Abraham Léon

Die jüdische Frage


III. Die Periode des jüdischen Wucherers


Bis zum 11. Jahrhundert zeichnete sich die in Westeuropa vorherrschende Wirtschaftsordnung durch das Fehlen einer für den Tausch bestimmten Produktion aus. Die wenigen Städte, die aus der Römerzeit stammten, erfüllten im Wesentlichen verwaltungsmäßige und militärische Funktionen. Die ganze Produktion war einzig und allein für die lokale Konsumtion bestimmt. Die herrschaftlichen Domänen befriedigten ihren Eigenbedarf selbst und kamen in Kontakt mit der weiten Welt nur durch die jüdischen Kaufleute, die sich in ihre Gebiete vorwagten. [1] Die Rolle, die die Europäer im Handel spielten, konnte nur passiv sein.

Aber allmählich mit steigendem Import orientalischer Waren, wuchs das Interesse, unmittelbar für den Austausch zu produzieren. Die kommerzielle Entwicklung stimuliert so die einheimische Produktion. Die Produktion von Gebrauchswerten weicht allmählich der Produktion von Tauschwerten.

Nicht alle einheimischen Produkte sind im Orient gefragt. Die Produktion von Tauschwerten entwickelt sich zuerst dort, wo verschiedene Bedingungen für die Fabrikation oder Förderung von bestimmten, im Ausland besonders begehrten Waren vereinigt sind. Es handelt sich dabei um Monopolprodukte. So z.B. englische Wollstoffe, flandrische Tücher, venezianisches Salz, Kupfer aus Dinant. An solchen privilegierten Orten entwickeln sich schnell „diese spezialisierten Industriezweige, deren Produkte dank des Handels sofort die Grenzen ihres Herstellungsortes überschreiten.“ [2]

Der bis hierhin passive Handel wird aktiv. Die flandrischen Tücher, die florentinischen Webereien beginnen die weite Welt zu erobern. Da sie besonders gefragt sind, sind diese Waren Quelle riesiger Profite. Diese rapide Anhäufung von Reichtümern ermöglicht eine beschleunigte Entwicklung der einheimischen Handelsklasse. So war das Salz in den Händen der Venezianer ein bedeutsames Mittel, sich zu bereichern und die Völker in Abhängigkeit zu halten. Von Anfang an hatten diese Inselbewohner in ihren Lagunen ein Salz hergestellt, das von allen Völkern der Adria sehr gefragt war und das Venedig Handelsprivilegien, Vergünstigungen und Verträge einbrachte. [3]

Solange Europa unter dem Regime der Naturalwirtschaft stand, ging die Initiative für den Handelsverkehr von den orientalischen Kaufleuten, vor allem von den Juden aus. Nur einigen Händlern, einigen kleineren Lieferanten des Adels und der Geistlichkeit gelingt es, sich aus der verarmten Masse der an die Scholle gebundenen Leibeigenen herauszulösen. Aber die Entwicklung der einheimischen Produktion ermöglicht, daß sehr schnell eine mächtige Klasse einheimischer Kaufleute entsteht. Sie rekrutiert sich aus den Handwerkerschichten, gewinnt aber sehr schnell die Oberhand über diese, indem sie die Verteilung der Rohstoffe in die Hand nimmt. [4] Im Gegensatz zum jüdischen Handel, der eindeutig von der Produktion getrennt ist, basiert der einheimische Handel vor allem auf der Industrie.

Überall geht die industrielle Entwicklung Hand in Hand mit der Ausdehnung des Handels.

„Venedig hatte den Vorteil, zugleich eine der Städte mit einem außerordentlich weit entwickelten Handel und einer ebenso weit entwickelten Industrie in der damaligen Welt zu sein. Fabriken in Venedig dienten in großartiger Weise den venezianischen Händlern in ihren Beziehungen zum Orient. Venedig und die benachbarten Städte füllten sich mit Fabriken aller Art.“ [5]

„In Italien wie in Flandern hat der Binnenhandel das rege Leben der Häfen, über die er sich erweitert, zur Konsequenz: Venedig, Pisa und Genua hier, Brügge dort. In ihrem Hinterland entwickeln sich die Industriestädte, die Lombardei und Florenz einerseits, Gent, Ypern, Lilie und Douai andererseits und ebenso Valenciennes und Brüssel.“ [6]

Die Wollindustrie entwickelt sich zur Grundlage von Größe und Wohlstand der mittelalterlichen Städte. Stoffe und Webereien stellen die wichtigsten Waren auf den mittelalterlichen Märkten dar. [7] Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem modernen Kapitalismus. Letzterer beruht auf einer großartigen Revolution der Produktionsmittel, ersterer nur auf der Entwicklung der Produktion von Tauschwerten.

Der sich entwickelnde Austausch in der mittelalterlichen Wirtschaft wirkt sich fatal auf die Stellung der Juden im Handel aus. Der jüdische Händler, der Gewürze nach Europa importiert und Sklaven exportiert, wird ersetzt durch den hochangesehenen christlichen Kaufmann, dem die städtische Industrie als wesentliche Handelsgrundlage dient.

Diese einheimische Handelsklasse prallt heftig mit den Juden zusammen, die eine überalterte, aus einer früheren Periode historischer Entwicklung ererbte wirtschaftliche Position innehaben.

Der wachsende Widerspruch zwischen dem „christlichen“ und dem jüdischen Handel läßt sich also auf den Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Systemen, dem der Tauschwirtschaft und dem der Naturalwirtschaft, zurückführen. Es ist also die wirtschaftliche Entwicklung des Abendlandes, die die kommerzielle Funktion der Juden, die auf dem zurückgebliebenen Zustand der Produktion basiert, zerstört. [8] Das Handelsmonopol der Juden zerfiel mit dem Aufstieg der Völker, von deren Ausbeutung es lebte.

„Durch Jahrhunderte hindurch bevormundeten die Juden die neuen Völker kommerziell. Eine Rolle, deren Nützlichkeit diese Völker nicht verkannten. Aber jede Art von Bevormundung wird lästig, wenn sie zu lange dauert. Völker, wie Menschen emanzipieren sich nicht kampflos von der Vormundschaft anderer Völker.“ [9]

Mit der Entwicklung der Tauschwirtschaft in Europa, mit dem Anwachsen der Städte und der ständischen Industrie wurden die Juden allmählich aus ihren wirtschaftlichen Stellungen vertrieben. [10]

Diese Vertreibung ist begleitet von einem leidenschaftlichen Kampf der einheimischen Kaufmannsklasse gegen die Juden. Die Kreuzzüge – unter anderem Ausdruck für den Willen der Handelsstädte, sich einen Weg in den Orient zu bahnen – geben ihr die Gelegenheit zu grausamen Verfolgungen der Juden und blutigen Massakern unter ihnen. Von diesem Zeitpunkt an gerät die Position der Juden in den Städten Westeuropas endgültig ins Wanken.

