W. I. Lenin

Brief an den Parteitag

(Dezember 1922–Januar 1923)


Quelle: W. I. Lenin, Werke (Berlin 1962), Bd. 36, S. 577–582 u. 588–589. [1]
Diktiert Dezember 1922–Januar 1923.
Veröffentlicht 1956 in der Zeitschrift Kommunist, Nr. 9 und als Broschüre.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Vielen Dank an Red Channel, der die Werke gescannt hat.


I
Brief an den Parteitag

Ich würde sehr empfehlen, auf diesem Parteitag eine Reihe von Änderungen in unserer politischen Struktur vorzunehmen.

Ich möchte Ihnen die Erwägungen mitteilen, die ich für die wichtigsten halte.

In erster Linie rate ich, die Zahl der Mitglieder des ZK auf einige Dutzend oder sogar auf hundert zu erhöhen. Mir scheint, unserem Zentralkomitee würden, falls wir eine solche Reform nicht vornehmen, große Gefahren drohen, wenn sich der Gang der Ereignisse nicht ganz günstig für uns gestaltet (damit müssen wir aber rechnen).

Sodann möchte ich der Aufmerksamkeit des Parteitags empfehlen, den Beschlüssen der Staatlichen Plankommission unter bestimmten Voraussetzungen gesetzgeberischen Charakter zu verleihen, diesbezüglich also Gen. Trotzki bis zu einem gewissen Grad und unter gewissen Bedingungen entgegenzukommen.

Was den ersten Punkt betrifft, d. h. die Erhöhung der Zahl der Mitglieder des ZK, so glaube ich, daß das nötig ist, sowohl um die Autorität des ZK zu heben als auch um ernsthaft an der Verbesserung unseres Apparats zu arbeiten und um zu verhindern, daß Konflikte kleiner Teile des ZK eine übermäßig große Bedeutung für das ganze Schicksal der Partei erlangen könnten.

Ich glaube, daß unsere Partei das Recht hat, von der Arbeiterklasse 50–100 Mitglieder des ZK zu verlangen, und daß sie diese von ihr ohne übermäßige Anspannung ihrer Kräfte erhalten kann.

Eine solche Reform würde unsere Partei erheblich festigen und ihren Kampf erleichtern, den sie inmitten feindlicher Staaten zu führen hat, und der sich meiner Meinung nach in den nächsten Jahren stark zuspitzen kann und muß. Mir scheint, daß unsere Partei durch eine solche Maßnahme tausendfach an Stabilität gewinnen würde.

Lenin

23. XII. 1922
Niederschrift: M. W.


II
Fortsetzung der Aufzeichnungen

24. Dezember 1922

Unter der Stabilität des Zentralkomitees, von der ich oben gesprochen habe, verstehe ich Maßnahmen gegen eine Spaltung, insoweit solche Maßnahmen überhaupt getroffen werden können. Denn der Weißgardist in der Russkaja Mysl (ich glaube, es war S. F. Oldenburg [2]) hatte natürlich recht, als er erstens seine Hoffnungen in dem Spiel dieser Leute gegen Sowjetrußland auf eine Spaltung unserer Partei setzte und als er zweitens seine Hoffnungen hinsichtlich dieser Spaltung auf sehr ernste Meinungsverschiedenheiten in der Partei setzte.

Unsere Partei stützt sich auf zwei Klassen, und deshalb ist ihre Instabilität möglich und ihr Sturz unvermeidlich, wenn es dahin käme, daß zwischen diesen beiden Klassen kein Einvernehmen erzielt werden könnte. Es ist zwecklos, für diesen Fall diese oder jene Maßnahme zu treffen und überhaupt von der Stabilität unseres ZK zu sprechen. Keinerlei Maßnahmen werden in diesem Fall eine Spaltung verhindern können. Ich hoffe jedoch, das liegt in allzu ferner Zukunft und ist ein allzu unwahrscheinliches Ereignis, als daß man darüber sprechen müßte.

Ich meine mit Stabilität die Garantie vor einer Spaltung in allernächster Zeit und beabsichtige, hier eine Reihe von Erwägungen rein persönlicher Natur anzustellen.

