Abraham Léon

Die jüdische Frage


V. Die Juden in West- und Osteuropa


1. Die Juden in Westeuropa nach der Renaissance. Die These von Sombart

Nach der Entdeckung der Neuen Welt und dem daraus resultierenden gegenseitigen Austausch schlug der alten ständischen Feudalwelt die Todesstunde. Der Handel erreichte ein höheres Stadium und zerstörte die letzten Reste vergangener Zeiten. Er bereitete den Boden für den industriellen Kapitalismus, indem er die Entwicklung der Manufakturindustrie und der landwirtschaftlichen Industrie vorantrieb. Die alten ständischen Industriezentren und der mittelalterliche Handel zerfielen. Antwerpen wurde für begrenzte Zeit das wirtschaftliche Zentrum der damaligen Welt.

Überall – wenn auch zu verschiedenen Epochen und in unterschiedlichen Formen – wurde der Abstieg der Naturalwirtschaft von dem Zerfall der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung der Juden begleitet. Ein großer Teil von Juden war gezwungen, Westeuropa zu verlassen, um Zuflucht in den Ländern zu suchen, in denen der Kapitalismus noch nicht Fuß gefaßt hatte, vor allem in Osteuropa und in der Türkei. Ein anderer Teil hat sich integriert und mit der christlichen Bevölkerung vermischt. Diese Assimilation war nicht immer leicht. Die religiösen Traditionen haben die ihnen entsprechende gesellschaftliche Situation lange überlebt. Durch Jahrhunderte hindurch hat die Inquisition erbittert und brutal die jüdischen Traditionen bekämpft, die sich unter den Bekehrten fortsetzen.

Die Juden, denen es gelang, in die neue Handelsklasse aufgenommen zu werden, erwarben ein bestimmtes Ansehen unter dem Namen „Neue Christen“, vor allem in Amerika und auch in Bordeaux und Antwerpen. Noch in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts befanden sich In Brasilien alle großen Zuckerplantagen in den Händen von Juden. Durch eine Verordnung vom 2. März 1768 wurden alle Register, die die „neuen Christen“ betrafen, vernichtet. Das Gesetz vom 24. März 1773 stellte die „neuen Christen“ den alten Christen rechtlich gleich.

1730 besaßen die Juden in Suriname 115 von den vorhandenen 344 Plantagen. Aber im Gegensatz zu früher unterschied sich die wirtschaftliche Tätigkeit der Juden in nichts von der der Christen. Der „neue“ christliche Händler war kaum anders als der alte christliche Händler. Ebenso war es mit den jüdischen Plantagenbesitzern. Dies ist auch der Grund, warum die juristischen, religiösen und politischen Unterschiede schnell verschwanden.

Im 19. Jahrhundert gab es nur noch eine Handvoll von Juden in Südamerika. [1] Die Assimilation der Juden erfolgte ebenso schnell wie in Frankreich und England. Die reichen jüdischen Kaufleute von Bordeaux, von denen man sagte, „daß die ganze Straßen besaßen und einen beträchtlichen Handel betrieben“, betrachteten sich als völlig in die christliche Bevölkerung integriert.

„Diejenigen, die die portugiesischen Juden in Frankreich, Holland und England kennen, wissen, daß sie weit davon entfernt sind, einen unüberwindlichen Haß gegen alle Völker, mit denen sie leben, zu empfinden – wie Voltaire fälschlicherweise annimmt. Vielmehr identifizieren sie sich derart mit diesen Völkern, daß sie sich für einen Teil derselben halten. Ihr portugiesischer und spanischer Ursprung ist zu einer reinen Kategorie kirchlicher Zugehörigkeit geworden.“ [2]

Die im Westen integrierten Juden erkennen keinerlei Verwandtsdhaft mit den Juden an, die noch unter feudalen Lebensbedingungen leben.

„Ein Jude aus London gleicht ebenso wenig einem Juden aus Konstantinopel, wie dieser einem chinesischen Mandarin. Ein Jude von Bordeaux und ein deutscher Jude aus Metz erscheinen völlig verschieden. „

„Herr Voltaire kann nicht verkennen, mit wieviel Sorgfalt die portugiesischen und spanischen Juden es vermeiden, sich durch Heirat oder Verbindungen anderer Art mit den Juden anderer Nationen zu vermischen.“ [3]

Neben den spanischen, französischen und holländischen und englischen Juden, deren vollständige Assimilierung langsam aber sicher vorangeht, findet man in Osteuropa, hauptsächlich in Italien und Deutschland, noch Juden, die in Ghettos leben und die vor allem die Rolle von kleinen Wucherern und Hausierern spielen. Dies ist ein jämmerlicher Überrest der alten jüdischen Kaufmannsklasse. Sie werden erniedrigt, verfolgt und zahllosen Einschränkungen unterworfen.