Zu Beginn erfaßt die wirtschaftliche Transformation nur einige wichtige Stadtzentren. Die feudalen Güter werden von dieser Veränderung kaum berührt und das Feudalsystem blüht weiterhin. Infolgedessen ist das Wachstum des jüdischen Wohlstandes noch nicht beendet. Die feudalen Güter sind noch immer ein wichtiges Aktionsfeld für die Juden. Aber jetzt entwickelt sich das jüdische Kapital, das früher hauptsächlich Handelskapital war, zu Wucherkapital. Der Jude liefert dem Feudalherrn keine orientalischen Waren mehr, aber er streckt ihm immer noch Geld für seine Ausgaben vor. Wenn in der vorangehenden Periode „Jude“ gleichbedeutend mit „Händler“ war, so wird „Jude“ jetzt immer mehr mit „Wucherer“ gleichgesetzt. [11]

Selbstverständlich ist es ein grober Irrtum, daß sich die Juden wie die meisten Historiker annehmen, erst nach ihrer Verdrängung aus dem Handel dem Kreditgeschäft zugewandt hätten. Das Wucherkapital ist der Bruder des Handelskapitals. In den Ländern Osteuropas, wo die Juden nicht aus dem Handel vertrieben wurden, trifft man, wie wir später noch sehen werden, eine beachtliche Zahl von jüdischen Wucherern. [12] In Wirklichkeit hatte die Verdrängung der Juden aus dem Handel die Konsequenz, daß sie sich auf eine von ihnen bereits früher praktizierte Tätigkeit zurückzogen.

Die Tatsache, daß die Juden zu verschiedenen Zeiten Ländereien besaßen, kann nicht ernsthaft als Argument für die traditionelle These der jüdischen Historiker dienen. Weit davon entfernt, Beweis für die Vielfalt der von den Juden ausgeübten Berufe zu sein, muß der jüdische Grundbesitz als Ergebnis ihrer wucherischen und kaufmännischen Aktivitäten angesehen werden. [13]

In den kaufmännischen Büchern des französischen Juden Heliot aus der Freigrafschaft Burgund, der zu Anfang des 14. Jahrhunderts lebte, sind unter den Besitztümern auch Weinberge aufgezählt. Aber den Büchern ist ebenfalls zu entnehmen, daß diese Weinberge Heliot nicht zur Grundlage für eine landwirtschaftliche Tätigkeit dienten: Sie waren vielmehr das Ergebnis seiner kaufmännischen Aktivitäten. Als im Jahre 1360 der König von Frankreich die Juden erneut in sein Land eingeladen hatte, warf der Vertreter der Juden, ein bestimmter Manasse, das Problem des königlichen Schutzes für die Weinberge und das Vieh auf, die die Juden als nicht ausgelöste Sicherheiten erhalten würden.

Während der großen theologischen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen werfen die letzteren den Juden vor, ihre Reichtümer durch Wucherei erlangt zu haben.

„Sie haben sich der Felder und der Tiere ermächtigt ... sie besitzen dreiviertel der Felder und Ländereien Spaniens.“ [14]

Die Ländereien von Adligen gerieten auf diese Weise sehr oft in die Hände von Juden. So das Dorf Strizov in Böhmen, das zwei Adligen gehörte und zur Zahlung von Schulden an die Juden Fater und Merklin überging (im Jahre 1382). Ebenso das Dorf Zlamany Ujezd in Mähren, das an den Juden Aron aus Hradic und das Dorf Neverovo in Litauen, das an den Juden Levon Salomic übertragen wurde, usw.

Solange der Grundbesitz den Juden nur zu Spekulationen diente, war er zwangsläufig höchst gefährdet; denn die Klasse der Feudalherren verbot schon sehr früh, den Juden Grundbesitz zu überlassen.

Anders war es dann, wenn eine wirkliche wirtschaftliche und soziale Veränderung eintrat, dort nämlich, wo die Juden ihre Geschäfte aufgaben, um echte Grundeigentümer zu werden. Hier mußten sie früher oder später auch ihre Religion wechseln.

Zu Beginn des 15. Jahrhunderts bemühte sich der König von Polen sehr, einen Juden namens Woltschko, Eigentümer von mehreren Dörfern, dazu zu bringen, „seine Blindheit anzuerkennen und zur heiligen christlichen Religion überzutreten.“ Dies ist bezeichnend; denn die Könige von Polen beschützten die jüdische Religion in weitem Maße. Niemals wäre ihnen die Idee gekommen, die jüdischen Händler und Bankiers zum Christentum zu bekehren. Aber ein jüdischer Grundbesitzer mußte im Mittelalter eine Anomalie darstellen. Gleiches gilt im Allgemeinen für den christlichen Wucherer.

Die Gründe für diese Haltung sind jedoch nicht im Rassismus zu suchen. Natürlich ist die Annahme Sombarts, der Wucher stelle eine besondere Eigenart der „jüdischen Rasse“ dar, völlig unsinnig. Der Wucher, der wie wir gesehen haben, eine wichtige Rolle in allen vorkapitalistischen Gesellschaften spielte, ist fast ebenso alt wie die Menschheit und ist von allen Rassen und Nationen praktiziert worden. Es genügt, daran zu erinnern, welch überragende Bedeutung dem Wucher in den griechischen und römischen Gesellschaften zukam. [15]

Zu behaupten, daß die Juden auf Grund ihrer rassischen Veranlagung den Wucher praktizierten, hieße das Problem auf den Kopf stellen. Nicht die „angeborenen“ Fähigkeiten oder die Ideologie einer gesellschaftlichen Gruppe können ihre wirtschaftliche Stellung erklären. Im Gegenteil, ihre wirtschaftliche Position erklärt ihre Fähigkeiten und ihre Ideologie. Die mittelalterliche Gesellschaftsordnung war nicht in Herren und Leibeigene geteilt, weil jede dieser Gruppen spezifische Anlagen für eine solche wirtschaftliche Rolle mitgebracht hätte. Ideologie und Fähigkeiten einer jeden Klasse haben sich langsam in Abhängigkeit von ihrer wirtschaftlichen Stellung geformt.

