Abraham Léon

Die jüdische Frage


IX. Die Wege zur Lösung
der jüdischen Frage


Es ist falsch, daß eine Lösung des jüdischen Problems sich seit 2.000 Jahren angeboten hätte. Die Tatsache, daß während dieser langen Zeit keine Lösung gefunden werden konnte, beweist schon ihre Überflüssigkeit. Das Judentum war für die vorkapitalistische Gesellschaft unentbehrlich. Es stellte ein wesentliches Strukturelement dieser Gesellschaft dar. Dies erklärt seine zweitausendjährige Existenz in der Diaspora. Der Jude war für die feudale Gesellschaft ebenso charakteristisch wie Herr und Knecht. Nicht zufälligerweise ist es ein fremdes Element, das im feudalen Wirtschaftssystem die Rolle des „Kapitals“ übernommen hat. Die feudale Gesellschaft konnte als solche keine kapitalistische Formen ausbilden. Von dem Augenblick an, als sie dazu in der Lage war, hörte sie auf, feudal zu sein. Es ist auch kein Zufall, daß der Jude dem feudalen Milieu fremd blieb. Das „Kapital“ der vorkapitalistischen Gesellschaft existiert außerhalb ihres wirtschaftlichen Systems. Von dem Augenblick an, wo das Kapital sich von diesem gesellschaftlichen System zu lösen beginnt und so das fremde Organ ersetzt, verschwindet der Jude zur selben Zeit, wie die Feudalgesellschaft aufhört, feudal zu sein.

Erst der moderne Kapitalismus hat das Judenproblem geschaffen. Nicht, weil die Juden nahezu zwanzig Millionen zählen (der Prozentsatz der Juden gegenüber den Nicht-Juden ist seit der römischen Epoche sogar stark gesunken), sondern weil der Kapitalismus die jahrhundertealte Existenzgrundlage des Judentums zerstörte. Er zerstörte die Feudalgesellschaft und mit ihr die Funktion der jüdischen Volks-Klasse. Die Geschichte verurteilte diese Volks-Klasse zum Untergang und so stellte sich das jüdische Problem. Die jüdische Frage ist die Frage der Anpassung des Judentums an die moderne Gesellschaft, das Problem der Beseitigung des feudalistischen Erbes.

Durch Jahrhunderte hindurch stellte das Judentum einen gesellschaftlichen Organismus dar, in dem Elemente der sozialen Struktur und Elemente nationaler Art einander wechselseitig durchdrangen. Die Juden bilden keineswegs eine Rasse; im Gegenteil, sie sind, wahrscheinlich in besonders charakteristischer und ausgeprägter Art eine Rassenmischung. Das schließt nicht aus, daß in dieser Rassenmischung das asiatische Element besonders hervorsticht, jedenfalls in ausreichendem Maße, um den Juden in der Welt des Occident, in der er am stärksten vertreten ist, auffallen zu lassen. Dieser reale nationale „Hintergrund“ wird von einem irrealen, literarischen Hintergrund ergänzt, gebildet durch die jahrhundertealte Tradition, die den Juden der Gegenwart mit seinen entferntesten „Ahnen“ aus der Bibel verbindet. Auf diese nationale Grundlagen wurde in der Folgezeit der Klassenhintergrund, die merkantile Psychologie aufgetragen. Nationale und gesellschaftliche Elemente haben sich weitgehend vermischt und gegenseitig durchdrungen. Es wäre schwierig, bei einem polnischen Juden das Erbe seiner Vorfahren von dem seiner sozialen Funktion geschuldeten Erbe zu trennen, die er in Polen über Jahrhunderte hinweg ausgeübt hat. Sicherlich hat die gesellschaftliche Basis seit langer Zelt an Einfluß gegenüber dem nationalen Hintergrund gewonnen. Aber, wenn der gesellschaftliche Aspekt zum nationalen hinzukommt, so konnte letzterer nur dank des ersteren überleben. Nur dank seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Position konnte der Jude sich „konservieren“.

