W.I. Lenin

 

Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus

(Oktober 1916)


Geschrieben im Oktober 1916.
Veröffentlicht im Dezember 1916 im Sbornik Sozial-Demokrata, Nr.2.
Unterschrift: N. Lenin.
Nach dem Text des Sbornik Sozial-Demokrata.
Lenin, Werke, Bd.23, Berlin 1957, S.102-118.
Kopiert mit Dank von der jetzt verschwundenen Webseite Marxistische Bibliothek.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Imperialismus und jenem ungeheuerlich widerwärtigen Sieg, den der Opportunismus (in Gestalt des Sozialchauvinismus) über die Arbeiterbewegung in Europa davongetragen hat?

Das ist die Grundfrage des heutigen Sozialismus. Und nachdem wir 1. den imperialistischen Charakter unserer Epoche und des gegenwärtigen Krieges, 2. den unlösbaren historischen Zusammenhang zwischen Sozialchauvinismus und Opportunismus wie auch ihren gleichen ideologisch-politischen Gehalt in unserer Parteiliteratur einwandfrei festgestellt haben, können und müssen wir zur Analyse dieser Grundfrage übergehen.

Wir müssen mit einer möglichst genauen und vollständigen Definition des Imperialismus beginnen. Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus. Der Monopolismus tritt in fünf Hauptformen zutage:

  1. Kartelle, Syndikate und Truste; die Konzentration der Produktion hat eine solche Stufe erreicht, daß sie diese monopolistischen Kapitalistenverbände hervorgebracht hat;
  2. die Monopolstellung der Großbanken: drei bis fünf Riesenbanken beherrschen das ganze Wirtschaftsleben Amerikas, Frankreichs, Deutschlands;
  3. die Besitzergreifung der Rohstoffquellen durch die Truste und die Finanzoligarchie (Finanzkapital ist das mit dem Bankkapital verschmolzene monopolistische Industriekapital);
  4. die (ökonomische) Aufteilung der Welt durch internationale Kartelle hat begonnen. Solcher internationalen Kartelle, die den gesamten Weltmarkt beherrschen und ihn „gütlich“ unter sich teilen – solange er durch den Krieg nicht neu verteilt wird –, gibt es schon über hundert! Der Kapitalexport, als besonders charakteristische Erscheinung zum Unterschied vom Warenexport im nicht-monopolistischen Kapitalismus, steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und der politisch-territorialen Aufteilung der Welt;
  5. die territoriale Aufteilung der Welt (Kolonien) ist abgeschlossen.

Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus Amerikas und Europas und in der Folge auch Asiens hat sich in den Jahren 1898 bis 1914 voll herausgebildet. Der Spanisch-Amerikanische Krieg (1898), der Burenkrieg (1899-1902), der Russisch-Japanische Krieg (1904-1905) und die Wirtschaftskrise in Europa im Jahre 1900 – das sind die wichtigsten historischen Marksteine der neuen Epoche der Weltgeschichte.

Daß der Imperialismus parasitärer oder faulender Kapitalismus ist, zeigt sich vor allem in der Tendenz zur Fäulnis, die jedes Monopol auszeichnet, wenn Privateigentum an den Produktionsmitteln besteht. Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie verwischt sich gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault (was eine erstaunlich rasche Entwicklung des Kapitalismus in einzelnen Industriezweigen, in einzelnen Ländern, in einzelnen Perioden keineswegs ausschließt). Zweitens zeigt sich der Fäulnisprozeß des Kapitalismus in der Entstehung einer gewaltigen Schicht von Rentiers, Kapitalisten, die vom „Kuponschneiden“ leben. In den vier fortgeschrittensten imperialistischen Ländern – England, Nordamerika, Frankreich und Deutschland – beträgt das in Wertpapieren angelegte Kapital je 100 bis 150 Milliarden Francs, was ein Jahreseinkommen von nicht weniger als 5 bis 8 Milliarden je Land bedeutet. Drittens ist Kapitalexport Parasitismus ins Quadrat erhoben. Viertens „will das Finanzkapital nicht Freiheit, sondern Herrschaft“. Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus. Korruption, Bestechung im Riesenausmaß, Panamaskandale jeder Art. Fünftens verwandelt die Ausbeutung der unterdrückten Nationen, die untrennbar mit Annexionen verbunden ist, und insbesondere die Ausbeutung der Kolonien durch ein Häuflein von „Groß“mächten die „zivilisierte“ Welt immer mehr in einen Schmarotzer am Körper der nichtzivilisierten Völker, die viele hundert Millionen Menschen zählen. Der römische Proletarier lebte auf Kosten der Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft lebt auf Kosten des modernen Proletariers. Dieses treffende Wort Sismondis pflegte Marx besonders hervorzuheben. Der Imperialismus verändert die Sache etwas. Die privilegierte Oberschicht des Proletariats der imperialistischen Mächte lebt zum Teil auf Kosten der vielen Hundert Millionen Menschen der nichtzivilisierten Völker.

Es ist begreiflich, warum der Imperialismus sterbender Kapitalismus ist, den Übergang zum Sozialismus bildet: das aus dem Kapitalismus hervorwachsende Monopol ist bereits das Sterben des Kapitalismus, der Beginn seines Übergangs in den Sozialismus. Die gewaltige Vergesellschaftung der Arbeit durch den Imperialismus (das, was seine Apologeten, die bürgerlichen Ökonomen, „Verflechtung“ nennen) hat dieselbe Bedeutung.