Dasselbe gilt für die Juden. Nicht ihre „angeborene“ Fähigkeit zum Handel erklärt ihre wirtschaftliche Position, sondern umgekehrt, ihre wirtschaftliche Stellung ihre Befähigung zum Handel. Die Juden bilden außerdem ein höchst heterogenes rassisches Konglomerat. Sie haben im Laufe der Geschichte eine Vielzahl nichtsemitischer Volkselemente absorbiert. In England brachte ihnen „das Wucherermonopol solche Reichtümer ein, daß man von Christen weiß, die zum Judentum übertraten, um am jüdischen Zinsmonopol teilzuhaben.“ [16] Das Judentum ist daher wohl das Ergebnis eines sozialen Selektionsprozesses, aber niemals „eine Rasse mit angeborenen kommerziellen Fähigkeiten.“ Aber der Vorrang des wirtschaftlichen und sozialen Faktors schließt bei weitem nicht den Einfluß von psychologischen Faktoren aus. Ganz wie es absurd ist, in der ökonomischen Stellung des Judentums das Ergebnis der „jüdischen Anlagen“ zu sehen, so ist es auch kindisch, diese Stellung auf Verfolgungen und gesetzliche Verbote anderer als Handels- und Wucherberufe zurückzuführen. In zahlreichen Schriften über das Wirtschaftsleben der Juden im Mittelalter heißt es, daß die Juden von Anfang an vom Handwerk und vom Warenverkehr ausgeschlossen waren und daß ihnen Grundbesitz untersagt war. Das ist ein Märchen. In Wirklichkeit lebten die Juden im zwölften und dreizehnten Jahrhundert – nachdem sie sich in fast allen großen Städten Westdeutschlands niedergelassen hatten – mit den Christen zusammen und genossen deren Bürgerrechte. In Köln hatten die Juden längere Zeit hindurch sogar das Recht, einen Christen, der eine Beschwerde gegen einen Juden erhob, zu verpflichten, vor jüdischen Richtern aufzutreten, um nach hebräischem Recht verurteilt zu werden.

Es ist ebenso falsch, zu behaupten, daß die Juden nicht zu den Handwerkszünften zugelassen werden konnten. Sicherlich akzeptierten mehrere Zünfte „Juden-Kinder“ [17] nicht als Lehrlinge, aber dies galt nicht für alle Zünfte. Die Existenz von jüdischen Goldschmieden sogar zu einem Zeitpunkt, wo die ständischen Verordnungen viel härter gegen Juden waren, beweist dies zu Genüge. Es gibt sicherlich wenig jüdische Schmiede und Zimmerleute unter den Handwerkern des Mittelalters: Juden, die ihre Kinder in Lehre für diese Berufe gaben, waren sehr selten. Selbst die Zünfte, die Juden den Eintritt verwehrten, taten dies nicht aus religiöser Animosität oder aus Rassenhaß, sondern weil die Berufe des Wucherers und des Händlers als „unehrenhaft“ angesehen wurden. Die Stände schlössen Kinder von jüdischen Geschäftsleuten, Wucherern und Hausierern ebenso aus, wie die Söhne von einfachen Handlangern, von Flußschiffern und Linnenwebern. [18]

Die feudale Gesellschaft war im Wesentlichen eine Gesellschaft von Kasten. Sie wollte, daß jeder „an seinem Platz“ bleibe. [19] Sie bekämpfte den von Christen betriebenen Wucher ebenso, wie sie es dem Bürger unmöglich machte, zu Adelstiteln zu kommen oder wie sie den Adeligen mit Verachtung strafte, der sich herabließ, einen Beruf auszuüben oder Handel zu betreiben.

1462 vertrieb man den Doktor Han Winter aus der Stadt Nördlingen, weil er mit der Hilfe eines Juden Wucher betrieb. 30 Jahre später wird in derselben Stadt ein Bürger namens Kinkel an den Pranger gestellt und aus der Stadt vertrieben, weil er den „jüdischen“ Beruf ausgeübt habe. Die Synode von Bamberg 1491 drohte allen Christen, die allein oder durch Vermittlung von Juden Wucher betrieben, den Ausschluß aus der christlichen Gemeinschaft an. 1487 verfügte man in Schlesien, daß alle Christen, die Wucher betrieben, vor ein königliches Gericht gestellt und exemplarisch bestraft werden sollten.

Solange das Gebäude des Feudalismus solide bleibt, ändert sich die Haltung der christlichen Gesellschaft gegenüber dem gewerblichen Geldverleihen nicht. Aber die tiefgehenden wirtschaftlichen Veränderungen, die wir oben untersucht haben, geben dem Problem eine andere Tragweite. Die Entwicklung von Handel und Industrie trägt dazu bei, daß die Bank im Wirtschaftsleben unentbehrlich wird. Der Bankier, der dem Kaufmann oder dem Handwerker Gelder vorschießt, wird zu einem wesentlichen Element der ökonomischen Entwicklung.

Der Tresor des Wucherers erfüllte in der feudalen Gesellschaftsordnung die Rolle einer notwendigen, aber völlig unproduktiven Reserve.

„Die charakteristischen Formen jedoch, worin das Wucherkapital in den Vorzeiten der kapitalistischen Produktionsweise existiert, sind zweierlei. Ich sage charakteristische Formen. Dieselben Formen wiederholen sich auf Basis der kapitalistischen Produktion, aber als bloß untergeordnete Formen. Sie sind hier nicht mehr die Formen, die den Charakter des zinstragenden Kapitals bestimmen. Diese beiden Formen sind: erstens, der Wucher durch Geldverleihen an verschwenderische Große, wesentlich Grundeigentümer; zweitens, Wucher durch Geldverleihen an den kleinen, im Besitz seiner eigenen Arbeitsbedingungen befindlichen Produzenten, worin der Handwerker eingeschlossen ist, aber ganz spezifisch der Bauer, da überhaupt in vorkapitalistischen Zuständen, soweit sie kleine selbständige Einzelproduzenten zulassen, die Bauernklasse deren große Majorität bilden muß.“ [20]

Der Wucherer verleiht an Feudalherren und König, um ihren Luxus und ihre Kriegskosten zu decken. Er leiht an Bauern und Handwerker, um ihnen zu ermöglichen, Gebühren und Grundzinsen etc. zu bezahlen. Das vom Wucherer geliehene Geld schafft keinen Mehrwert. Es erlaubt dem Wucherer nur, sich einen Teil des schon bestehenden Mehrprodukts anzueignen.