Sombart stützt seine berühmte These in seinem Buch Die Juden und das Wirtschaftsleben hauptsächlich auf die außerordentlich bedeutende ökonomische Rolle, die die erste Kategorie von Juden innehatte. Er faßt dies folgendermaßen zusammen:

„Die Juden fördernden wirtschaftlichen Aufschwung der Länder und Städte, in denen sie sich niederlassen. Sie führen zum wirtschaftlichen Abstieg der jenigen Länder und Städte, die sie verlassen.“

„Sie sind die Begründer des modernen Kapitalismus.“

„Kein moderner Kapitalismus, keine moderne Kultur ohne die Versprengung der Juden über die nördlichen Länder des Erdballs.“

„Wie die Sonne geht Israel über Europa: wo es hinkommt, sprießt neues Leben empor; von wo es wegzieht, da modert alles, was bisher geblüht hatte.“ [4]

So präsentiert – wie man sieht, sehr poetisch – Sombart seine These. Als Beweis führt er folgendes an:

  1. „Das große welthistorische Ereignis, dessen hier zuerst und vor allem zu gedenken wäre, ist die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal (1492, 1495, 1497). Es sollte niemals vergessen werden, daß am Tage, ehe Columbus aus Palos absegelte, um Amerika zu entdecken (3. August 1492), wie man sagt, 300.000 Juden aus Spanien (...) auswanderten.“ [5]
  2. Im fünfzehnten Jahrhundert seien die Juden aus den wichtigsten Handelsstädten Deutschlands vertrieben worden: aus Köln (1424/25), Augsburg (1439/40), Straßburg (1438), Erfurt (1458), Nürnberg (1448), Ulm (1499), Regensburg (1519). Im 16. Jahrhundert habe sie dasselbe Schicksal in vielen italienischen Städten getroffen. Sie seien 1492 aus Sizilien vertrieben worden, zwischen 1540/41 aus Neapel und 1550 aus Genua und Venedig. Auch hier falle der wirtschaftliche Abstieg dieser Städte mit dem Weggang der Juden zusammen.
  3. Die wirtschaftliche Entwicklung Hollands gegen Ende des 16. Jahrhunderts sei durch den Auschwung des Kapitalismus bestimmt worden. Die ersten portugiesischen „Marranos“ [6] hätten sich in Amsterdam im Jahr 1597 niedergelassen.
  4. Die kurze Blütezeit von Antwerpen als Zentrum des Welthandels und als Internationale Börse falle genaumit der Zeit zwischen Ankunft und Abwanderung der Marranos zusammen.

Diese Punkte lassen sich leicht genug widerlegen:

  1. Es ist absurd, in der Gleichzeitigkeit des Aufbruchs von der Abreise des Christoph Columbus („um Amerika zu entdecken“) und der Vertreibung der Juden aus Spanien einen Beweis für den Niedergang der Länder zu sehen, die die Juden verlassen hatten.

„Nun geraten Spanien und Portugal im Verlaufe des 16. Jahrhunderts unter Karl V. und Manuel dem Großen (Emanuel I. von Portugal) aber nicht in Verfall, sondern erreichen den Höhepunkt ihrer Geschichte. Selbst noch zu Anfang der Regierung Philipps II. ist Spanien die erste Macht in Europa, und unermeßlich sind die ihm aus Mexiko und Peru zuströmenden Reichtümer.“ [7]

Die erste These Sombarts ist ganz offensichtlich unrichtig.

  1. Übrigens tragen auch die von Sombart angeführten Zahlen über die Verteilung der jüdischen Flüchtlinge aus Spanien dazu bei, seine These zu falsifizieren. Nach ihm sind von 165.000 Vertriebenen 122.000, also 72%, in die Türkei und die muselmanischen Länder ausgewandert. Dort hätte sich der „kapitalistische Geist“ der Juden konsequenterweise ja dann produzieren müssen. Muß man jedoch noch anführen, daß die Türkei – selbst, wenn man von einer Art von wirtschaftlichem Aufschwung des türkischen Reiches unter Suleiman dem Großen sprechen will – dies Land bis in jüngste Zeiten hinein vom Kapitalismus kaum berührt wurde, daß sich die jüdischen „Sonnenstrahlen“ hier also als sehr wenig „belebend“ erwiesen? Es ist zutreffend, daß sich eine beträchtliche Anzahl von Juden (nämlich 25.000) in Holland, Hamburg und England niedergelassen haben. Kann man jedoch zugeben, daß ein und dieselbe Ursache diametral entgegengesetzte Folgen gezeitigt hätte?
  2. Die Kongruenz, die Sombart zwischen dem wirtschaftlichen Abstieg der deutschen Städte (...) [8] feststellt, erklärt sich leicht mit einer Umkehrung der Kausalbeziehung. Der Ruin dieser Städte wurde nicht durch die gegen die Juden ergriffenen Maßnahmen hervorgerufen; solche Maßnahmen waren vielmehr die Folge des Abstiegs dieser Städte. Andererseits war der Wohlstand anderer Städte nicht das Ergebnis der jüdischen Einwanderung, aber die Juden lassen sich natürlich in den reichen Städten nieder. „Augenscheinlich ist das Kausalverhältnis das umgekehrte des von Sombart behaupteten.“ [9]

    Die Untersuchung der wirtschaftlichen Rolle der Juden in Deutschland und Italien Ende des 15. und 16. Jahrhunderts führt zum selben Ergebnis. Es ist klar, daß die Pfandleihen, die Geschäfte der jüdischen Wucherer, solange erträglich waren, als die wirtschaftliche Lage der Städte vergleichsweise gut war. Jede Verschlimmerung der Lage machte die Last des Wuchers unerträglicher und der Zorn der Bevölkerung richtete sich dann in erster Linie gegen die Juden.
  3. Das Beispiel Hollands widerlegt zwar die These Sombarts nicht, bestätigt sie andererseits aber auch nicht. Selbst wenn man zugesteht, daß der Wohlstand Hollands durch die Ankunft der Marranos gefördert wurde, so beweist dies doch nicht, daß ihre Ankunft diesen Wohlstand kausal bedingte. Und wie sollte man – von diesem Kriterium ausgehend – den Abstieg Hollands im 18. Jahrhundert erklären? Es sieht übrigens so aus, als ob man die wirtschaftliche Rolle der Juden in Holland übertrieben hätte. Bezüglich der holländischen Ostindischen Kompanie, die entscheidend zum Reichtum Hollands beigetragen hat, sagt Sayous:

„Die Juden haben jedenfalls keinerlei Rolle gespielt bei dem Aufbau der ersten modernen Aktiengesellschaft: der holländischen Ostindischen Kompanie. Ihr Anteil am Gesellschaftskapital betrug kaum 1 %, und sie haben auch in den folgenden Jahren kaum wesentlich zu deren Aktivität beigetragen.“

Soll man noch weitergehen und darlegen, daß die wirtschaftlich bedeutsame Entwicklung Englands genau in die Zeit nach der Vertreibung der Juden fällt?