Mit dieser Definition des Imperialismus geraten wir in vollen Widerspruch zu K. Kautsky, der es ablehnt, im Imperialismus eine „Phase des Kapitalismus“ zu sehen, und der den Imperialismus als die Politik definiert, die vom Finanzkapital „bevorzugt“ wird, als das Streben der „industriellen“ Länder, „agrarische“ Länder zu annektieren. Diese Definition Kautskys ist theoretisch durch und durch falsch. Die Besonderheit des Imperialismus ist die Herrschaft eben nicht des Industrie-, sondern des Finanzkapitals, das Streben, eben nicht nur Agrarländer, sondern beliebige Länder zu annektieren. Kautsky trennt die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik, trennt den Monopolismus in der Politik von dem Monopolismus in der Ökonomik, um seinem platten bürgerlichen Reformismus wie „Abrüstung“, „Ultraimperialismus“ und ähnlichem Unsinn den Weg zu ebnen. Sinn und Zweck dieser theoretischen Fälschung läuft einzig und allein darauf hinaus, die tiefsten Widersprüche des Imperialismus zu vertuschen und auf diese Weise die Theorie der „Einheit“ mit den Apologeten des Imperialismus, den offenen Sozialchauvinisten und Opportunisten, zu rechtfertigen.

Auf diesen Bruch Kautskys mit dem Marxismus sind wir sowohl im Sozial-Demokrat wie auch im Kommunist schon hinreichend eingegangen. Unsere russischen Kautskyaner, die OK-Leute mit Axelrod und Spektator an der Spitze, Martow und in beträchtlichem Maße Trotzki nicht ausgenommen, haben es vorgezogen, die Frage des Kautskyanertums als Richtung mit Schweigen zu übergehen. Was Kautsky während des Krieges geschrieben hat, wagten sie nicht zu verteidigen und versuchten die Sache entweder einfach mit einem Loblied auf Kautsky abzutun (Axelrod in seiner deutschen Broschüre, die das OK russisch zu veröffentlichen versprach) oder (wie Spektator) mit Hinweisen auf Privatbriefe Kautskys, in denen er versichert, daß er zur Opposition gehöre, und wie ein Jesuit seine chauvinistischen Erklärungen zu bagatellisieren sucht.

Es sei erwähnt, daß Kautskys „Auffassung“ vom Imperialismus – die gleichbedeutend ist mit Beschönigung des Imperialismus – nicht nur im Vergleich zu Hilferdings Finanzkapital ein Rückschritt ist (wie eifrig auch Hilferding jetzt Kautsky und die „Einheit“ mit den Sozialchauvinisten verteidigen mag!), sondern auch im Vergleich zu dem Sozialliberalen J.A. Hobson. Dieser englische Ökonom, der nicht den leisesten Anspruch darauf erhebt, Marxist zu sein, gibt uns in seinem Werk aus dem Jahre 1902 eine viel tiefer schürfende Definition des Imperialismus und enthüllt viel gründlicher dessen Widersprüche. Sehen wir, was dieser Schriftsteller (bei dem man fast alle pazifistischen und „versöhnlerischen“ Plattheiten Kautskys finden kann) zu der besonders wichtigen Frage des parasitären Charakters des Imperialismus schreibt:

Zweierlei Umstände haben nach Hobsons Meinung die Macht der alten Imperien geschwächt:

  1. der „ökonomische Parasitismus“ und
  2. die Aufstellung von Armeen aus Angehörigen der abhängigen Völker.

„Der erste Umstand ist die Gepflogenheit des ökonomischen Parasitismus, die darin besteht, daß der herrschende Staat seine Provinzen, Kolonien und die abhängigen Länder ausnutzt, um seine herrschende Klasse zu bereichern und die Fügsamkeit seiner unteren Klassen durch Bestechung zu erkaufen.“

Über den zweiten Umstand schreibt Hobson:

„Zu den seltsamsten Symptomen der Blindheit des Imperialismus“ (im Munde des Sozialliberalen Hobson ist dieses Liedchen von der „Blindheit“ der Imperialisten eher am Platz als bei dem „Marxisten“ Kautsky) „gehört die Sorglosigkeit, mit der Großbritannien, Frankreich und andere imperialistische Nationen diesen Weg beschreiten. Großbritannien ist am weitesten gegangen. Die meisten Schlachten, durch die wir unser indisches Reich erobert haben, sind von unseren Eingeborenenarmeen ausgefochten worden; in Indien, und in letzter Zeit auch in Ägypten, sind große stehende Heere dem Kommando von Briten unterstellt; fast alle unsere Kriege, die mit der Unterwerfung Afrikas – mit Ausnahme seines südlichen Teils – zusammenhängen, wurden von Eingeborenen für uns geführt.“

Die Perspektive einer Aufteilung Chinas veranlaßte Hobson zu folgender ökonomischer Einschätzung:

„Der größte Teil Westeuropas könnte dann das Aussehen und den Charakter annehmen, die einige Gegenden in Südengland, an der Reviera sowie in den von Touristen am meisten besuchten und von reichen Leuten bewohnten Teilen Italiens und der Schweiz bereits haben: ein Häuflein reicher Aristokraten, die Dividenden und Pensionen aus dem Fernen Osten beziehen, mit einer etwas größeren Gruppe von Angestellten und Händlern und einer noch größeren Anzahl von Dienstboten und Arbeitern im Transportgewerbe und in den letzten Stadien der Produktion leicht verderblicher Waren; die wichtigsten Industrien wären verschwunden, die Lebensmittel und Industriefabrikate für den Massenkonsum würden als Tribut aus Asien und Afrika kommen.“

