweisen, daß diese Behauptung, es waren nicht die Bedingungen gegeben“, im diametralen Gegensatz zur Wahrheit steht. Nicht nur am Ende, sondern auch um die Mitte der neunziger Jahre waren durchaus alle Bedingungen für eine andere Tätigkeit, nicht nur für den Kampf um kleine Forderungen vorhanden, alle Bedingungen mit Ausnahme der ausreichenden Schulung der Führer. Aber anstatt nun offen einzugestehen, daß es uns, den Ideologen, den Führern, an Schulung mangelte, suchen die „Ökonomisten“ alles auf das „Fehlen der Bedingungen“ abzuwälzen, auf den Einfluß des materiellen Milieus, das den Weg bestimme, von dem kein Ideologe die Bewegung abbringen könne. Was ist das anderes als sklavische Kriecherei vor der Spontaneität? als ein Verliebtsein der „Ideologen“ in ihre Mängel?

 


Zuletzt aktualisiert am 21.1.2004