Die Funktion des Bankiers ist völlig anders. Er trägt direkt zur Produktion des Mehrwerts bei. Er ist produktiv. Der Bankier finanziert die großen Handels- und Industrieunternehmen. Während es sich im Feudalismus hauptsächlich um einen Kredit zur Konsumtion handelt, so entwickelt sich der Kredit in der Epoche der industriellen und kommerziellen Entwicklung zu einem Kredit für Produktion und Zirkulation.

Es besteht also ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Wucherer und dem Bankier. Der erstere ist Kreditorgan in der feudalen Gesellschaftsordnung, der zweite im System der Tauschwirtschaft. Die Unkenntnis dieser fundamentalen Unterscheidung führt fast alle Historiker in die Irre. Sie sehen keinen Unterschied zwischen dem Bankier der Antike, dem jüdischen Bankier im England des elften Jahrhunderts und Rothschild oder sogar Fugger.

„Newman drückt die Sache fad aus, wenn er sagt, daß der Bankier angesehen ist, während der Wucherer verhaßt ist, weil jener den Reichen leiht, dieser dem Armen. (...) Er übersieht, daß hier der Unterschied zweier gesellschaftlicher Produktionsweisen und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Ordnungen dazwischen Hegt und die Sache nicht mit dem Gegensatz von arm und reich abgemacht ist.“ [21]

Sicherlich wird diese Unterscheidung vor allem sichtbar in der kapitalistischen Epoche im eigentlichen Sinn. Aber

„der Kaufmann borgt Geld, um Profit mit dem Geld zu machen, um es als Kapital anzuwenden, d.h. zu verausgaben. Auch in den früheren Formen steht ihm also der Geldverleiher ganz so gegenüber wie dem modernen Kapitalisten. Dieses spezifische Verhältnis wurde auch von den katholischen Universitäten gefühlt.

‚Die Universitäten von Alcalá, von Salamanca, von Ingolstadt, von Freiburg im Breisgau, Mainz, Köln und Trier erkannten nacheinander die Rechtmäßigkeit der Zinsen für Handelsanleihen an. (...)‘.“ [22]

Mit fortschreitender ökonomischer Entwicklung weicht der Geldverleiher der Bank, die mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. In den blühenden Handelsstädten Flanderns findet man ihn nicht mehr; denn „die Juden praktizierten im Unterschied zu den Lombarden nur die Zinsgeschäfte und übernahmen keine Vermittlerrolle zwischen den einzelnen Operationen des Geschäftsverkehrs.“ [23]

Nach ihrer Verdrängung aus dem Handel, einem Prozeß, der in Westeuropa im 13. Jahrhundert vollendet ist, betreiben die Juden weiterhin ihre Wuchergeschäfte in den Regionen, in denen die Tauschwirtschaft noch nicht Wurzeln gefaßt hatte.

In England haben sich die Juden zur Zeit Heinrichs II. (2. Hälfte des zwölften Jahrhunderts) schon völlig dem Wuchergeschäft verschrieben. Sie sind in der Regel sehr reich und ihre Kundschaft setzt sich aus Großgrundbesitzern zusammen. Der berühmteste dieser jüdischen Bankiers war ein gewisser Aaron aus Lincoln, besonders rührig gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Heinrich II. allein schuldete ihm 100.000 Pfund, was ungefähr dem englischen Jahreshaushalt der damaligen Zeit entsprach.

Dank extrem hoher Zinssätze – sie schwankten zwischen 43% und 86% – ging eine Menge von Ländereien des Adels in die Hände jüdischer Wucherer über. Aber diese hatten starke und anspruchsvolle Verbündete. Wenn die englischen Könige die Geschäfte der Juden unterstützten, so geschah dies, weil die Juden für sie eine sehr wichtige Quelle von Revenuen darstellten. Alle vertraglich bei den Juden gemachten Anleihen wurden in dem „scaccarium judaeorum“ vermerkt und wurden mit einer Gebühr von 10% für den königlichen Tresor belegt. Aber dieser legale Anteil genügte den Königen bei weitem nicht. Alle Ausreden waren gut genug, um den Juden Geld abzuzapfen. Und so trug das von den Juden betriebene Wuchergeschäft unaufhörlich zur Bereicherung der königlichen Schatzkammer bei. Am schlimmsten war es für die Juden, die Könige zu wichtigen Schuldnern zu haben. Die Erben von Aaron aus Lincoln mußten sich davon überzeugen, als der König 1187 die Güter des reichen Bankiers konfiszierte.

Der enteignete Adel rächte sich durch die Organisation von Judenmassakern. 1189 wurden die Juden in London, Lincoln und Stamford niedergemetzelt. Ein Jahr später zerstörte der Adel angeführt von einem gewissen Malebysse das „scaccarium judaeorum“ von York. Die Verträge wurden feierlich verbrannt. Die im Schloß belagerten Juden töteten sich selbst. Aber der König beschützte die Juden weiterhin, selbst nach ihrem Tod. Er verlangte die Begleichung der den Juden geschuldeten Beträgen zu seinen Gunsten, da die Juden seine „Schatzknechte“ gewesen seien. Besondere Beauftragte mußten ihm eine genaue Schuldenliste aufstellen.

Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gestand der König dem englischen Adel eine Magna Charta“ zu, die gewisse Verbesserungen des Systems der Geldverleihung mit sich brachte. Dennoch brachen zwischen 1262 und 1264 erneut Unruhen gegen die Juden aus.

Im Jahre 1290 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung Englands, d.h. etwa 3000 Personen, aus dem Land verwiesen, und ihre Güter wurden konfisziert. Die wirtschaftliche Lage der sehr viel zahlreicheren französischen Juden (100.000) war nicht merklich verschieden von der der englischen Juden.

„Mit der Thronbesteigung von Philipp August [1180] und während der ersten Jahre seiner Herrschaft waren die Hebräer reich und befanden sich in großer Zahl in Frankreich. Rabbinische Weise hatten sich um die Synagoge in Paris gesammelt, die schon 1135 beim feierlichen Einzug des Papstes Innocenz in Saint-Denis unter den Korporationen der Hauptstadt bei der Durchreise des Pontifex vertreten war. Nach dem Historiker Rigord hatten die Juden fast die Hälfte von Paris erworben. (...) In den Dörfern, Städten, Vororten, überall erstreckten sich ihre Außenstände. Eine große Zahl von Christen waren sogar wegen ihrer Schulden von den Juden enteignet worden.“ [24]

Vor allem im Norden Frankreichs betrieben die Juden ihre Wuchergeschäfte. In der Provence war der Anteil der Juden am Handel noch im 13. Jahrhundert sehr bedeutend. Die Juden in Marseille standen in Geschäftsverbindung mit Spanien, Nordafrika, Sizilien und Palästina. Sie besaßen sogar Schiffe und importierten – wie ihre Vorfahren unter den Karolingern – Gewürze und Sklaven.