„Wäre das Kausal Verhältnis das von Sombart behauptete,wie ließe es sich erklären, warum in Rußland und Polen, obwohl da ‚das südliche Wüstenvolk‘ am zahlreichsten vertreten ist, aus seiner Einwirkung (...) eine wirtschaftliche Blüte so gar nicht hervorgegangen ist!“ [10]

Die Theorie Sombarts ist also völlig falsch. [11] Sombart gibt vor, die wirtschaftliche Rolle der Juden zu behandeln, aber er tut dies, indem er in äußerst phantasievoller Weise die Geschichte in seinem Sinne zurechtrückt. Er vertritt eine These über die Juden und das Wirtschaftsleben in seiner Gesamtheit – aber er behandelt nur einen sehr beschränkten Ausschnitt aus der Geschichte.

Sombart stellt eine Theorie über die Juden in ihrer Gesamtheit und ihr Verhältnis zum Wirtschaftsleben auf – aber er behandelt nur eine Minorität von Westjuden, nämlich der Juden, die sich auf dem Weg zur völligen Integration befinden.

In Wirklichkeit hätte man – selbst, wenn die Rolle der Westjuden der These Sombarts entsprechen würde – davon abstrahieren müssen, um die jüdische Frage heute zu verstehen. Denn ohne den Zufluß der Ostjuden im Westeuropa des 19. Jahrhunderts wären die Westjuden seit langem völlig in ihrer Umwelt aufgegangen. [12]

Eine letzte Bemerkung zur Theorie Sombarts: Wenn die Juden tatsächlich einen solchen wirtschaftlich immer und absolut positiven Faktor dargestellt hätten, wenn ihr Weggang tatsächlich den wirtschaftlichen Untergang betroffener Städte und Gebiete zufolge gehabt hätte, wie lassen sich dann die ständigen Judenverfolgungen im tiefen Mittelalter erklären? Aufgrund der Religion? Warum aber war dann die Stellung der Juden in Westeuropa im Spätmittelalter und in Osteuropa bis ins 19. Jahrhundert hinein so stabil? Wie muß man dann den Reichtum der Juden während langer Jahrhunderte in den rückständigen Ländern Europas wie Polen und Litauen erklären? Wie die mächtige Protektion, die ihnen von den Königen zuteil wurde? Muß man ihre unterschiedliche materielle Lage aufgrund eines unterschiedlichen Grades an religiösem Fanatismus erklären? Aber wie soll man dann verstehen, daß der religiöse Fanatismus gerade in den fortschrittlichsten Ländern am heftigsten war? Wie kommt es dann, daß sich der Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Polen so besonders stark entwickelte?

Es geht also darum, die Gründe für den unterschiedlichen Grad an religiösem Fanatismus zu suchen. Man muß mit seinen Überlegungen logischerweise bei der wirtschaftlichen Basis ansetzen. Die Religion erklärt die Judenverfolgungen in der Weise, wie etwa die Fähigkeit zu schlafen den Schlaf erklären kann. Wenn die Juden tatsächlich die ihnen von Sombart zugedachte Rolle gespielt hätten, wäre es schwer verständlich, warum der Kapitalismus ihnen so sehr zum Verhängnis werden konnte. [13]

Es ist daher ungenau, in den Juden die Begründer des modernen Kapitalismus zu sehen. Die Juden haben sicherlich zur Entwicklung der Tauschwirtschaft in Europa beigetragen, aber ihre spezifische wirtschaftliche Rolle endet genau dort, wo der moderne Kapitalismus anfängt.
 

2. Die Juden in Osteuropa bis zum 19. Jahrhundert

Am Vorabend der Entwicklung des industriellen Kapitalismus stand das Westjudentum auf kurz vor dem Verschwinden. Die Französische Revolution beseitigte die letzten rechtlichen Hindernisse, die sich der Integration der Juden entgegensetzten. Sie sanktionierte damit nur bereits bestehende Tatsachen.