“Wir haben die Möglichkeit einer noch umfassenderen Vereinigung der westlichen Länder angedeutet, eine europäische Föderation der Großmächte, die, weit entfernt, die Sache der Weltzivilisation voranzubringen, die ungeheure Gefahr eines westlichen Parasitismus heraufbeschwören könnte: eine Gruppe fortgeschrittener Industrienationen, deren obere Klassen aus Asien und Afrika gewaltige Tribute beziehen und mit Hilfe dieser Tribute große Massen gefügigen Personals unterhalten, die nicht mehr in der Produktion von landwirtschaftlichen und industriellen Massenerzeugnissen, sondern mit persönlichen Dienstleistungen oder untergeordneter Industriearbeit unter der Kontrolle einer neuen Finanzaristokratie beschäftigt werden. Mögen diejenigen, die eine solche Theorie“ (es müßte heißen: Perspektive) „als nicht der Erwägung wert verächtlich abtun, die heutigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in jenen Bezirken Südenglands untersuchen, die schon jetzt in eine solche Lage versetzt sind, und mögen sie darüber nachdenken, welch gewaltiges Ausmaß ein derartiges System annehmen würde, wenn China der ökonomischen Herrschaft ähnlicher Gruppen von Finanziers, von Investoren“ (Rentiers), „von Beamten in Staat und Wirtschaft unterworfen würde, die das größte potentielle Profitreservoir, das die Welt je gekannt hat, ausschöpfen würden, um diesen Profit in Europa zu verzehren. Die Situation ist viel zu kompliziert, das Spiel der Weltkräfte viel zu unberechenbar, als daß diese oder irgendeine andere Zukunftsdeutung als einzige mit Sicherheit zutreffen müßte. Aber die Einflüsse, die den Imperialismus Westeuropas gegenwärtig beherrschen, bewegen sich in dieser Richtung, und wenn sie nicht auf Widerstand stoßen, wenn sie nicht in eine andere Richtung gedrängt werden, dann bewegen sie sich auf dieses Ziel zu.“

Der Sozialliberale Hobson sieht nicht, daß diesen „Widerstand“ nur das revolutionäre Proletariat leisten kann, und nur in der Form der sozialen Revolution. Dafür ist er eben ein Sozialliberaler! Aber er erfaßte schon im Jahre 1902 ausgezeichnet die Bedeutung sowohl der Frage der „Vereinigten Staaten von Europa“ (dem Kautskyaner Trotzki zur Kenntnis!) als auch alles dessen, was die heuchlerischen Kautskyaner der verschiedenen Ländern vertuschen, nämlich, daß die Opportunisten (Sozialchauvinisten) zusammen mit der imperialistischen Bourgeoisie eben darauf hinarbeiten, ein imperialistisches Europa auf dem Rücken Asiens und Afrikas zu schaffen, daß die Opportunisten objektiv jenen Teil der Kleinbourgeoisie und gewisser Schichten der Arbeiterklasse darstellen, der mittels der imperialistischen Extraprofite bestochen wird und in Kettenhunde des Kapitalismus, in Verderber der Arbeiterbewegung verwandelt worden ist.

Auf diesen ökonomischen, diesen tiefsten Zusammenhang zwischen gerade der imperialistischen Bourgeoisie und dem Opportunismus, der jetzt (auf wie lange wohl?) über die Arbeiterbewegung den Sieg davongetragen hat, haben wir nicht nur in Artikeln, sondern auch in den Resolutionen unserer Partei wiederholt hingewiesen. Wir folgerten daraus unter anderem die Unvermeidlichkeit des Bruchs mit dem Sozialchauvinismus. Unsere Kautskyaner zogen es vor, dieser Frage aus dem Wege zu gehen! Martow z.B. setzte schon in seinen Vorträgen jenen Sophismus in Umlauf, der in den Iswestija Sagranitschnowo Sekretariata OK (Nr.4 vom 10. April 1916) folgendermaßen ausgedrückt ist:

„... Es wäre um die Sache der revolutionären Sozialdemokratie sehr schlecht, ja hoffnungslos bestellt, wenn sich von ihr die in der geistigen, Entwicklung der ‚Intelligenz‘ am nächsten stehenden und qualifiziertesten Gruppen der Arbeiter fatalerweise abwendeten und zum Opportunismus übergingen ...“

Mit Hilfe des einfältigen Wörtchens „fatalerweise“ und einer „kleinen Schiebung“ wird die Tatsache umgangen, daß gewisse Schichten der Arbeiter zum Opportunismus und zur imperialistischen Bourgeoisie übergegangen sind! Die Sophisten des OK brauchen diese Tatsache ja nur zu umgehen! Sie versuchen die Sache mit jenem „amtlichen Optimismus“ abzutun, mit dem jetzt auch der Kautskyaner Hilferding und viele andere paradieren: die objektiven Bedingungen verbürgen ja die Einheit des Proletariats und den Sieg der revolutionären Strömung! Wir sind ja in bezug auf das Proletariat „Optimisten“!