Aber dies sind nur die Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Der Wucher scheint im dreizehnten Jahrhundert die hauptsächliche wirtschaftliche Funktion der Juden in Frankreich gewesen zu sein. In jeder Stadt war ein Notar für die Zinsgeschäfte bestellt. Der Zinsfuß belief sich auf 43%. Bis zum Statut von Melun (1230), das den Juden das Geldverleihen gegen die Verpfändung von Grund und Boden verbot, stellten die Prinzen und Fürsten die Hauptkundschaft der jüdischen Bankiers dar. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts war der Jude Salomon aus Dijon Gläubiger der größten Klöster Frankreichs. Der Graf von Montpellier schuldete einem Juden mit Namen Bendet 50.000 Sous. Der Papst Innocenz III. drückte in einem Brief an den König von Frankreich seine Empörung darüber aus, daß sich die Juden die Güter der Kirche aneigneten, daß sie sich der Ländereien und Weinberge bemächtigten.

Wenn auch die wirtschaftliche Situation der Juden in Frankreich der der Juden in England glich, so war doch ihre politische Situation verschieden. Die weit mehr zersplitterte Macht lieferte sie an eine Vielzahl von Prinzen und Feudalherren aus. Die Juden waren einer Menge Steuern und Gebühren unterworfen, die in die Kassen der Mächtigen flössen. Verschiedene Mittel wurden ausprobiert, um das Maximum an Geld aus den Juden herauszuholen. Massenarrestationen, häufige Prozesse, Vertreibungen – dies alles diente als Deckmantel für finanzielle Erpressungen großen Stils. Wiederholt vertrieben die französischen Könige die Juden, um sich ihre Güter einzuverleiben und sie dann wieder ins Land zurückzuholen.

Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Position der Juden im islamischen Spanien ist nicht genau bekannt. Es besteht allerdings nicht der geringste Zweifel daran, daß die Juden den privilegierten Klassen der Bevölkerung angehörten.

„Bei meiner Ankunft in Granada“, schreibt ein gewisser Abu Ischak aus Elvira, „sah ich, daß die Juden hier führende Stellen innehatten. Sie haben Hauptstadt und Provinz unter sich verteilt. Überall sind diese Verdammten an der Spitze der Verwaltung. Sie kümmern sich um die Eintreibung der Steuern, leben in Luxus, während ihr, Muselmanen, in Lumpen herumlauft.“

Im christlichen Teil Spaniens, in Kastilien, sind die Juden Bankiers, Steuereinzieher und Lieferanten des Königs. Der königliche Hof beschützte sie, weil sie ihm als wirtschaftliche und politische Stütze dienten. Der Zins betrug zu Beginn des zwölften Jahrhunderts 331/3 % – weniger als in anderen Ländern. In zahlreichen Cortes kämpfte der Adel für die Herabsetzung der Zinssätze, aber er stieß immer auf den Widerstand der Könige. Nur unter der Herrschaft von Alfons IX. erzielte der Adel einige Erfolge auf diesem Gebiet.

Eine ähnliche Situation entstand in Aragon. Jehuda de Cavallera ist das typische Beispiel eines großen jüdischen „Kapitalisten“ des dreizehnten Jahrhunderts. Er pachtete Salzbergwerke, prägte Münzen, stattete die Armee aus und besaß große Gebiete und eine Vielzahl von Herden. Sein Vermögen ermöglichte den Bau einer Kriegsflotte für den Krieg gegen die Araber.

Der wirtschaftliche Rückstand Spaniens erlaubte den Juden, ihre Stellung im Handel länger zu halten, als in England und Frankreich. Dokumente des 12. Jahrhunderts erwähnen Juden aus Barcelona, die bis zum Bosporus reisten. Im Jahre 1105 gesteht der Graf Bernard III. das Monopol zum Import sizilianischer Sklaven drei Juden zu, die Kaufleute und Schiffseigentümer in Barcelona sind. Man muß das 14. Jahrhundert abwarten, als bis Barcelona „sich in ein riesiges Warenhaus und eine enorme Werkstatt verwandelt.“ [25] Erst dann werden die Juden endgültig aus Barcelonas Handel verdrängt. Ihre Situation hat sich derart verschlechtert, daß sie Gebühren bezahlen müssen, um diese Stadt passieren zu können. „Die unglücklichen Israeliten kommen nach Barcelona weit eher als Waren, denn als Kaufleute.“ [26]

Der jüdische Wucher nimmt in Aragon solche Ausmaße an, daß unter Adel und Bourgeoisie ernsthafte Widerstände gegen die Juden entstehen. In Deutschland erstreckt sich die im wesentlichen kommerzielle Periode bis ins 13. Jahrhundert hinein. Die Juden bringen Deutschland in Kontakt mit Ungarn, Italien, Griechenland und Bulgarien. Der Sklavenhandel blüht bis zum zwölften Jahrhundert. So wird in den Zolltarifen von Wallenstadt und von Koblenz daran erinnert, daß jüdische Sklavenhändler für jeden Sklaven 4 Dinar bezahlen müssen. In einer Schrift von 1213 heißt es, „daß die Juden von Laubach außergewöhnlich reich sind, und einen umfangreichen Handel mit Venezianern, Ungarn und Kroaten führen.“

Seit dem 13. Jahrhundert wächst der Einfluß der deutschen Städte. Wie auch sonst überall und aus denselben Gründen werden auch hier die Juden aus dem Handel verdrängt und wenden sich den Bankgeschäften zu.

Das jüdische Wuchergeschäft konzentriert sich nun auf den Adel. Die Akten von Nürnberg bezeugen, daß die bei den Juden gemachten Durchschnittsschulden sich für Stadtbewohner auf 282, für Adelige auf 1.672 Gulden beliefen. Ebenso verhält es sich mit 87 Wechseln in Ulmen, die jüdischen Bankiers gehörten. Von den 17.302 Gulden, auf die sie sich belaufen, fallen 90 % auf Adelige. Im Jahre 1344 leiht der jüdische Bankier Fivelin dem Grafen von Zweibrücken 1.090 Pfund. Derselbe Fivelin leiht im Jahre 1339 zusammen mit einem gewissen Jakob Daniels 61.000 Gulden an den König von England Eduard III. [27]

1451 ersucht Kaiser Friedrich III. bei Papst Nikolaus V. um ein Vorrecht für die Juden, „damit sie in Österreich leben und Geld verleihen können zur größtmöglichen Bequemlichkeit des Adels.“ Im dreizehnten Jahrhundert übernehmen die Juden Lublin und Nzklo in Wien die wichtigen Posten von „Schatzkämmerern des östereichischen Herzogs“ (Comites camarae ducis austriae).