Aber es ist sicherlich kein Zufall, daß im selben Augenblick, in dem die jüdische Frage im Westen völlig an Bedeutung verliert, sie im Osten erneut und mit doppelter Schärfe auftritt. Als man die Juden in Westeuropa niedermetzelte und verbrannte, suchte ein Großteil von ihnen Zuflucht in den Ländern, die der Kapitalismus noch nicht erobert hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte die große Mehrzahl der Juden in Osteuropa, vor allem im ehemaligen Gebiet der königlichen Republik Polen. In diesem Paradies der adeligen „Schlachta“ [14] hatte die jüdische Kaufmannsklasse ein weites Betätigungsfeld gefunden. Während langer Jahrhunderte war der Jude Händler, Wucherer, Gastwirt, Haushofmeister von Adeligen und im übrigen Vermittler für alles. Die kleinen jüdischen Städte, die oft an Schlösser von polnischen Adeligen angrenzten und inmitten eines Meers bäuerlicher Stellungen lagen, repräsentierten die Tauschwirtschaft im Schöße einer reinen Feudalgesellschaft. Die Juden saßen – wie Marx sagt – in den Poren der polnischen Gesellschaft. [15] Diese Situation hielt solange an, wie die gesellschaftliche und politische Situation Polens unverändert blieb. Im 18. Jahrhundert wurde der polnische Feudalismus von den politischen Wirren und dem wirtschaftlichen Abstieg tödlich getroffen. Zu gleicher Zeit wurde auch die Jahrhunderte alte Stellung der Juden in Osteuropa tiefgreifend erschüttert. Das Judenproblem, das im Westen im Begriff war zu verschwinden, stellte sich im Osten mit erneuter Schärfe. Die Flamme, die im Westen zu erlöschen scheint, erhält aus dem östlichen Brandherd neue Nahrung. Die Zerstörung der wirtschaftlichen Position der Juden in Osteuropa hat ihre massive Emigration in alle Welt zufolge. Und überall – wenn auch in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Gesichtspunkten – verschärft der Zustrom jüdischer Emigranten aus Osteuropa das jüdische Problem. So wurde die Geschichte der Ostjuden für die Judenfrage, wie sie sich heute stellt, zum entscheidenden Faktor.

Die Handelsbeziehungen der osteuropäischen Juden in Böhmen, Polen und Klein-Rußland gehen auf die Karolinger Epoche zurück. Der Handelsverkehr, den die Juden im Hochmittelalter zwischen Asien und Europa hergestellt hatten, erfaßte auf diese Weise die Gebiete Polens und die Steppen der Ukraine. Wie ihre Glaubensbrüder, die Radamiten, tauschten die Ostjuden die kostbaren Produkte Asiens, wie z.B. Gewürze und Seiden, gegen die Rohprodukte Europas ein. Sie stellten das einzige Handelselement in einer rein agrarisch bestimmten Gesellschaft dar. Zur Zeit der Karolinger stand das wirtschaftliche System in ganz Europa nahezu auf gleicher Ebene, und die Rolle des Ostjudentums entsprach der des Westjudentums. Erst später schlug ihre Geschichte verschiedene Wege ein.

Die Reiseerzählungen des Ibrahim ibn Jakov (965) berichten von einer beachtlichen Entwicklung des jüdischen Handels im Prag des 10. Jahrhunderts. Die Juden kamen dorthin aus dem Fernen Osten und aus Byzanz mit den verschiedenartigsten wertvollen Waren und byzantinischen Münzen und kauften Weizen, Zinn und Pelze ein. [16] In einem Dokument von 1090 werden die Juden von Prag als Kaufleute und Geldwechsler, die viel Geld und Gold besitzen, und als die reichsten Händler der Welt dargestellt. Auch Sklavenhändler und andere Juden aus dem Fernen Osten, die die Grenze mit Karawanen überschreiten, sind in Dokumenten aus den Jahren 1124 und 1222 erwähnt. Der Zinssatz der jüdischen Bankiers in Prag, deren Geschäfte sich weit ausdehnten, pendelte zwischen 108% und 180%. [17] Der Chronist Gallus schreibt, daß Judith, die Frau des Fürsten Wladyslaw Herman von Polen, sich im Jahre 1085 bemüht habe, christliche Sklaven von jüdischen Händlern loszukaufen. Ausgrabungen aus dem vergangenen Jahrhundert ermöglichten es, die ganze Bedeutung der Juden für die Wirtschaft dieser Zeit in Polen zu erhellen. Man fand polnische Münzen mit hebräischen Zeichen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Dies allein beweist schon, daß der polnische Handel in den Händen der Juden lag. Die Invasion der Tartaren im 13. Jahrhundert war auf die polnischen und russischen Juden sicherlich nicht ohne Einfluß, aber schon 1327 ist in einem von dem polnischen König Wladyslaw Lokietek (1320-1333) zugestandenen Privileg von jüdischen Händlern aus Ungarn die Rede, die nach Krakau gezogen seien. Während der folgenden Jahrhunderte verringert sich der jüdische Handel in keiner Weise, im Gegenteil, er wächst ständig an.

Wie in Westeuropa ging die Entwicklung des Handels Hand in Hand mit der Entfaltung des Wuchers. Auch hier versuchte der Adel – hauptsächlicher Klient des jüdischen Wucherers – die Beschränkung des jüdischen Wuchers zu erreichen, im Gegensatz zu den Königen, die ihn förderten, „denn die Juden müssen als Kammerknechte immer Geld für den Dienst an uns zur Verfügung haben.“ Auf dem Sejm [18] von 1347 stieß der Adel, der den bis zu 108% reichenden Zinsfuß eingeschränkt haben wollte, auf den entschiedenen Widerstand des Königtums.