Aber in Wirklichkeit sind sie, alle diese Kautskyaner, Hilferding, die OK-Leute, Martow und Co., Optimisten ... in bezug auf den Opportunismus. Das ist des Pudels Kern!

Das Proletariat ist ein Produkt des Kapitalismus – des Weltkapitalismus und nicht nur des europäischen, nicht nur des imperialistischen Kapitalismus. Im Weltmaßstab – ob 50 Jahre früher oder 50 Jahre später, das ist, in diesem Maßstab gesehen, eine Nebenfrage – „wird“ das „Proletariat“ selbstverständlich einheitlich sein, und innerhalb des Proletariats wird die revolutionäre Sozialdemokratie „unvermeidlich“ siegen. Nicht das ist die Frage, ihr Herren Kautskyaner, sondern es handelt sich darum, daß ihr jetzt in den imperialistischen Ländern Europas die Lakaien spielt für die Opportunisten, die dem Proletariat als Klasse fremd sind, die Diener, Agenten der Bourgeoisie, Schrittmacher ihres Einflusses sind, von denen sich die Arbeiterbewegung befreien muß, wenn sie nicht eine bürgerliche Arbeiterbewegung bleiben soll. Eure Predigt der „Einheit“ mit den Opportunisten, mit den Legien und David, den Plechanow oder Tschchenkeli und Potressow usw. ist objektiv eine Verteidigung der Versklavung der Arbeiter durch die imperialistische Bourgeoisie mit Hilfe ihrer besten Agenten in der Arbeiterbewegung. Der Sieg der revolutionären Sozialdemokratie im Weltmaßstab ist absolut unvermeidlich, aber nur gegen euch wird er sich anbahnen und vorwärtsschreiten, wird er erkämpft und errungen werden, er wird ein Sieg über euch sein.

Jene zwei Tendenzen, ja zwei Parteien in der modernen Arbeiterbewegung, die sich von 1914 bis 1916 in der ganzen Welt so deutlich voneinander geschieden haben, wurden von Engels und Marx in England im Verlauf mehrerer Jahrzehnte, ungefähr von 1858 bis 1892, beobachtet.

Weder Marx noch Engels haben die imperialistische Epoche des Weltkapitalismus erlebt, die erst in den Jahren 1898-1900 begonnen hat. Aber es war eine Besonderheit Englands schon seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, daß dort mindestens zwei der wichtigsten Merkmale des Imperialismus vorhanden waren: 1. unermeßliche Kolonien und 2. Monopolprofite (infolge der Monopolstellung auf dem Weltmarkt). Sowohl in dieser wie in jener Beziehung war England damals eine Ausnahme unter den kapitalistischen Ländern, und Engels und Marx, die diese Ausnahmestellung Englands analysierten, zeigten klar und bestimmt ihren Zusammenhang mit dem (zeitweiligen) Sieg des Opportunismus in der englischen Arbeiterbewegung.

In einem Brief an Marx vom 7. Oktober 1858 schrieb Engels, daß

„das englische Proletariat faktisch mehr und mehr verbürgert, so daß diese bürgerlichste aller Nationen es schließlich dahin bringen zu wollen scheint, eine bürgerliche Aristokratie und ein bürgerliches Proletariat neben der Bourgeoisie zu besitzen. Bei einer Nation, -die die ganze Welt exploitiert, ist das allerdings gewissermaßen gerechtfertigt.“

In einem Brief an Sorge vom 21. September 1872 berichtet Engels, Hales habe im Föderalrat der Internationale „großen Skandal geschlagen“ und „Marx ein Tadelsvotum angehängt, weil er sagte, die englischen Arbeiterführer wären verkauft“. Marx schreibt an Sorge am 4. August 1874:

„Was die städtischen Arbeiter“ (in England) „betrifft, so ist zu bedauern, daß das ganze Führerpack nicht ins Parlament kam. Es ist der sicherste Weg, sich des Gesindels zu entledigen.“

Engels spricht in einem Brief an Marx vom 11. August 1881 von jenen „schlechtesten englischen Gewerkschaften“, „die sich führen lassen von an die Bourgeoisie verkauften oder zumindest von ihr bezahlten Leuten“. In einem Brief an Kautsky vom 12. September 1882 schrieb Engels:

„Sie fragen mich, was die englischen Arbeiter von der Kolonialpolitik denken? Nun, genau dasselbe, was sie von der Politik überhaupt denken ... Es gibt hier ja keine Arbeiterpartei, es gibt nur Konservative und Liberal-Radikale, und die Arbeiter zehren flott mit von dem Weltmarkts und Kolonialmonopol Englands.“

Am 7. Dezember 1889 schreibt Engels an Sorge:

„Das widerwärtigste hier“ (in England) „ist die den Arbeitern tief ins Fleisch gewachsne bürgerliche ‚respectability‘ (Ehrbarkeit) ... selbst Tom Mann, den ich für den bravsten halte, spricht gern davon, daß er mit dem Lord Mayor lunchen wird. Wenn man dagegen die Franzosen hält, merkt man doch, wozu eine Revolution gut ist.“

In einem Brief vom 19. April 1890:

„... die Bewegung“ (der Arbeiterklasse in England) „geht unter der Oberfläche fort, ergreift immer weitere Schichten und gerade meist unter der bisher stagnierenden untersten“ (hervorgehoben von Engels) „Masse, und der Tag ist nicht mehr fern, wo diese Masse plötzlich sich selbst findet wo es ihr aufleuchtet, daß sie diese kolossale sich bewegende Masse ist.“

Am 4. März 1891: Mißerfolg des gesprengten Dockerverbandes, die „alten konservativen Trade-Unions, die reichen und eben deswegen feigen, bleiben allein auf dem Plan“. Am 14. September 1891: Auf dem Newcastler Kongreß der Trade-Unions sind die alten Unionisten, die Gegner des Achtstundentags, gescheitert, „und die Bourgeoisblätter erkennen die Niederlage der bürgerlichen Arbeiterpartei vollständig ... an“ . (Hervorhebungen überall von Engels.)