Aber die Lage konnte nicht immer so bleiben. Der Wucher zerstörte langsam das feudale System, ruinierte alle Klassen der Bevölkerung, ohne eine neue Wirtschaftsform anstelle der alten zu setzen. Im Gegensatz zum Kapital ist der Wucher nur auf Erhaltung des Geldes gerichtet.

„Der Wucher wie der Handel explotieren eine gegebne Produktionsweise, schaffen sie nicht, verhalten sich äußerlich zu ihr. Der Wucher sucht sie direkt zu erhalten, um sie stets von neuem ausbeuten zu können (...).

Der Wucher zentralisiert Geldvermögen, wo die Produktionsmittel zersplittert sind. Er ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an sie als Parasit fest und macht sie miserabel. Er saugt sie aus, entnervt sie und zwingt die Reproduktion, unter immer erbärmlicheren Bedingungen vorzugehen. (...) Das Wucherkapital besitzt die Exploitationsweise des Kapitals ohne seine Produktionsweise.“ [28]

Trotz dieser destruktiven Wirkung ist der Wucher unentbehrlich in den rückständigen Wirtschaftssystemen. Aber er wird ein wichtiger Grund für die wirtschaftliche Stagnation, wie man dies in mehreren asiatischen Ländern beobachten kann.

Wenn die Wucherei in Westeuropa immer unerträglicher wurde, so deshalb, weil sie mit den sich neu bildenden.Wirtschaftsformen nicht in Einklang zu bringen war. Die Tauschwirtschaft unterwandert das bäuerliche Erwerbsleben. Industrie und Handel haben das Zurückweichen des alten feudalen Systems auf das Land zufolge. Ein weiter Markt öffnet sich den landwirtschaftlichen Produkten. Dies hat einen merklichen Rückgang der alten Formen von Dienstbarkeit und Abgaben zufolge, die auf der Naturalwirtschaft basieren.

„Nur in den schwer erreichbaren oder von den großen Handelsstraßen weit entfernten Gebieten kann sich die Leibeigenschaft in ihrer primitiven Form halten. Überall anderswo verringert sie sich, wenn sie nicht ganz verschwindet. Man kann sagen, daß in Westeuropa zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts ein freier Bauernstand existiert oder zu entstehen im Begriff ist.“ [29]

Überall in West- und Mitteleuropa sind das 12., das 13. und das 14. Jahrhundert die Blütezeit des jüdischen Zinsgeschäfts. Die ökonomische Entwicklung jedoch hat seinen rapiden Abstieg zufolge. Ende des 13. Jahrhunderts werden die Juden endgültig aus England vertrieben; Ende des 14. Jahrhunderts aus Frankreich; Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien. Diese Zahlen spiegeln das verschiedene ökonomische Entwicklungstempo dieser Länder wider. Das 13. Jahrhundert ist die Periode des wirtschaftlichen Aufblühens in England. Im 15. Jahrhundert entfalten sich

„in den spanischen Königreichen Reichtum und Handel. Das Land ist von Schafherden übersät und die spanische Wolle entwickelt sich im Handelsverkehr des Nordens zu einem ernsthaften Konkurrenten für die englische Wolle. Ihr Export reicht bis zu den Niederlanden,und die Schafzucht beginnt Kastilien seinen besonderen Charakter zu verleihen und den Adel zu bereichern. Eisen von Bilbao, Olivenöl, Orangen und Grenadinen nehmen ebenfalls teil ändern sich nach Norden hin zunehmenden Durchgangsverkehr.“ [30]

Der Feudalismus weicht allmählich einem Tauschsystem. Dies hat das Zurückweichen des jüdischen Wucherwesens zufolge. Es wird, weil immer weniger nötig, immer unerträglicher. Je mehr Überfluß an Geld entsteht infolge der intensiveren Warenzirkulation, desto erbarmungsloser wird der Kampf gegen eine ökonomische Funktion, die nur zur Zeit wirtschaftlicher Immobilität gerechtfertigt war, d.h. zu einer Zeit, wo der Tresor des jüdischen Wucherers eine unentbehrliche Reserve für die Gesellschaft darstellte.

Jetzt fängt der Bauer an, seine Produkte zu verkaufen und seinen Herrn mit Geld zu bezahlen. Der Adel hat, um seine wachsenden Luxusbedürfnisse zu befriedigen, ein Interesse daran, den Bauernstand zu befreien, überall die feste Grundrente durch die Geldrente zu ersetzen.

„Die sporadisch, sodann auf mehr oder minder nationalem Maßstab vor sich gehende Verwandlung der Produktenrente in Geldrente setzt schon eine bedeutendere Entwicklung des Handels, der städtischen Industrie, der Warenproduktion überhaupt und damit der Geldzirkulation voraus.“ [31]

Die Verwandlung aller Klassen der Gesellschaft in Produzenten von Tauschwerten und in Geldbesitzer bringt sie einmütig gegen den jüdischen Wucher auf, dessen archaischer Charakter seinen ausbeuterischen Aspekt besonders hervorhebt. Der Kampf gegen die Juden wird immer heftiger. Das Königtum – traditioneller Beschützer der Juden – mußte den wiederholten Forderungen der Ständeversammlungen von Adeligen und Bürgern weichen. Die Monarchen mußten außerdem selbst immer öfter auf die Kassen der Bourgeoisie zurückgreifen, die bald den bedeutendsten Teil des Grundbesitzes monopolisiert hatte. Die Juden verloren als Einnahmequelle für die Könige mehr und mehr an Anziehungskraft (ganz abgesehen davon, daß es immer eine höchst profitable Angelegenheit war, die Juden des Landes zu verweisen).

So wurden die Juden nach und nach aus allen westeuropäischen Ländern verwiesen. Dies kommt einem Exodus aus den entwickelteren Ländern in die rückständigen Länder Osteuropas gleich. Polen, das sich noch tief im Feudalismus befindet, wird der Hauptzufluchtsort der von überall vertriebenen Juden. In anderen Ländern, wie in Deutschland und Italien, können sich die Juden in den am wenigsten entwickelten Gegenden halten. Zum Zeitpunkt der Reise des Benjamin von Tudela gab es beinahe keinen Juden mehr in den Handelszentren wie Pisa, Amalfi und Genua. Dagegen waren sie sehr zahlreich in den rückständigsten Teilen Italiens. Selbst in den Kirchenstaaten waren die Voraussetzungen für den jüdischen Handel und die jüdische Bank günstiger als in den reichen Handelsrepubliken Venedig, Genua und Florenz.