Der Kapitalismus hat die jüdische Frage gestellt, d.h. er hat die gesellschaftlichen Grundlagen zerstört, auf denen das Judentum sich seit Jahrhunderten erhielt. Aber er hat sie nicht gelöst, weil er dem von seinem bisherigen gesellschaftlichen Rahmen befreiten Juden keinen neuen Platz zuweisen konnte. Der Kapitalismus im Niedergang, hat den Juden ins Nichts geworfen. Der „vorkapitalistische“ jüdische Händler verschwand weitgehend, aber sein Sohn fand keinen Platz In der modernen Produktion. Das Judentum verlor den Boden unter den Füßen und wurde weithin ein gesellschaftlich deklassiertes Element. Der Kapitalismus hat nicht nur die gesellschaftliche Funktion der Juden, sondern auch die Juden selbst verurteilt.

Kleinbürgerliche Ideologien neigen immer dazu, historische Phänomene zu zeitlosen Kategorien aufzuwerten. Für sie ist die Judenfrage ein Ergebnis der Diaspora; nur die Rückkehr der Juden nach Palästina kann sie lösen.

Es ist kindisch, die jüdische Frage auf eine territoriale Frage reduzieren zu wollen. Die territoriale Lösung könnte nur dann einen Sinn haben, wenn sie das Verschwinden des traditionellen Judentums, sein Eindringen in die moderne Wirtschaft, die „produktive Eingliederung“ der Juden in die kapitalistische Ordnung bedeuten würde. Der Zionismus gelangt auf umgekehrtem Weg zu den von seinen ärgsten Feinden, den konsequenten „Assimiliatoren“, vorgeschlagenen Lösungen. Für beide handelt es sich darum, das „verfluchte“ Erbe der Vergangenheit zu beseitigen, aus den Juden Arbeiter, Landwirte und produktive Intellektuelle zu machen. Die Illusion des Zionismus besteht nicht in seinem Willen, dieses Ergebnis zu erreichen; dabei handelt es sich schlicht um eine historische Notwendigkeit, die sich früher oder später realisieren wird. Seine Illusion besteht in dem Glauben, daß die unüberwindbaren Schwierigkelten, die der Kapitalismus den zionistischen Zielen entgegensetzt, sich in Palästina auf wunderbare Weise von selbst lösen würden. Wenn sich die Juden in der Diaspora wirtschaftlich jedoch nicht integrieren konnten, so werden dieselben Gründe verhindern, daß ihnen dies in Palästina gelingt. Die Welt ist heute so eng geworden, daß der Versuch, sich einen Schlupfwinkel vor ihren Stürmen zu schaffen, völlig absurd ist. Deshalb bedeutet der Fehlschlag der „Assimilation konsequenterweise zugleich ein Versagen des Zionismus.“ Als sich das jüdische Problem zur ungeheuren Tragödie ausweitete, erwies sich die Hoffnung auf Palästina als jämmerlicher Trugschluß. 10 Millionen Juden befinden sich in Konzentrationslagern. Was bedeuten einige zionistische Kolonien in Anbetracht dieser gigantischen Zahl?

Also gibt es keine Lösung für die jüdische Frage außerhalb des Gegensatzes von Assimilation und Zionismus? Nicht innerhalb des kapitalistischen Systems, ebensowenig wie es für die anderen Probleme der Menschheit eine Lösung ohne tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzungen gibt. Es sind die gleichen Gründe, die die jüdische Emanzipation und die Zielsetzungen des Zionismus unmöglich machen. Man kann die Ergebnisse der jüdischen Frage nicht ohne ihre tieferliegenden Ursachen beseitigen.