Im Jahre 1456 verkündet der König Kasimir Jagiello, daß er dem göttlichen Prinzip der Toleranz folge, wenn er die Juden beschütze. 1504 erklärt der polnische König Alexander, „daß er sich den Juden gegenüber verhalte, wie es sich für Könige und Mächtige gebühre, welche sich nicht nur durch Toleranz gegenüber Christen, sondern auch gegenüber Andersgläubigen auszeichnen müßten.“

Unter solchen Vorzeichen mußten die jüdischen Geschäfte florieren. Im 13., 14. und 15. Jahrhundert gelang es den jüdischen Wucherern, einen Teil der dem Adel gehörenden Ländereien an sich zu bringen. 1389 wird der Jude Sabetai Eigentümer eines Teils des Gebietes von Cawolowo. 1390 erhält der Jude Josman aus Krakau die Güter des Prinzen Diewiez von Pszeslawic als Pfand. 1393 bemächtigt sich der Jude Moschko aus Posen des Gebietes von Ponicz. 1397 werden die Ländereien des Gebietes von Abiezesz an den Juden Abraham aus Posen verpfändet. Diese Ländereien der Adeligen wurden den Juden zu vollem Eigentum überlassen. Bei dem zuletzt eingeführten Beispiel überfiel der betroffene Adelige die an Abraham übertragenen Besitztümer, das Gericht bestätigte jedoch das Eigentumsrecht des Juden und bestrafte den Angreifer mit einer hohen Geldstrafe. 1404 bestimmte ein Gericht in einem Urteil, daß drei an den Juden Schmerlin verpachtete Dörfer für immer in dessen Eigentum übergehen sollen (cum omnibus juribus utilitatitus dominio, etc., in perpetuum).

Die wichtigsten „Bankiers“ lebten in Krakau, der königlichen Residenz. Ihre Hauptschuldner waren in der Tat Könige, Fürsten, Wojwoden und Erzbischöfe. Kasimir der Große machte bei jüdischen Bankiers die riesige Anleihe von 15.000 Mark. König Ludwig von Ungarn schuldete dem Wucherer Levko in Krakau einmal 30.000, ein anderes Mal 3.000 Gulden. König Wladyslaw II. Jagiello und Königin Hedwig schuldeten ihm ebenfalls bedeutende Summen.

Levko war nicht nur ein großer Bankier, sondern auch Generalintendent des Reiches. Er verwaltete das Münzhaus und die Münzprägerei, die Salzbergwerke von Wieliczka und Bochinia. Er besaß in Krakau Häuser und eine Brauerei. Wie die großen Patrizier wurde er mit dem Titel „vir discretus“ ausgezeichnet.

Der Wucher der großen jüdischen Bankiers, wie Miesko, Jordan von Posen und Aaron, denen es gelang, riesige Güter anzukaufen und Dörfer und Ländereien in ihre Hände zu bringen, hatte einen Proteststurm des Adels zufolge. Das Statut von Warta (1423) hat den jüdischen Wucher stark beschränkt. So wurde der Jude Alexander, an den 1427 die Dörfer Dombrowka und Sokolov verpfändet worden waren, im Jahre 1432 durch die Entscheidung eines Gerichtes dazu verpflichtet, diese Güter an seinen Schuldner zurückzugeben. Das Statut von Warta hatte nämlich die Geldausleihe gegen Immobilien als Sicherheit verboten.

Weder die Juden noch die Könige resignierten in dieser Situation sofort. In einem erbitterten Kampf erreichten sie die Beseitigung des Statutes von Warta. Die Bankiers konnten ihre Geschäftssphäre noch weiter ausdehnen. Der König verpfändete an den Bankier Schina sein Schloß Lemberg. Dieser Wucherer zählte daneben noch ebenfalls den Fürsten Szwidrigiella, den Wojwoden Chriczka, der ihm das Dorf Winiki verpfändet hatte, und andere zu seiner Kundschaft. Aber auch der Adel gab sich nicht geschlagen. Er griff immer wieder von neuem an und es gelang ihm, das Statut von Nieszawa 1454 zu erlassen, das die Bestimmungen des Statutes von Warta noch verschärft. Aber diese Tatsache genügte, um den grundlegenden Unterschied zu zeigen, der auf diesem Gebiet und Polen und Westeuropa besteht: Auch noch so drakonische Maßnahmen konnten dem jüdischen Wucher kein Ende setzen. Von 1455 an kam es sogar zu einem Wiederaufleben des Bankhandels, was vor allem auf die Zuwanderung von Juden aus Mähren und Schlesien und aus anderen Ländern zurückzuführen ist. Ab 1460 bezeugen die Akten von Krakau eine Wiederaufnahme von wucherischen Transaktionen, die an die Zeiten von Levko und Schmerlin erinnern. Der reichste Bankier war ein gewisser Fischel, verheiratet mit der Bankinhaberin Raschka von Prag. Er lieh Gelder aus an den polnischen König Kasimir Jagiello und an dessen Söhne, die zukünftigen Könige Albrecht und Alexander. Während es dem westeuropäischen Adel aufgrund der aufkommenden Tauschwirtschaft und von Kapitalüberfluß gelang, sich überall vom jüdischen Wucher zu befreien, war eine solche Entwicklung in Osteuropa wegen der fortbestehenden Feudalwirtschaft unmöglich. Die jüdische Bank überlebte hier alle Verbote.

Der Rückstand des Landes verhinderte auch die Entwicklung, die wir in den anderen Ländern Osteuropas verfolgt haben: den Ausschluß der Juden aus dem Handel und ihre Beschränkung auf den Wucher. Das Bürgertum und die Städte standen erst am Anfang ihrer Entwicklung. Der Kampf der Bourgeoisie gegen die Juden blieb im Anfangs Stadium stecken und führte zu keinerlei ausschlaggebenden Resultaten. Zu den Kaufleuten gesellten sich die Handwerker, die unter dem jüdischen Wucher litten. Auch hier gilt, daß desto früher Konflikte mit den Juden entstehen, je früher sich eine Provinz entwickelt hat. Die Handwerker provozierten 1403 in Krakau, 1445 in Böhmen Judenmassaker. Aber diese Auseinandersetzungen blieben vereinzelt und führten nirgends zur völligen Beseitigung des jüdischen Elements. Im Gegenteil, im 16. und 17. Jahrhundert festigte sich die Stellung der Juden nur noch mehr, und der jüdische Handel florierte weiterhin.