Daß Engels diese Gedanken, die er im Verlaufe von Jahrzehnten oft wiederholte, auch öffentlich, in der Presse, zum Ausdruck gebracht hat, beweist sein Vorwort zur zweiten Auflage der Lage der arbeitenden Klasse in England, aus dem Jahre 1892. Hier wird von einer „Aristokratie in der Arbeiterklasse“, von einer „bevorrechteten Minderheit“ der Arbeiter im Gegensatz zur „großen Masse“ der Arbeiter gesprochen. Eine „kleine privilegierte, geschützte Minorität“ der Arbeiterklasse allein hatte „dauernden Vorteil“ von der privilegierten Lage Englands in den Jahren 1848-1868, während die „große Masse im besten Fall nur eine vorübergehende Verbesserung ihrer Lage erfuhr“ ... „Mit dem Zusammenbruch des Industriemonopols wird die englische Arbeiterklasse diese bevorrechtete Stellung verlieren“. Die Mitglieder der „neuen“ Unionen, der Organisationen ungelernter Arbeiter, „haben diesen einen unermeßlichen Vorteil. Ihre Gemüter sind noch jungfräulicher Boden, gänzlich frei von den ererbten, ‚respektablen‘ Bourgeoisvorurteilen, die die Köpfe der bessergestellten, ‚alten Unionisten‘ verwirren“ ... Die „sogenannten Arbeitervertreter“ sind in England Leute, „denen man ihre Arbeiterqualität verzeiht, weil sie selbst sie gern im Ozean ihres Liberalismus ertränken möchten ...“

Wir haben mit Absicht ziemlich ausführliche Auszüge aus direkten Äußerungen von Marx und Engels gebracht, damit die Leser sie in ihrer Gesamtheit studieren können. Und man muß sie studieren, es lohnt, sie aufmerksam zu durchdenken. Denn hier liegt der Angelpunkt jener Taktik in der Arbeiterbewegung, die von den objektiven Verhältnissen der imperialistischen Epoche diktiert wird.

Kautsky hat auch hier schon versucht, „das Wasser zu trüben“ und den Marxismus durch süßliches Versöhnlertum gegenüber den Opportunisten zu ersetzen. In der Polemik gegen die offenen, naiven Sozialimperialisten (vom Schlage eines Lensch), die den Krieg von seiten Deutschlands als Zerstörung der Monopolstellung Englands rechtfertigen, „korrigiert“ Kautsky diesen offensichtlichen Schwindel durch einen anderen, ebenso offensichtlichen Schwindel. Zynischen Schwindel ersetzt er durch den süßlichen Schwindel! Das Industriemonopol Englands sei längst gebrochen, sagt er, längst zerstört, man brauche und man könne es nicht mehr zerstören.

Worin besteht die Verlogenheit dieses Arguments?

Erstens wird das Kolonialmonopol Englands mit Schweigen übergangen. Engels hat aber, wie wir gesehen haben, schon im Jahre 1882, also vor 34 Jahren, mit aller Deutlichkeit auf dieses Monopol hingewiesen! Wenn das Industriemonopol Englands zerstört ist, so ist das Kolonialmonopol nicht nur geblieben, sondern hat sich noch außerordentlich verstärkt, denn die ganze Erde ist bereits aufgeteilt! Mit Hilfe seiner zuckersüßen Lüge schmuggelt Kautsky den bürgerlich-pazifistischen und opportunistisch-kleinbürgerlichen Gedanken ein, daß „es nichts gebe, worum Krieg zu führen wäre“. Im Gegenteil, es gibt heute nicht nur etwas, worum die Kapitalisten Krieg zu führen haben, sondern sie können auch nicht anders, sie müssen Krieg führen, wenn sie den Kapitalismus erhalten wollen, denn ohne eine gewaltsame Neuverteilung der Kolonien können die neuen imperialistischen Länder nicht die Privilegien erlangen, die die älteren (und weniger starken) imperialistischen Mächte genießen.

Zweitens. Warum liefert die Monopolstellung Englands die Erklärung für den (zeitweiligen) Sieg des Opportunismus in England? Weil durch ein Monopol Extraprofit erzielt wird, d.h. ein Profitüberschuß über den in der ganzen Welt üblichen normalen kapitalistischen Profit. Von diesem Extraprofit können die Kapitalisten einen Teil (und durchaus keinen geringen!) verwenden, um ihre Arbeiter zu bestechen, um eine Art Bündnis (man erinnere sich an die berühmten „Allianzen“ der englischen Trade-Unions mit ihren Unternehmern, die von den Webbs beschrieben wurden) der Arbeiter der betreffenden Nation mit ihren Kapitalisten gegen die übrigen Länder zu schaffen. Das Industriemonopol Englands ist bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts vernichtet worden. Das steht fest. Aber wie ist diese Vernichtung vor sich gegangen? Etwa so, daß jedes Monopol verschwunden ist?