Das Ghetto und die Ringellöckchen sind wieder aufgetaucht, Symbole des tragischen Wegs, den die Menschheit eingeschlagen hat. Der Antisemitismus wächst, aber er trägt bereits den Keim seines Absterbens in sich. Die Ausrottung der Juden schafft vorübergehend eine Art Lebensraum für das Kleinbürgertum. Die „Arisierung“ erlaubt es, einige Zehntausend beschäftigungsloser Intellektueller und Kleinbürger unterzubringen. Indem sich die Kleinbürger jedoch gegen die scheinbaren Gründe ihres Elends wenden, tragen sie nur dazu bei, die wahren Gründe und deren Wirkung zu verschärfen. Der Faschismus beschleunigt die Proletarisierung der Mittelklassen. Nach den jüdischen Kleinbürgern werden viele Tausende Händler und Handwerker enteignet und proletarisiert. Die kapitalistische Konzentration hat gigantische Fortschritte gemacht. Die „offensichtliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage“ geschah um den Preis der Vorbereitung des zweiten imperialistischen Krieges, der eine Quelle furchtbarer Zerstörungen und Massenmorde wurde.

So spiegelt das tragische Schicksal des Judentums nur mit besonderer Schärfe die Lage der Menschheit in ihrer Gesamtheit wider. Der Niedergang des Kapitalismus bedeutet für die Juden die „Rückkehr zum Ghetto“, und dies zu einem Zeitpunkt, wo das Ghetto längst zusammen mit den Grundmauern der feudalen Gesellschaft verschwunden war. Der Kapitalismus versperrt der Menschheit den Weg in die Vergangenheit ebenso wie den Weg in die Zukunft. Nur die Zerstörung des Kapitalismus kann die Menschheit in die Lage versetzen, die ungeheuren Errungenschaften des industriellen Zeitalters für sich zu benutzen. Ist es verwunderlich, daß die jüdischen Massen, die als erste und mit besonderer Schärfe unter den Widersprüchen des Kapitalismus litten, dem sozialistischen und revolutionären Kampf im Übermaß Kräfte zur Verfügung stellten? Lenin unterstrich wiederholt die Bedeutung der Juden für die Revolution, nicht nur in Rußland, sondern auch in anderen Ländern. Lenin sagte auch, daß die Flucht eines Teils der jüdischen Bevölkerung ins Innere Rußlands im Anschluß an die Besetzung der westlichen Industriegebiete sehr nützlich für die Revolution war, ebenso, wie das Auftreten einer großen Zahl jüdischer Intellektueller in den russischen Städten während des Krieges. Sie ermöglichten den Bolschewiki die Durchbrechung der allgemeinen Sabotage, auf die sie überall nach der Revolution stießen und die sehr gefährlich war. Dadurch halfen sie den Bolschewiki, eine sehr kritische Phase zu überwinden. [1] Der hohe Prozentsatz von Juden in der proletarischen Bewegung spiegelt nur die tragische Sit uation des Judentums in unserer Zeit wider. Die geistigen Fähigkeiten des Judentums, die es seiner historischen Entwicklung verdankt, sind so für die proletarische Bewegung eine ernstzunehmende Unterstützung.

Hierin liegt sicher noch ein letzter, – wenn vielleicht auch nicht weniger wichtiger – Grund für den modernen Antisemitismus. Die herrschenden Klassen verfolgen mit besonderem Sadismus die jüdischen Intellektuellen und Arbeiter, die viele Kämpfer für die proletarische Bewegung stellten. Die völlige Isolierung der Juden von den Quellen von Kultur und Wissenschaft wird für das ins Schwanken geratene Regime, das sie verfolgt, unumgänglich. Die lächerliche Legende vom „jüdischen Marxismus“ ist nichts weiteres als eine Karikatur der tatsächlichen Beziehung zwischen dem Sozialismus und den jüdischen Massen.