In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts besteht in Lemberg das Problem eines „Konsortiums“ aus drei Lemberger Juden von Lemberg, Schlomo, Lzewja und Jakob, das für Lieferung von italienischen Waren an den Stadtrat von Lemberg gebildet wurde. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts sind die Juden die Lieferanten des königlichen Hofes. Im Jahre 1456 konfisziert der Starost (Älteste) von Kaminiec-Podoljsk orientalische Waren im Werte von 600 Mark bei jüdischen Händlern, die aus den Handelszentren des Schwarzen Meeres nach Polen gekommen waren. Die byzantinischen und italienischen Juden aus Capha unternahmen zahlreiche Reisen nach Polen. Der Jude Caleph Judäus aus Capha ließ mit der Bewilligung der Stadt Lemberg große Mengen von orientalischen Waren über die Grenze bringen. Selbst nach der Zerstörung der italienischen Kolonien am Schwarzen Meer (1475), unterhielten die Juden weiterhin Beziehungen mit dem Orient. Ab 1467 versorgte der Jude David aus Konstantinopel Lemberg mit orientalischen Waren. Man spricht sogar von einem Wiederaufleben des Sklavenhandels in Klein-Rußland zwischen 1440 und 1450. 1449 berichten die russischen Gerichtsakten von einer interessanten Tatsache: als ein Sklave des Juden Mordechai aus Galitsch geflohen war, verlangte ihn sein Besitzer auf gerichtlichem Wege zurück.

Die jüdischen Händler aus Capha und Konstantinopel kamen nur zu den großen Märkten von Lemberg und Lublin. Dorthin kamen auch die in den russischen und polnischen Städten und Marktflecken zerstreuten Juden, um orientalische Waren zu kaufen und in ihren Heimatgebieten abzusetzen. Die jüdischen Händler verkehrten auf den Straßen zwischen Lemberg, Lublin und Groß- und Kleinpolen bis hin zur schlesischen Grenze.

Die Juden überschritten auch diese Grenze und führten einen regen Handel mit Böhmen und Deutschland. Aus Briefen aus dem Jahre 1588 erfahren wir, daß Kupfer und Pelze von Krakau nach Prag gebracht wurden, und daß man Zinsgeschäfte und Pfandleihe betrieb. Der Markt von Lublin diente als Treffpunkt für die jüdischen Händler aus Polen und Litauen. Die jüdischen Händler exportierten aus Litauen Häute, Pelze, Holz und Honig und kauften auf dem Markt von Lublin Gewürze aus der Türkei und Fertigwaren aus Westeuropa ein. Die Bücher der Stadt Danzig erwähnen jüdische Händler aus Litauen, die zwischen 1423 und 1436 Holz, Wachs, Pelze, Häute und ähnliches exportierten. Die Lage der litauischen Juden war noch günstiger als die der polnischen. Bis zur Union von Lublin (Vereinigung des polnischen und des litauischen Reichs 1569) genossen die Juden dieselben Rechte wie die übrige freie Bevölkerung. In ihren Händen lagen der Großhandel, die Bank, die Zölle usw. Die Steuer- und Zolleinziehung verhalf ihnen zu großem Reichtum. Ihre Kleider waren mit Gold geschmückt und sie trugen Degen wie Edelleute.

Aus den Akten der litauischen Staatskanzlei geht hervor, daß die Juden in der Zeit von 1463 bis 1494 fast alle Zollstellen des litauischen Herzogtums innehatten. Bielek, Briansk, Brschiczin, Orodno, Kiev, Minsk, Novgorod, Schitomir. [18a] Dokumente aus den Jahren 1488/09 erwähnen einige Juden aus Trock und Kiev, die die großherzoglichen Salzminen ausbeuteten. Zur gleichen Zeit tauchten Juden als Gastwirte auf – ein Beruf, der im polnischen und kleinrussischen Dorf Hand in Hand mit dem kaufmännischen Wuchergeschäft ging.

Die zunehmende Anarchie des Adels in Polen blieb nicht ohne Folgen für die Lage der Juden. Im 16. Jahrhundert ist ihre Stellung noch unerschüttert, aber sie geraten mehr und mehr aus der königlichen Kontrolle unter die der großen und kleinen Feudalherren. Mit der Schwächung der königlichen Gewalt wird auch die den Juden gewährte Protektion immer ungewisser, und die Juden suchen selbst nach weniger hochmögenden, aber zuverlässigeren Beschützern. König Sigismund beklagte sich auf dem Sejm von 1539:

„Die Schlachta unseres Königreiches will alle Profite der Juden aus den Marktflecken, Dörfern und Domänen an sich reißen. Sie erheben den Anspruch, Recht über sie zu sprechen. Unsere Antwort hierauf lautet: Wenn die Juden selbst auf die Vorrechte einer ihnen von den Königen, unseren Vorfahren zugestandenen und von uns bestätigten autonomen Gerichtsbarkeit verzichten, lehnen sie gleichzeitig unseren Schutz ab. Wir haben keinerlei Nutzen mehr an Ihnen und haben keinen Grund, Ihnen mit Gewalt unsere Güte aufzuzwingen.“

Es ist verständlich, daß die Juden auf diese „Güte“ verzichteten; denn das Königtum stellte kaum mehr eine reale Macht in diesem von Adeligen beherrschten Land dar.

Im 16. Jahrhundert festigte sich die Stellung der Juden. Sie erhielten erneut alle Rechte, die man ihnen während des vorangegangenen Jahrhunderts zu entziehen versucht hatte. Ihre wirtschaftliche Lage verbesserte sich.