Ich denke, ausschlaggebend sind in der Frage der Stabilität unter diesem Gesichtspunkt solche Mitglieder des ZK wie Stalin und Trotzki. Die Beziehungen zwischen ihnen stellen meines Erachtens die größere Hälfte der Gefahr jener Spaltung dar, die vermieden werden könnte und zu deren Vermeidung meiner Meinung nach unter anderem die Erhöhung der Zahl der Mitglieder des ZK auf 50, auf 100 Personen dienen soll. Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Anderseits zeichnet sich Gen. Trotzki, wie schon sein Kampf gegen das ZK in der Frage des Volkskommissariats für Verkehrswesen bewiesen hat, nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewußtsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.

Diese zwei Eigenschaften zweien hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK können unbeabsichtigt zu einer Spaltung führen, und wenn unsere Partei nicht Maßnahmen ergreift, um das zu verhindern, so kann die Spaltung überraschend kommen.

Ich will die persönlichen Eigenschaften der anderen Mitglieder des ZK nicht weiter charakterisieren. Ich erinnere nur daran, daß die Episode mit Sinowjew und Kamenew im Oktober [3] natürlich kein Zufall war, daß man sie ihm [1*] aber ebensowenig als persönliche Schuld anrechnen kann wie Trotzki den Nichtbolschewismus.

Was die jungen Mitglieder des ZK betrifft, so möchte ich einige Worte über Bucharin und Pjatakow sagen. Das sind meines Erachtens die hervorragendsten Kräfte (unter den jüngsten Kräften), und ihnen gegenüber sollte man folgendes im Auge haben: Bucharin ist nicht nur ein überaus wertvoller und bedeutender Theoretiker der Partei, er gilt auch mit Recht als Liebling der ganzen Partei, aber seine theoretischen Anschauungen können nur mit sehr großen Bedenken zu den völlig marxistischen gerechnet werden, denn in ihm steckt etwas Scholastisches (er hat die Dialektik nie studiert und, glaube ich, nie vollständig begriffen).

25. XII. Nun zu Pjatakow. Er ist zweifellos ein Mensch mit großer Willenskraft und glänzenden Fähigkeiten, der jedoch einen allzu starken Hang für das Administrieren und für administrative Maßnahmen hat, als daß man sich in einer ernsten politischen Frage auf ihn verlassen könnte.

Natürlich mache ich die eine wie die andere Bemerkung nur für die Gegenwart und für den Fall, daß diese beiden hervorragenden und ergebenen Funktionäre keine Gelegenheit finden sollten, ihr Wissen zu erweitern und ihre Einseitigkeit zu überwinden.

Lenin

25. XII. 1922
Niederschrift: M. W.


Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922

Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, daß er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit, oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann.

Lenin

Niederschrift: L. F.
4. Januar 1923


III
Fortsetzung der Aufzeichnungen

26. Dezember 1922

Die Erhöhung der Zahl der Mitglieder des ZK auf 50 oder sogar 100 Personen soll meines Erachtens einem doppelten oder sogar dreifachen Ziel dienen: Je mehr Mitglieder dem ZK angehören, desto mehr Genossen werden in der ZK-Arbeit geschult und desto geringer wird die Gefahr einer Spaltung auf Grund irgendeiner Unvorsichtigkeit sein. Die Einbeziehung vieler Arbeiter in das ZK wird den Arbeitern helfen, unseren Apparat zu verbessern, der unter aller Kritik ist. Im Grunde genommen wurde er uns vom alten Regime hinterlassen, denn es war völlig unmöglich, ihn in so kurzer Zeit, besonders während des Krieges, der Hungersnot usw. umzugestalten. Daher kann man den „Kritikern“, die uns spöttisch oder boshaft mit Hinweisen auf die Defekte unseres Apparates aufwarten, ruhig antworten, daß diese Leute die Bedingungen der gegenwärtigen Revolution absolut“ nicht begreifen. Den Apparat in einem Jahrfünft hinreichend umzugestalten, ist überhaupt unmöglich, besonders unter den Bedingungen, unter denen sich die Revolution bei uns vollzogen hat. Es genügt, daß wir in fünf Jahren einen Staat von neuem Typus geschaffen haben, in dem die Arbeiter, gefolgt von den Bauern, gegen die Bourgeoisie vorgehen, auch das ist angesichts der feindlichen internationalen Umgebung eine gigantische Leistung. Aber dieses Bewußtsein darf uns den Blick nicht dafür trüben, daß wir im Grunde den alten Apparat vom Zaren und von der Bourgeoisie übernommen haben und daß jetzt, nachdem der Frieden gekommen und der minimale Bedarf zur Stillung des Hungers gesichert ist, alle Arbeit darauf gerichtet sein muß, den Apparat zu verbessern.