Wenn dem so wäre, dann würde dies Kautskys versöhnlerische (dem Opportunismus gegenüber versöhnlerische) „Theorie“ in einem gewissen Grade rechtfertigen. Aber das ist es ja gerade, daß dem nicht so ist. Imperialismus ist monopolistischer Kapitalismus. Jedes Kartell, jeder Trust, jedes Syndikat, jede der Riesenbanken ist ein Monopol. Der Extraprofit ist nicht verschwunden, sondern geblieben. Die Ausbeutung aller übrigen Länder durch ein privilegiertes, finanziell reiches Land ist geblieben und hat sich verstärkt. Ein Häuflein reicher Länder – es gibt ihrer im ganzen vier, wenn man selbständigen und wirklich riesengroßen „modernen“ Reichtum im Auge hat: England, Frankreich, die Vereinigten Staaten und Deutschland –, dieses Häuflein Länder hat Monopole in unermeßlichen Ausmaßen entwickelt, bezieht einen Extraprofit in Höhe von Hunderten Millionen, wenn nicht von Milliarden, saugt die anderen Länder, deren Bevölkerung nach Hunderten und aber Hunderten Millionen zählt, erbarmungslos aus und kämpft untereinander um die Teilung der besonders üppigen, besonders fetten, besonders bequemen Beute.

Eben darin besteht das ökonomische und politische Wesen des Imperialismus, dessen überaus tiefe Widersprüche Kautsky nicht aufdeckt, sondern vertuscht.

Die Bourgeoisie einer imperialistischen „Groß“macht ist ökonomisch in der Lage, die oberen Schichten „ihrer“ Arbeiter zu bestechen und dafür ein- oder zweihundert Millionen Francs im Jahr auszuwerfen; denn ihr Extraprofit beträgt wahrscheinlich rund eine Milliarde. Und die Frage, wie dieses kleine Almosen verteilt wird unter die Arbeiterminister, die „Arbeitervertreter“ (man erinnere sich der ausgezeichneten Analyse dieses Begriffs bei Engels), die Arbeitermitglieder der Kriegsindustriekomitees, die Arbeiterbürokraten, die Arbeiter, die in eng zünftlerischen Gewerkschaften organisiert sind, die Angestellten usw. usw. – das ist schon eine Frage zweiter Ordnung.

In den Jahren 1848-1868 und zum Teil auch danach hatte nur England eine Monopolstellung inne; darum konnte dort der Opportunismus auf Jahrzehnte hinaus die Oberhand gewinnen; andere Länder mit sehr reichen Kolonien oder mit einem Industriemonopol gab es nicht.

Das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts war der Übergang zur neuen, imperialistischen Epoche. Nutznießer des Monopols ist das Finanzkapital nicht eines Landes, sondern einiger, sehr weniger Großmächte. (In Japan und Rußland wird das Monopol des heutigen, modernen Finanzkapitals zum Teil ergänzt, zum Teil ersetzt durch das Monopol der militärischen Macht, des unermeßlichen Gebiets oder der besonders günstigen Gelegenheit, nationale Minderheiten, China usw. auszuplündern.) Aus diesem Unterschied folgt, daß die Monopolstellung Englands jahrzehntelang unumstritten existieren konnte. Die Monopolstellung des modernen Finanzkapitals wird wütend umstritten; die Epoche der imperialistischen Kriege hat begonnen. Damals war es möglich, die Arbeiterklasse eines Landes zu bestechen, für Jahrzehnte zu korrumpieren. Heute ist das unwahrscheinlich und eigentlich kaum möglich, dafür aber kann jede imperialistische „Groß“macht kleinere (als in England 1848-1868) Schichten der „Arbeiteraristokratie“ bestechen und besticht sie auch. Damals konnte sich die „bürgerliche Arbeiterpartei“, um das außerordentlich treffende Wort von Engels zu gebrauchen, nur in einem einzigen Land, dafür aber für lange Zeit, herausbilden, denn nur ein Land besaß eine Monopolstellung. Jetzt ist die „bürgerliche Arbeiterpartei“ unvermeidlich und typisch für alle imperialistischen Länder, aber in Anbetracht des verzweifelten Kampfes dieser Länder um die Teilung der Beute ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Partei auf lange Zeit in mehreren Ländern die Oberhand behalten könnte. Denn die Truste, die Finanzoligarchie, die Teuerung usw., die die Bestechung einer dünnen Oberschicht ermöglichen, unterdrücken, unterjochen, ruinieren und quälen die Masse des Proletariats und Halbproletariats immer mehr.