Die wachsende Macht des Adels (Polen wird 1569 zur Wahlmonarchie) brachte die Juden um den Schutz des Königs, aber die Feudalherren unternahmen alles, um die jüdischen Geschäfte zu stimulieren. Als Kaufleute, Geldleiher und als Haushofmeister der herrschaftlichen Domänen, mit ihren Gaststätten und Brauereien waren die Juden den Feudalherren, die ihre Zeit in der Fremde in Luxus und Müßiggang verbringen, außerordentlich nützlich:

„die kleinen Städte und Ländereien der Schlachta hatten alle ihre jüdischen Lagerhäuser und Herbergen. Soweit es dem Juden gelang, in den Augen des Feudalherren Gnade zu finden, bewegte er sich völlig frei.“ [19]

Die wirtschaftliche Stellung der Juden war in der Regel sehr gut. Aber sie waren dem Adel unterworfen und das untergrub auf die Dauer ihre Autonomie, die in Polen sehr stark entwickelt war.

„Die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Polens erlaubten den Juden, wie ein Staat im Staate zu leben mit eigenen religiösen, administrativen und juristischen Institutionen. Die Juden bildeten eine besondere Klasse mit autonomer innerer Struktur (...).“ [20]

Eine Verordnung des Königs Sigismund August (vom August 1551) legte bezüglich der jüdischen Unabhängigkeit in Großpolen folgendes fest: die Juden haben das Recht, Rabbiner und Richter selbst zu wählen nach allgemeiner Vereinbarung untereinander. Sie können sich der Zwangsgewalt des Staates bedienen.

Jede jüdische Stadt und jeder jüdische Marktfleck hatte einen Gemeinderat. In den größeren Städten hatte der Gemeinderat 40 Mitglieder, in den kleineren 10. Die Mitglieder wurden aufgrund eines Doppelwahlsystems gewählt.

Der Tätigkeitsbereich dieses Gemeinderates war sehr ausgedehnt. Er mußte die Steuern erheben, die Schulen und die öffentlichen Einrichtungen verwalten, die wirtschaftlichen Fragen lösen, sich der Justiz annehmen. Die Macht eines jeden Rates, Kanal genannt, erstreckte sich auf die umliegenden Dörfer. Die Räte der großen Städte waren denen der kleinen Gemeinden hierarchisch übergeordnet. So wurden sie zu Gemeindeverbänden, den sog. Galiloth zusammengefaßt.

Wir haben schon von dem Vaad Arba Aratzoth gesprochen, das die Generalversammlung der jüdischen Gemeinderäte in Polen (d.h. der vier Länder: Polen, Klein-Rußland, Podolien und Wollhynien) war. Es versammelte sich In regelmäßigen Abständen und bildete ein richtiges Parlament.

Im 17. Jahrhundert gerieten die Grundlagen der jüdischen Unabhängigkeit ins Wanken. Zu gleicher Zelt verschlechterte sich die materielle Lage der polnischen Juden, die das Chaos, das die Feudalgesellschaft erschütterte, zu spüren bekamen. Die aufgrund der Minderung der königlichen Autorität in bestimmten Bereichen veränderte die Lage der Juden brachte sie mehr als früher mit der großen Masse der unterworfenen Bevölkerung in Kontakt. Der Jude, Hofmeister des Adeligen oder Gastwirt, wurde von den Bauern ebenso, wenn nicht noch mehr als die Feudalherren gehaßt; denn er hatte sich zum Hauptinstrument ihrer Ausbeutung entwickelt. Diese Situation führte bald zu furchtbaren gesellschaftlichen Explosionen, vor allem in der Ukraine, wo die Autorität des polnischen Adels geringer war als in Polen. Unermeßliche Steppen dienten als Brutstätte für kosakische Militärkolonien, in denen die flüchtigen Bauern die Stunde ihrer Vergeltung vorbereiten konnten.

„Der jüdische Haushofmeister bemühte sich, so viel als wie möglich aus den adeligen Domänen zu ziehen und den Bauern optimal zu exploitieren. Der kleinrussische Bauer empfand tiefen Haß für den polnischen Grundbesitzer, und dies in zweifacher Hinsicht: Er haßte ihn als Herrn und als Ljach (Polen). Aber er haßte vielleicht noch mehr den jüdischen Pächter, mit dem er sich in beständigem Kontakt befand. In ihm erkannte er zugleich den verachtungswürdigen Diener des Herrn und den ihm durch Religion und durch seinen Lebensstil fremden ‚Nicht-Christen‘.“ [21]

Der furchtbare Aufstand der Kosaken bei Chmielnicki im Jahre 1648 führte zur Vernichtung von 700 jüdischen Gemeinden. Dieser Aufstand offenbart die außerordentliche Gebrechlichkeit des anarchistisch zerrütteten Königreichs Polen und leitete seine Aufteilung ein. Ab 1648 ist Polen ununterbrochen Opfer von Invasionen und internen Unruhen. Mit dem Ende des Feudalismus in Polen findet auch die privilegierte Stellung der Juden ihr Ende. Sie werden durch Massenmorde dezimiert. Die Anarchie, die im Lande regiert, macht jegliche normale wirtschaftliche Tätigkeit hinfällig.

Die Verschlechterung der Lage der Juden bringt die alten ideologischen Grundlagen des Judentums ins Wanken. Das Elend und die Verfolgung schaffen einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung des Mystizismus. Das Studium der Kabbala löst das des Talmud ab. Messianische Bewegungen wie die des Sabbatai Zewi gewinnen an Boden.