Ich stelle mir die Sache so vor, daß einige Dutzend Arbeiter, die Mitglieder des ZK werden, sich besser als irgend jemand sonst damit befassen können, unseren Apparat zu überprüfen, zu verbessern und neuzugestalten. Die Arbeiter- und Bauerninspektion, die diese Funktion zunächst innehatte, erwies sich als außerstande, ihr gerecht zu werden, und kann lediglich als „Anhängsel“ oder unter bestimmten Voraussetzungen als Helferin dieser Mitglieder des ZK Verwendung finden. Die Arbeiter, die ins ZK aufzunehmen sind, dürfen meiner Meinung nach vorwiegend nicht unter jenen Arbeitern ausgewählt werden, die einen langen Sowjetdienst durchgemacht haben (in diesem Teil meines Briefes zähle ich zu den Arbeitern überall auch die Bauern), weil sich bei diesen Arbeitern schon bestimmte Traditionen und bestimmte Vorurteile herausgebildet haben, die wir gerade bekämpfen wollen.

Arbeitermitglieder des ZK sollen vorwiegend Arbeiter sein, die unter jener Schicht stehen, welche bei uns in den fünf Jahren in die Reihen der Sowjetangestellten aufgerückt ist, und mehr zu den einfachen Arbeitern und zu den Bauern gehören, die jedoch nicht direkt oder indirekt unter die Kategorie der Ausbeuter fallen. Ich glaube, daß solche Arbeiter, die in allen Sitzungen des ZK, in allen Sitzungen des Politbüros anwesend sind und alle Dokumente des ZK lesen, einen Stamm ergebener Anhänger der Sowjetordnung bilden können, die erstens fähig sind, dem ZK selbst Stabilität zu verleihen, und die zweitens imstande sind, wirklich an der Erneuerung und Verbesserung des Apparats zu arbeiten.

Lenin

Niederschrift: L. F.
26. XII. 1922


VII
Fortsetzung der Aufzeichnungen

(Zum Abschnitt über die Erhöhung der Zahl der ZK-Mitglieder)

29. Dezember 1922

Wird die Zahl der Mitglieder des ZK erhöht, so muß man sich meines Erachtens auch und wohl hauptsächlich damit befassen, unseren Apparat, der absolut nichts taugt, zu überprüfen und zu verbessern. Zu diesem Zweck müssen wir die Dienste hochqualifizierter Spezialisten in Anspruch nehmen, und es muß die Aufgabe der Arbeiterund Bauerninspektion sein, diese Spezialisten zu stellen.

Wie man die Arbeit dieser Kontrollspezialisten, die ausreichende Kenntnisse haben, und dieser neuen Mitglieder des ZK verbindet – diese Aufgabe muß in der Praxis gelöst werden.

Mir scheint, die Arbeiter- und Bauerninspektion hat (infolge ihrer Entwicklung und infolge unseres Befremdens über ihre Entwicklung) als Ergebnis das gezeitigt, was wir jetzt beobachten, nämlich einen Ubergangszustand von einem besonderen Volkskommissariat zu einer besonderen Funktion von Mitgliedern des ZK; von einer Institution, die alle und alles revidiert, zu einem Gremium nicht sehr zahlreicher, aber erstklassiger Revisoren, die gut bezahlt werden müssen. (Das ist besonders notwendig in unserem Jahrhundert, in dem für alles gezahlt werden muß, und angesichts des Umstands, daß die Revisoren direkt im Dienste jener Institutionen stehen, von denen sie am besten bezahlt werden.)

Wird die Zahl der Mitglieder des ZK entsprechend erhöht und werden diese Mitglieder mit Hilfe solcher hochqualifizierten Spezialisten und auf allen Gebieten kompetenten Mitglieder der Arbeiterund Bauerninspektion Jahr für Jahr einen Lehrgang in Staatsverwaltung durchmachen, so werden wir, glaube ich, diese Aufgabe, mit der wir so lange nicht fertig werden konnten, erfolgreich lösen.