Einerseits haben Bourgeoisie und Opportunisten die Tendenz, das Häuflein der reichsten und privilegierten Nationen in „ewige“ Schmarotzer am Körper der übrigen Menschheit zu verwandeln, „auf den Lorbeeren“ der Ausbeutung der Neger, Inder usw. „auszuruhen“ und diese Völker Hilfe des modernen Militarismus, der mit einer großartigen Vernichtungstechnik ausgestattet ist, in Botmäßigkeit zu halten. Anderseits haben Klassen, die stärker denn je unterdrückt werden und alle Qualen imperialistischer Kriege erdulden, die Tendenz, dieses Joch abzuwerfen und die Bourgeoisie zu stürzen. Die Geschichte der Arbeiterbewegung wird sich jetzt unvermeidlich im Kampf zwischen diesen beiden Tendenzen entwickeln. Denn die erste Tendenz besteht nicht zufällig, sondern ist ökonomisch „begründet“. Die Bourgeoisie hat schon in allen Länder „bürgerliche Arbeiterparteien“ der Sozialchauvinisten hervorgebracht, aufgezogen und sich dienstbar gemacht. Die Unterschiede zwischen einer voll ausgebildeten Partei, zum Beispiel der Partei Bissolatis in Italien, ein ausgesprochen sozialimperialistischen Partei, und, sagen wir, der nur halbausgebildeten“ halbfertigen Partei der Potressow, Gwosdew, Bulkin Tschcheidse, Skobelew und Co. – diese Unterschiede sind unwesentlich. Wichtig ist, daß die Abspaltung der Schicht der Arbeiteraristokratie und ihr Übergang zur Bourgeoisie ökonomisch herangereift ist und sich vollzogen hat; eine politische Form aber, sei es dieser oder jener Art, wird dieses ökonomische Faktum, diese Verlagerung in den Beziehungen der Klassen zueinander, ohne besondere „Mühe“ finden.

Auf der geschilderten ökonomischen Grundlage haben die politischen Institutionen des neusten Kapitalismus – Presse, Parlament, Verbände, Kongresse usw. – die den ökonomischen Privilegien und Almosen entsprechenden politischen Privilegien und Almosen für die respektvollen, braven, reformistischen und patriotischen Angestellten und Arbeiter geschaffen. Einträgliche und ruhige Pöstchen im Ministerium oder im Kriegsindustriekomitee, im Parlament und in verschiedenen Kommissionen, in den Redaktionen der „soliden“ legalen Zeitungen oder in den Vorständen der nicht weniger soliden und „bürgerlich-folgsamen“ Arbeiterverbände – damit lockt und belohnt die imperialistische Bourgeoisie die Vertreter und Anhänger der „bürgerlichen Arbeiterparteien“.

Die Mechanik der politischen Demokratie wirkt in der gleichen Richtung. Ohne Wählen geht es in unserem Zeitalter nicht; ohne die Massen kommt man nicht aus, die Massen aber können im Zeitalter des Buchdrucks und des Parlamentarismus nicht geführt werden ohne ein weitverzweigtes, systematisch angewandtes, solide ausgerüstetes System von Schmeichelei Lüge, Gaunerei, das mit populären Modeschlagworten jongliert, den Arbeitern alles mögliche, beliebige Reformen und beliebige Wohltaten verspricht – wenn diese nur auf den revolutionären Kampf für den Sturz der Bourgeoisie verzichten. Ich möchte dieses System Lloyd-Georgeismus nennen, nach einem der maßgebendsten und geschicktesten Vertreter dieses Systems in dem klassischen Land der „bürgerlichen Arbeiterpartei“, nach dem englischen Minister Lloyd George. Als erstklassiger bürgerlicher Geschäftsmann und politischer Roßtäuscher, als populärer Redner, der es versteht, beliebige, sogar revolutionäre Reden vor einem Arbeiterauditorium zu halten, der imstande ist, für folgsame Arbeiter ziemlich beträchtliche Almosen in Form von sozialen Reformen (Versicherung usw.) zu erwirken, dient Lloyd George der Bourgeoisie ausgezeichnet und dient ihr gerade unter den Arbeitern, setzt den Einfluß der Bourgeoisie gerade im Proletariat durch, dort, wo es am notwendigsten und am schwersten ist, sich die Massen moralisch unterzuordnen.

Ist aber der Unterschied zwischen Lloyd George und den Scheidemann, Legien, Henderson, den Hyndman, Plechanow, Renaudel und Co. So groß? Von den letzteren, wird man uns erwidern, werden einige zum revolutionären Sozialismus Marx’ zurückkehren. Das ist möglich, aber das ist ein winziger gradueller Unterschied, wenn man die Frage im politischen, d.h. im Massenmaßstab betrachtet. Einzelne von den jetzigen sozialchauvinistischen Führern mögen zum Proletariat zurückkehren. Aber die sozialchauvinistische oder (was dasselbe ist) opportunistische Strömung kann weder verschwinden noch zum revolutionären Proletariat „zurückkehren“. Wo unter den Arbeitern der Marxismus populär ist, dort wird diese politische Strömung, diese „bürgerliche Arbeiterpartei“ auf den Namen Marx schwören. Man kann ihnen das nicht verbieten, wie man einer Handelsfirma nicht verbieten kann, ein beliebiges Etikett, ein beliebiges Aushängeschild, eine beliebige Reklame zu benutzen. Es ist in der Geschichte oft genug so gewesen, daß die Namen der revolutionären Führer, die bei den unterdrückten Klassen populär waren, nach dem Tode dieser Führer von ihren Feinden ausgenutzt wurden, um die unterdrückten Klassen irrezuführen.