Noch nie ist die Situation der Juden so tragisch gewesen. Selbst in den schlimmsten Zeiten des Mittelalters bestanden ganze Landstriche, die sie beherbergten. Heute macht ein weltweiter Kapitalismus die Erde für sie unbewohnbar. Noch nie hat die Fata Morgana des Verheißenen Landes die jüdischen Massen so sehr verführt. Aber noch nie war das Verheißene Land weniger in der Lage, die jüdische Frage zu lösen.

Der Paroxysmus der jüdischen Frage heute ist auch der Schlüssel zu ihrer Lösung. Wenn die Lage der Juden noch niemals so tragisch war, so war sie auch noch niemals so nahe daran, als Problem gelöst zu werden. In den vergangenen Jahrhunderten hatte der Judenhaß einen wirklichen Grund in dem gesellschaftlichen Antagonismus zwischen Juden und anderen Teilen der Bevölkerung. Heute fallen die Interessen der jütdischen Klassen mehr oder minder mit denen der Arbeiterklassen der ganzen Welt zusammen. Indem der Kapitalismus die Juden als „Kapitalisten“ verfolgt, macht er sie zu Parias der Gesellschaft. Die grausamen Judenverfolgungen demaskieren die stupide Bestialität des Antisemitismus und zerstören die letzten Vorbehalte der Arbeiterklassen gegen die Juden. Die Ghettos und die gelben Sterne verhindern nicht, daß die Arbeiter eine wachsende Solidarität für die empfinden, die am meisten unter dem leiden müssen, an dem die Menschheit in ihrer Gesamtheit leidet.

Eine gesellschaftliche Explosion – die großartigste, die die Welt je gesehen haben wird –, wird die Befreiung der am meisten verfolgten Parias unserer Erde vorbereiten. Wenn endlich die Menschen in den Fabriken und auf den Feldern die Vormundschaft der Kapitalisten abgeschüttelt haben, wenn sich vor der befreiten Menschheit das Abenteuer einer unbegrenzten Zukunft auftut, dann können die Juden einen nicht unbeachtlichen Beitrag zum Aufbau dieser neuen Welt leisten.

Das soll nicht heißen, daß der Sozialismus wie mit einem Zauberstab alle Schwierigkeiten, die mit der Lösung der jüdischen Frage verbunden sind, mit einem Schlag aus der Welt schaffen wird. Das Beispiel der Sowjetunion zeigt, daß selbst nach der proletarischen Revolution die spezifische, historisch ererbte Struktur des Judentums eine bestimmte Anzahl Schwierigkeiten verursachen wird, vor allem während der Übergangsperiode. So haben die Juden in Rußland beispielsweise während der NEP [2] aufgrund ihrer Handelstradition der neuen Bourgeoisie zahlreiche Kader geliefert.

Andererseits hat die große Masse der kleinen jüdischen Händler und Handwerker zu Beginn der Diktatur des Proletariats viel gelitten. Erst viel später, mit dem Erfolg des Fünfjahresplans, drangen die Juden in Massen in die sowjetrussische Wirtschaft ein. Im ganzen gesehen war die Erfahrung – trotz einiger Schwierigkeiten – eindeutig: Hunderttausende von Juden sind Arbeiter und Bauern geworden. Die Tatsache, daß ein genügend hoher Prozentsatz der jüdischen Lohnempfänger aus Angestellten und Beamten besteht, ist keineswegs beunruhigend. Der Sozialismus hat kein Interesse daran, daß die Juden sich auf manuelle Tätigkeiten beschränken. Im Gegenteil, die intellektuellen Fähigkeiten der Juden müssen ihm soweit wie möglich zur Verfügung gestellt werden.