Die Handelswirtschaft vertreibt also die Juden aus ihren letzten Refugien. Der Jude, „der Bankier des Adels“ ist schon Ende des Mittelalters in Westeuropa völlig unbekannt. Hie und da gelingt es kleinen jüdischen Gemeinschaften, sich in einigen wirtschaftlich untergeordneten Stellungen zu halten. Die „jüdischen Banken“ sind jetzt nur noch die Pfandleihen, wo die Armut Anleihen nimmt.

Das ist der totale Niedergang. Der Jude wird zum kleinen Wucherer, der gegen Sicherheiten von geringem Wert an die Armen in Stadt und Land verleiht. Und was kann er tun mit den nicht wieder ausgelösten Pfändern? Er muß sie verkaufen. Der Jude entwickelt sich zum kleinen Händler und Trödler. Der alte Glanz ist endgültig dahin.

Jetzt beginnt die Zeit der Ghettos [32], der schlimmsten Verfolgungen und Erniedrigungen.

Das Bild dieser Unglücklichen mit Ringellöckchen und in lächerlicher Kleidung, die wie Tiere Gebühren zahlen, um Städte und Brücken passieren zu können, verhöhnt und erniedrigt, dieses Bild hat sich für lange Zeit eingegraben in die Erinnerung der Völker West- und Mitteleuropas.

Anmerkungen

1. „Auf der Besitzung muß es alles geben, was zum Leben nötig ist. Sie darf so weit wie möglich nichts kaufen und nichts austauschen. Sie ist eine Meine Welt für sich und muß sich selbst genügen.“ Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France, Paris 1888 – 1892, Bd. IV, S. 45.

2. Henri Pirenne, Anciennes Democraties des Pays-Bas, op.cit., S. 114. „Kupfer aus Dinant und flandrische Tücher scheinen dank ihres wohlverdienten Rufes den engen Umkreis des städtischen Marktes überschritten zu haben.“ M. Ansiaux, Traité d’Economie politique, S. 276.

3. G.B. Depping, Histoire du commerce entre l’Europe et le Levant, op. cit., S. 182.

4. Bei den Tuchmachern, die manchmal für weitentfernte Märkte arbeiten, sieht man, wie sich die Händler von der Masse der Handwerker unterscheiden: Bei den Tuchmachern handelt es sich um Händler. Vgl. H. Sée, Esquisse d’une histoire economique et sociale de la France, op. cit., S. 102.

5. G.B. Depping, op. cit., S. 184.

6. Henri Pirenne, Histoire de l’Europe, op. cit., S. 166.

7. M. Weber, Wirtschaftsgeschichte, München und Leipzig 1924, S. 142 f.

8. W. Röscher sagt: „Je mehr sich die allgemeine wirtschaftliche Kultur entwickelte, desto mehr verschlechterte sich die Lage der Juden.“ W. Röscher, op. cit. (R)

9. W.Röscher, op. cit., S. 129. (R) – „Das Gesetz, daß die selbständige Entwicklung des Kaufmannskapitals im umgekehrten Verhältnis steht zum Entwicklungsgrad der kapitalistischen Produktion, erscheint am meisten in der Geschichte des Zwischenhandels (carrying trade), wie bei Venezianern, Genuesern, Holländern etc., wo also der Hauptgewinn gemacht wird nicht durch Ausfuhr der eignen Landesprodukte, sondern durch Vermittlung des Austausches der Produkte kommerziell und sonst unentwickelter ökonomischer Gemeinwesen und durch Exploitation beider Produktionsländer.“ Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 341.

10. A. Schulte stellt in seiner Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien, Leipzig 1900, die Behauptung auf, daß die Juden im Gegensatz zu den christlichen Unternehmern, nicht versucht hätten, sich mit den Handwerkern zu verbinden, und deshalb ihre Handelsposition verloren hätten und auf den Kredit beschränkt worden seien. Diese Bemerkung ist sehr interessant. Sie zeigt den Kern des Problems: Die Verbindung des christlichen Handels mit der Industrie und das Fehlen dieser Verbindung beim jüdischen Handel.

11. In einer Studie über die Judea in einer deutschen Stadt [Halberstadt] sagt Max Köhler, daß „vom 13. Jahrhundert an die wichtigste Beschäftigung der Juden von Halberstadt das Wuchergeschäft zu sein scheint.“ Max Köhler, Beiträge zur neueren Wirtschaftsgeschichte, Die Juden in Halberstadt und Umgebung bis zur Emanzipation, Berlin 1927. (R) – M. Cunow sagt in seiner Allgemeinen Wirtschaftsgeschichte: „Trotz der Tatsache, daß die Erwerbsverhältnisse des Ritteradels sich immer ungünstiger gestalteten, nahmen im 14. Jahrhundert seine Waffenspiele, Zechgelage, höfischen Feste und prächtigen Turniere (...) überhand. Selbst die ärmeren Ritter hielten sich für verpflichtet, mitzumachen, und da ihnen die dazu erforderlichen Geldmittel fehlten, (...) borgten [sie] bei städtischen Juden, die damals vornehmlich das Geldverleihen (...) betrieben.“ M. Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bd. III, Berlin 1929, S. 45.

12. Das Beispiel Polens beweist noch einmal die Naivität des gewohnten Schemas der jüdischen Historiker, die behaupten, daß die Spezialisierung der Juden auf Handel und Wucher auf die Verfolgungen zurückzuführen sei. Wer hatte denn den polnischen Juden verboten, Landwirte und Handwerker zu werden? Schon lange bevor die polnischen Städte anfingen, gegen die Juden zu kämpfen, lagen Handel und Bank völlig in deren Händen.

13. Diese falsche Auffassung der jüdischen Historiker findet ihre Ergänzung in der Behauptung, daß die Juden ihren „landwirtschaftlichen Beruf“ aufgrund gesetzlicher Verbote aufgeben mußten. – „Nicht anders steht es mit der Behauptung, den Juden sei verwehrt worden, Grundbesitz zu erwerben. Wo wir in den mittelalterlichen Städten ansässige, geschäftstreibende Juden finden, finden wir sie auch im Besitz eigener Häuser. Und auch in der Stadtmark besaßen sie nicht selten größere Grundstücke. Freilich eigentlichen Kornbau auf weitausgedehnten Feldflächen scheinen sie nirgends getrieben zu haben. Wo ein derartiges Grundstück als Pfand für ausgeliehene Geldsummen in ihren Besitz gelangte, suchten sie es bald wieder zu veräußern. Doch nicht deshalb, weil sie es nicht behalten durften, sondern weil sie zum eigentlichen landwirtschaftlichen Betrieb wenig Lust hatten. Dagegen finden wir in den Stadtregistern durchaus nicht selten Juden als Besitzer von Wein- und Gemüsegärten, Flachsfeldern usw. genannt, vornehmlich also solchen Landflächen, deren Produkte sich leicht im Handel verwerten ließen.“ H. Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bd. III, op. cit., S. 112.