Es ist in diesem Zusammenhang noch interessant, sich die Bekehrung von Frank und seinen Anhängern zum Christentum zu vergegenwärtigen.

„Die Anhänger von Frank forderten ein Gebiet für sich allein, weil sie weder vom Wucher oder der Ausbeutung der Bauern leben noch Gasthäuser führen wollten. Sie wollten die Erde bearbeiten.“ [22]

Diese Bewegungen hielten sich in kleinem Rahmen, da die Situation des Judentums noch nicht endgültig kompromittiert war. Erst Ende des 18. Jahrhunderts bricht die polnische Feudalgesellschaft unter den Wirkungen der internen Anarchie, des ökonomischen Verfalls und der ausländischen Intervention in sich zusammen. Hier setzen für das Judentum die Probleme der Auswanderung und des Wechsels zu anderen Berufen ein.


Anmerkungen

1. „Es gab im 19. Jahrhundert in den Republiken Lateinamerikas Hunderte von Juden, Händler, Grundbesitzer und auch Soldaten, die die Religion ihrer Väter überhaupt nicht mehr kannten.“ M. Phllippson, Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, 1907-1911, S. 226. (R)

2. Brief einiger portugiesischer Juden an Herrn von Voltaire. In England „bekehrten sich einige dieser portugiesischen Juden zum Christentum ... Familien, die später weltberühmt geworden sind: Disraeli, Ricardo, Aguilar haben sich so vom Judentum abgewandt. Andere sepharditische Familien wurden langsam durch die englische Gesellschaft assimiliert .“ Graetz, Histoire juive, Bd. VI, S. 344.

3. Lettre de quelques Juifs Portugals à M. de Voltaire.

4. Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, München/ Leipzig 1922, S. VII f. und S. 15; Les Juifs et la vie économique, frz. Übs., Paris 1923.

5. Ebd., S. 15; für die folgenden Thesen siehe ebd., S. 15-19.

6. Zu Christen gewordene Juden, Scheinjuden, Neuchristen (port.) vgl. W. Sombart, op. cit., S. 18 f.

7. L. Brentano, Die Anfänge des Kapitalismus, op. cit., S. 163.

8. Hier fehlt im französischen Text offensichtlich der Zusatz; „und der Vertreibung der Juden“.

9. L. Brentano, Die Anfänge des Kapitalismus, op. cit., S. 165.

10. Ebd., S. 165 f.

11. „Das Buch von Herrn Sombart über die Juden beinhaltet eine endlose Reihe von schweren Irrtümern; man könnte beinahe sagen, daß hier ein Paradoxon rigoros entwickelt wird von einem Mann, der ein Talent für lange Ausführungen hat (...) Wie alle Paradoxa enthält es nicht nur falsche Ideen; der Teil über die heutige Zeit muß gelobt werden, obwohl auch er allzuoft den Charakter des semitischen Volkes verzerrt. Der historische Teil ist jedenfalls nahezu lächerlich (...) Der moderne Kapitalismus ist geboren und entwickelte sich zunächst in dem Augenblick, wo die Juden – überall oder betnahe überall verstoßen – alles andere waren als Vorläufer des Kapitalismus.“ E. Sayous, Die Juden, in: Revue économique internationale, Brüssel, Jahrgang 24, Bd. l, Nr. 3, März 1932, S. 533.

12. Siehe die folgenden Seiten.

13. „Die Stellung der Juden während des Mittelalters ist soziologisch mit der einer indischen Kaste in einer im übrigen kastenlosen Umwelt zu vergleichen: sie waren ein Pariavolk. (...). (...) unter den Schöpfern der modernen Wirtschaftsorganisation, den Großunternehmern, (findet sich) kaum ein Jude. (...) Der jüdische Fabrikant dagegen ist eine moderne Erscheinung.“ Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, München/Leipzig 1924, S. 305-307.

14. Die Schlachta (poln. Szlachta), als ritterlicher Kriegerstand entstanden, war vom 15. bis zum 18. Jahrhundert die herrschende Klasse in Polen, die polnische Adelsgesellschaft, der der große Grundbesitz, hohe staatliche und kirchliche Ämter, Vertretung Im Reichstag und die Königswahl vorbehalten waren. Die Herrschaft der Schlachta, die sich selbst paralysierte, Indem sie bestimmte Entscheidungen sich selbst einstimmig zu treffen vorschrieb, war ein wesentlicher Grund für den Niedergang Polens. Ein großer Teil der Schlachta verarmte; aus ihr stammen aber auch die großen polnischen Magnaten.

15. Vgl. Karl Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, Berlin 1969, S. 93 und Bd. III, op. cit., S. 342.

16. Schipper, op. cit., Bd. II, S. 78.

17. Ebd.

18. Ständeversammlung, Landtag, im polnischen Königreich.

18a. Es ist nicht ganz klar, was diese Aneinanderreihung von Städtenamen hier bedeuten soll, da es sich ja auf keinen Fall um litauische Zollstädte handeln kann – vermutlich stellt diese Aufzählung eine Notiz von Leon dar, die er dann nicht mehr ausführte.

19. Graetz, Histoire des Juifs, op. cit.

20. Ebd.

21. Ebd.

22. Ebd. Sabbatei Zewi (1626-1676), ein sogenannter „falscher“ Messias, dessen Wirkung und Auftreten so stark waren, daß noch Mitte des 18. Jahrhunderts Jakob Frank, der sich ebenfalls als Messias ausgab und eine sabbatianische Sekte begründete, sich auf ihn berief.


Zuletzt aktualisiert am 8 April 2010