Es hat sich also erwiesen, daß selbst unter den relativ schwierigen Bedingungen eines rückständigen Landes die jüdische Frage vom Proletariat gelöst werden kann. Die Juden haben sich in Massen in die russische Wirtschaft integriert. Die „produktive Eingliederung“ der Juden wurde von zwei parallel laufenden Prozessen, einem Prozeß der Assimilation und einem Prozeß der territorialen Konzentration, begleitet. Dort, wo die Juden in die Industrie vordrangen, assimilierten sie sich schnell. Schon im Jahre 1926 sprachen kaum 40 % der jüdischen Bergarbeiter im Donec-Becken noch Jiddisch. Dennoch leben die Juden in nationaler Autonomie. Sie besitzen eigene Schulen, eine jiddische Presse und unabhängige Gerichte. Aber die jüdischen Nationalisten hören nicht auf, die Vernachlässigung dieser Schulen und dieser Presse zu beklagen. Nur dort, wo die jüdischen Massen in genügender Dichte als Siedler hingeschickt worden waren, besonders nach Birobidjan, erlebt man eine Art „nationaler Renaissance“. [3] Das Leben selbst zeigt also, daß das Problem, das das Judentum so sehr entzweit, nämlich die Alternative: Assimilation oder territoriale Konzentration – nur in den Köpfen von Kleinbürgern spukt. Die jüdischen Massen wünschen nur eines, nämlich das Ende ihres Martyriums. Dies kann ihnen nur der Sozialismus verschaffen. Aber der Sozialismus muß ihnen, wie auch allen anderen Völkern, die Möglichkeit geben, sich zu assimilieren und zugleich ein eigenes nationales Leben zu führen.

Ist dies das Ende des Judentums? Mit Sicherheit. Trotz ihrer scheinbar unüberwindlichen Gegensätzlichkeit sind sich Assimilatoren und Zionisten darin einig, das Judentum, so wie es die Geschichte kennt, nämlich als merkantiles Judentum in der Diaspora, als Volks-Klasse, zu bekämpfen. Die Zionisten hö ren nicht auf zu wiederholen, daß es sich darum handle, in Palästina einen völlig neuen Typ von Juden zu schaffen, völlig verschieden von dem der Diaspora. Sie verwerfen mit Abscheu selbst Sprache und Kultur des Judentums der Diaspora. In Birobidjian, in der Ukraine und im Donec-Becken entledigt sich der „alte Jude“ ebenfalls seines jahrhundertealten Plunders. Die Volks-Klasse, das historische Judentum, ist endgültig von der Geschichte verurteilt. Der Zionismus wird trotz aller seiner traditionellen Forderungen eine „nationale Wiedergeburt“ nicht bewirken können, sondern höchstens eine „nationale Geburt“. Der „neue Jude“ gleicht weder seinem Bruder in der Diaspora, noch seinem Vorfahren aus der Zeit der Zerstörung Jerusalems. Der junge Palästinenser, der stolz ist, die Sprache Bar Cochba’s [4] zu sprechen, hätte diesen wahrscheinlich nicht verstanden. In der Tat sprachen die Juden zur Zeit Roms fließend Aramäisch und Griechisch, aber sie hatten nur sehr vage Kenntnisse des Hebräischen. Das Neu-Hebräisch entfernt sich übrigens gezwungenermaßen mehr und mehr von der biblischen Sprache. All dies wird dazu beitragen, die palästinensischen Juden von denen der Diaspora zu entfernen. Und wer kann daran zweifeln, daß morgen, wenn die nationalen Barrieren und Vorurteile in Palästina verschwinden, eine fruchtbare Annäherung zwischen arabischen und jüdischen Arbeitern stattfindet, was zu ihrer partiellen oder totalen Vermischung führen wird?

Das „ewige“ Judentum, das noch nie mehr als ein Mythos war, wird verschwinden. Es ist voreilig, in der „Assimilation“ und in der „nationalen Lösung“ unvereinbare Widersprüche zu sehen. Selbst in den Ländern, in denen sich möglicherweise Juden gruppieren, wird man entweder das Entstehen einer neuen, von der alten völlig verschiedenen jüdischen Nationalität oder die Bildung neuer Nationen erleben. Übrigens wird im ersten Fall diese neue Nationalität – es sei denn, daß die ansässige Bevölkerung vertrieben würde oder die strengen Verordnungen Esras und Nehemias wiedereingeführt würden – von den Einheimischen des Landes beeinflußt werden.