14. I. Schipper, Yidishe Geschikhte (Wirtschaftsgeschikhte). – „Die Juden formten eine gesellschaftliche Klasse, die infolge ihrer in Industrie, Handel und Bankgeschäften erworbenen Reichtümer sehr große Macht erlangt hatte.“ R. Ballester, Histoire d’Espagne, frz. Übs. Paris 1938, S. 154.

15. „Wir ersehen aus den Briefen Ciceros, daß der ehrenhafte Brutus sein Geld auf Zypern mit einem Zinsfuß von 48 % verlieh.“ A. Smith, The Wealth of Nations, Bd. I, S. 84 (Ed. Everyman’s Library).

16. L. Brentano, Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands. (R)

17. Auf deutsch im französischen Text.

18. H. Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bd. III, S. 74.

19. Wenn auch der Glaube, die feudale Gesellschaft habe in ihrem Bestreben, daß „jeder an seinem Platz bleibe“, die „jüdischen Landwirte“ in Händler verwandele, kindisch ist, so spielten doch offensichtlich die gesetzlichen Verbote – selbst Ausfluß der wirtschaftlichen Bedingungen – eine wichtige Rolle bei der Beschränkung der Juden auf den Handel, besonders in den Perioden, wo die Lage der Juden durch ökonomische Veränderungen verunsichert wurde. So war beispielsweise Friedrich der Große dagegen, daß die Juden manuelle Tätigkeiten ausübten. Er wollte, daß „jeder bei seinem Beruf bleibe; daß man den Juden bei der Ausübung des Handels helfe, daß man jedoch die anderen Berufe den Christen überlasse.“

20. Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 608.

21. Ebd., S. 608 f.

22. Ebd., S. 607; Marx zitiert am Schluß der angeführten Passage M. Auquier, Le Credit public etc., Paris 1842, S. 206. – „Zu gleicher Zeit entwickelte der berühmte Theologe Medina eine Theorie, die man übrigens auch bei Thomas von Aquin findet, wonach das Spiel von Angebot und Nachfrage die natürliche Art zur Bestimmung des richtigen Preises sei. Der Trinus Contractus, dieses Wunderwerk einer juristischen Analyse, rechtfertigte die Einziehung von Zinsen beim Kreditgeschäft, was zur Folge hatte, daß Geld wirklich wie Kapital verwendet wurde. Dieser Contractus wurde von den italienischen und spanischen Kanonisten anerkannt, die aufgeklärter waren bzw., besser gesagt, sich in einem gesellschaftlich fortgeschrittenerem Milieu befanden als ihre französischen Kollegen.“ Claudio Jannet, Les grandes epoques de l’histoire jusqu’à la fin du XVIe siècle, op. cit., S. 284.

23. Henri Pirenne, Histoire de Belgique, Brüssel 1900–1932.

24. G.B. Depping, op. cit., S. 132 f.

25. Henri Pirenne, Les Villes du Moyen Age, op. cit.

26. G.B. Depping, op. cit., S. 233.

27. ‚“Unter den Schuldnern der Frankfurter Juden sehen wir einen großen Teil des Adels der Wetterau, der Pfalz, des Odenwaldes und der Bergstraße, außerdem den Erzbischof von Mainz (...) Besonders stark verschuldet ist der Adel, und es gab damals auf 10 Stunden im Umkreis wohl wenig Ritter (...), von welchen nicht Schuldbriefe oder Pfänder im Frankfurter Judenquartier zu finden gewesen wären. (...)‘ Auch einige ‚christliche Bürger Frankfurts und der benachbarten Städte‘ hatten, wie es im Bericht des Rats heißt, ‚Judenschulden‘ gemacht; aber doch nur in wenigen Fällen; die meisten der 279 Schuldsachen, die der Rat untersuchte, betrafen den Ritteradel.“ H. Cunow, op. cit., Bd. III, S. 46 f. Cunow zitiert hier Bücher, Die Bevölkerung von Frankfurt a.M. im 14. und 15. Jahrhundert, Tübingen 1886, S. 577 ff.

28. Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 623, 610, 611.

29. Henri Pirenne, Histoire de l’Europe, op. cit., S. 171.

30. Henri Pirenne, ebd., S. 384.

31. Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, op. cit., S. 805. – „Diese Verwandlung von Gewohnheitsrechten in finanzielle Verpflichtungen entspricht dem Anwachsen des Mobiliarbesitzes; das Geld wird das einfachste Erkennungszeichen für den Reichtum, und für die Bemessung der aus dem Grundbesitz gezogenen Einkommen wird es den Naturalgütern vorgezogen. Eine ähnliche Entwicklung findet man In anderen Ländern; besonders in England, wo sie noch ausgeprägter ist.“ Henri Sée, Esquisse d’une histoire économique et sociale de la France, op. Cit.

32. Im Gegensatz zu einer sehr verbreiteten Meinung ist das Ghetto eine neuere Einrichtung. Erst im Jahre 1462 werden die Juden in Frankfurt in einem Ghetto eingeschlossen. „Von dieser harten Beschränkung [auf Ghettos] war im Mittelalter keine Rede. Im Gegenteil, die Juden konnten damals ihre Wohnungen nach Belieben wählen und jederzeit in der ganzen Stadt umhergehen.“ G.L. Kriegk, Geschichte und Lage der Frankfurter Juden im Mittelalter, in: Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter, S. 441, o.O.u.J. zitiert von H. Cunow, op. cit., Bd. III, S. 110. – Man darf die Judenviertel nicht mit Ghettos verwechseln. Die Judenviertel waren zu verschiedenen Epochen der jüdischen Geschichte bekannt, die Ghettos stammen aus der Periode, des „kleinen jüdischen Wucherers“. So bildet in Polen das jüdische Ghetto eine Ausnahme und nicht die Regel. Das hat aber die Hitler’sche Barbarei nicht gehindert, die polnischen Juden in die Ghettos „zurückzuschicken“.


Zuletzt aktualisiert am 8 April 2010