Tatsache ist, daß „bürgerliche Arbeiterparteien“ als politische Erscheinung schon in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern entstanden sind, daß ohne entschiedenen, schonungslosen Kampf auf der ganzen Linie gegen diese Parteien -oder auch Gruppen, Richtungen usw. weder von einem Kampf gegen den Imperialismus noch von Marxismus, noch von einer sozialistischen Arbeiterbewegung die Rede sein kann. Die Fraktion Tschcheidse , Nasche Delo, Golos Truda in Rußland und die OK-Leute im Ausland sind nichts weiter als die Abart einer solchen Partei. Wir haben nicht den geringsten Grund zur Annahme, daß diese Parteien vor der sozialen Revolution verschwinden können. Im Gegenteil, je näher wir dieser Revolution sein werden, je machtvoller sie entbrennen wird, je schroffer und heftiger die Übergänge und Sprünge im Prozeß der Revolution sein werden, eine um so größere Rolle wird in der Arbeiterbewegung der Kampf des revolutionären Stroms, des Stroms der Massen gegen den opportunistischen, den kleinbürgerlichen Strom spielen. Das Kautskyanertum ist keine selbständige Strömung, denn es wurzelt weder in den Massen noch in der zur Bourgeoisie übergegangenen privilegierten Schicht. Gefährlich ist das Kautskyanertum deshalb, weil es unter Ausnutzung der Ideologie der Vergangenheit bemüht ist, das Proletariat mit der „bürgerlichen Arbeiterpartei“ zu versöhnen, die Einheit des Proletariats mit ihr durchzusetzen und dadurch die Autorität der „bürgerlichen Arbeiterpartei“ zu heben. Den offenen Sozialchauvinisten folgen die Massen schon nicht mehr: Lloyd George ist in England in Arbeiterversammlungen ausgepfiffen worden, Hyndman ist aus der Partei ausgetreten, die Renaudel und Scheidemann, Potressow und Gwosdew werden von der Polizei geschützt. Die verkappte Verteidigung der Sozialchauvinisten durch die Kautskyaner ist am gefährlichsten.

Einer der meistverbreiteten Sophismen des Kautskyanertums ist die „Berufung auf die Massen“. Wir wollen uns doch nicht, so sagen sie, von den Massen und den Massenorganisationen trennen! Man denke aber darüber nach, wie Engels diese Frage gestellt hat. Die „Massenorganisationen“ der englischen Trade-Unions standen im 19. Jahrhundert auf der Seite der bürgerlichen Arbeiterpartei. Das war für Marx und Engels nicht etwa ein Grund, sich mit ihr auszusöhnen, sondern vielmehr sie zu entlarven. Erstens vergaßen sie nicht, daß die Organisationen der Trade-Unions unmittelbar nur eine Minderheit des Proletariats erfassen. In England war damals, wie jetzt in Deutschland, nicht mehr als ein Fünftel des Proletariats organisiert. Es liegt kein Grund vor, ernsthaft anzunehmen, daß im Kapitalismus die Mehrheit der Proletarier in Organisationen zusammengefaßt werden könne. Zweitens – und das ist die Hauptsache handelt es sich nicht so sehr um die Mitgliederzahl der Organisation, als vielmehr um die reale, objektive Bedeutung ihrer Politik: vertritt diese Politik die Massen, dient sie den Massen, d.h. der Befreiung der Massen vom Kapitalismus, oder vertritt sie die Interessen der Minderheit, ihre Versöhnung mit dem Kapitalismus? Gerade das letztere traf für England im 19. Jahrhundert und trifft jetzt für Deutschland u.a. zu.

Von der „bürgerlichen Arbeiterpartei“ der alten Trade-Unions, von der privilegierten Minderheit, unterscheidet Engels die „unterste Masse“, die tatsächliche Mehrheit, und an sie, die von der „bürgerlichen Ehrbarkeit“ nicht angesteckt ist, appelliert er. Das ist das Wesen der marxistischen Taktik!

Wir können nicht – und niemand kann – genau ausrechnen, welcher Teil des Proletariats den Sozialchauvinisten und Opportunisten folgt und folgen wird. Das wird erst der Kampf zeigen, das wird endgültig nur die sozialistische Revolution entscheiden. Aber wir wissen mit Bestimmtheit, daß die „Vaterlandsverteidiger“ im imperialistischen Krieg nur eine Minderheit darstellen. Und es ist daher unsere Pflicht, wenn wir Sozialisten bleiben wollen, tiefer, zu den untersten, zu den wirklichen Massen zu gehen: darin liegt die ganze Bedeutung des Kampfes gegen den Opportunismus und der ganze Inhalt dieses Kampfes. Indem wir enthüllen, daß die Opportunisten und Sozialchauvinisten in Wirklichkeit die Interessen der Massen verraten und verkaufen, daß sie die zeitweiligen Privilegien einer Minderheit der Arbeiter verteidigen, daß sie Mittler bürgerlicher Ideen und Einflüsse, daß sie in Wirklichkeit Verbündete und Agenten der Bourgeoisie sind, lehren wir die Massen, ihre wirklichen politischen Interessen zu erkennen und durch all die langen und qualvollen Wechselfälle der imperialistischen Kriege und der imperialistischen Waffenstillstände hindurch für den Sozialismus und die Revolution zu kämpfen.

Den Massen die Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit des Bruchs mit dem Opportunismus klarmachen, sie durch schonungslosen Kampf gegen den Opportunismus zur Revolution erziehen, die Erfahrungen des Krieges ausnutzen, um alle Niederträchtigkeiten der nationalliberalen Arbeiterpolitik aufzudecken und nicht zu bemänteln – das ist die einzig marxistische Linie in der Arbeiterbewegung der ganzen Welt.

Im nächsten Artikel werden wir versuchen, die wichtigsten Unterscheidungsmerkmale dieser Linie im Gegensatz zum Kautskyanertum zusammenzufassen.


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008