Also, noch einmal – bis zu 100 Mitglieder des ZK und nicht mehr als 400–500 Helfer, Mitarbeiter der Arbeiter- und Bauerninspektion, die im Auftrag dieser ZK-Mitglieder Revisionen vornehmen.

Lenin

29. Dezember 1922
Niederschrift: M. W.


Fußnote

1*. Offenbar ein Schreibfehler: statt „ihm“ muß es sinngemäß „ihnen“ heißen. – Die Red.



Anmerkungen

1. Den Brief an den Parteitag, bekannt unter der Bezeichnung Testament, diktierte W. I. Lenin in der Zeit vom 23. bis 26. Dezember 1922, die Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922 aber am 4. Januar 1923. Dieser Brief, wie auch die darauffolgend veröffentlichten Briefe Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen und Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“ lehnen an die letzten Arbeiten W. I. Lenins an, die programmatische Bedeutung besitzen: Tagebuchblätter, Über das Genossenschaftswesen, Über unsere Revolution (Aus Anlaß der Aufzeichnungen N. Suchanows), Wie wir die Arbeiter- und Bauerninspektion reorganisieren sollen (Vorschlag für den XII. Parteitag) und Lieber weniger, aber besser. Diese Arbeiten hatte er im Januar–Februar 1923 diktiert, und sie wurden auch damals in der Prawda veröffentlicht. (Siehe Werke, Bd. 33.)

Die Briefe über innerparteiliche Fragen wurden zu jener Zeit nicht veröffentlicht; der Brief Zur Frage der Nationalitäten oder der „Autonomisierung“ wurde auf einer Beratung der Delegationsleiter des XII. Parteitags im Zusammenhang mit der Erörterung der nationalen Frage verlesen; der Brief Über die Ausstattung der Staatlichen Plankommission mit gesetzgeberischen Funktionen wurde im Juni 1923 an alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros des ZK und an die Präsidiumsmitglieder des Zentralexekutivkomitees geschickt; der Brief an den Parteitag wurde in den Delegationen auf dem XIII. Parteitag der KPR(B) verlesen. 1956 wurden diese Briefe Lenins auf Beschluß des Zentralkomitees der Partei den Delegierten des XX. Parteitags der KPdSU zur Kenntnis gebracht, an die Parteiorganisationen versandt und in der Zeitschrift Kommunist, Nr. 9 veröffentlicht und als Broschüre in Massenauflage herausgegeben.

2. Der politische Beobachter der im Jahre 1922 in Prag erscheinenden weißgardistischen Zeitschrift Peter Struves Russkaja Mysl war nicht S. F. Oldenburg (wie im Brief gesagt wird), sondern S. S. Oldenburg.

S. F. Oldenburg ist der bekannte russische Gelehrte und Orientalist, der 1922 ständiger Sekretär der Akademie der Wissenschaften war. (Siehe Große Sowjetenzyklopädie, 2. Ausgabe, Bd. 31, S. 7, russ.)

3. Gemeint ist das Verhalten Sinowjews und Kamenews in den Sitzungen des ZK der Partei am 10. (23.) und 16. (29.) Oktober 1917, als sie gegen Lenins Resolution über die sofortige Vorbereitung des bewaffneten Aufstands auftraten und dagegen stimmten. Nachdem Kamenew und Sinowjew in beiden Sitzungen entschieden zurückgewiesen worden waren, veröffentlichten sie am 18. Oktober in der menschewistischen Zeitung Nowaja Shisn eine Erklärung des Inhalts, daß die Bolschewik! den Aufstand vorbereiten, daß sie beide aber den Aufstand für ein Abenteuer halten. Damit verrieten sie den streng geheimen Beschluß des ZK über die unmittelbare Organisierung des Aufstands an Rodsjanko und Kerenski. Am gleichen Tag verurteilte W. I. Lenin in dem Brief an die Mitglieder der Partei der Bolschewiki diese Handlungsweise und bezeichnete sie als unerhörtes Streikbrechertum. (Siehe Werke, Bd. 26, S. 204–207)


Zuletzt aktualisiert am 12. April 2017