Der Sozialismus führt im nationalen Bereich notwendigerweise zur Demokratisierung im weitesten Sinne. Er muß den Juden die Möglichkeit geben, in allen Ländern, in denen sie ansässig sind, ein eigenes nationales Leben zu fuhren. Er muß ihnen außerdem ermöglichen, sich auf ein oder mehrere Gebiete zu konzentrieren, ohne natürlich die Interessen der einheimischen Bevölkerung zu verletzen. Nur eine so weit wie möglich ausgedehnte proletarische Demokratie wird es erlauben, die jüdische Frage mit einem Minimum an Leiden zu lösen.

Natürlich hängt das Tempo der Lösung der jüdischen Frage vom Rhythmus des sozialistischen Aufbaus ab. Der Antagonismus zwischen Assimilation und nationaler Lösung ist relativ, die letztere ist oft nur die Einleitung zur ersteren. Historisch gesehen sind alle bestehenden Nationen Produkte diverser Rassen- und Völkervermischungen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß neue Nationen durch Vermischung oder Versprengung heute existierender Nationen entstehen. Wie dem auch sei, der Sozialismus muß sich hier darauf beschränken, „die Natur handeln zu lassen“.

Man wird übrigens im gewissen Sinne zur Praxis der vorkapitalistischen Gesellschaft zurückkehren. Erst der Kapitalismus hat dadurch, daß er dem nationalen Problem eine wirtschaftliche Basis gegeben hat, auch die unüberwindbaren nationalen Gegensätze geschaffen. Vor Einbruch des Kapitalismus lebten Slowaken, Tschechen, Deutsche und Franzosen in völliger Eintracht miteinander. Die Kriege hatten keinen nationalen Charakter; sie interessierten nur die besitzenden Klassen. Die Politik erzwungener Assimilierung und nationaler Verfolgungen war bei den Römern unbekannt. Die barbarischen Völker ließen sich auf friedlichem Wege romanisieren oder hellenisieren. Die nationalen kulturellen und linguistischen Antagonismen von heute sind nichts anderes als die Folgen der vom Kapitalismus geschaffenen wirtschaftlichen Widersprüche. Mit dem Verschwinden des Kapitalismus wird das nationale Problem seine Schärfe völlig verlieren. Wenn es auch verfrüht wäre, von einer weltweiten Assimilation der Völker zu sprechen, so ist es doch offensichtlich, daß eine globale Planwirtschaft eine beträchtliche Annäherung aller Völker der Welt zufolge hätte. Es wäre jedoch unangebracht, die Assimilierung künstlich voranzutreiben; nichts könnte ihr mehr schaden. Noch ist nicht vorauszusehen, welcher Art die „Nachfahren“ des heutigen Judentums sein werden. Aber der Sozialismus wird darüber wachen, daß sich diese „Generation“ unter optimalen Bedingungen entfalten kann.

(Dezember 1942)


Anmerkungen

1. S. Dimanstein, zitiert von Otto Heller in: Der Untergang des Judentums, Wien/Berlin 1931, S.229.

2. NEP = Novaja ekonomitscheskaja politika (Neue ökonomische Politik) – von Lenin durchgesetzte Wirtschaftspolitik der Sowjetunion ab 1921/22, die den Kriegskommunismus ablöste und die Privatinitiative der Bauern, und gerade der reichen Bauern, mittels privatkapitalistischer Wirtschaftsmethoden für den sozialistischen Aufbau nutzbar machen sollte.

3. Das jüdische Problem in Rußland wird hier nur gestreift.

4. Siehe I, 6.


Zuletzt aktualisiert am 8 April 2010