Jack London

Wie ich Sozialist wurde

1905


Abschließendes Kapitel von Jack London, War of the Classes, New York, Macmillan, 1905.
Übersetzung: Joseph Grabisch, Abgedruckt in Franz Jung (Hrsgb.) Jack London, Ein Dichter der Arbeiterklasse, Wien, Verlag für Literatur und Politik, 1924, S. 22–26.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.


Ich darf wohl sagen, daß die Weise, wie ich Sozialist wurde, etwas ähnlich war derjenigen, wie die heidnischen Deutschen Christen wurden: es wurde mir eingehämmert. Vor meiner Bekehrung zum Sozialismus habe ich ihn nicht gerade gesucht. Das war damals, als ich ganz jung war und noch nicht flügge, als ich überhaupt von nichts wußte, und obgleich ich niemals von einer Lehre des „Individualismus“ gehört hatte, sang ich mit allen meinen Kräften das Loblied des Starken, weil ich selber stark war. Unter stark meine ich, daß ich eine gute Gesundheit und feste Muskeln hatte. Ich hatte meine Kindheit auf kalifornischen Farmen zugebracht, als Junge Zeitungen auf den Straßen einer gesunden Stadt im Westen verkauft, meine Jünglingszeit in der ozonhaltigen Luft des Meerbusens von San Francisco und des Stillen Ozeans verlebt. Ich liebte das Leben in der freien Luft, und ich arbeitete nur in freier Luft. Ich lernte kein Handwerk, sondern ließ mich treiben, nahm bald diese, bald jene Arbeit an, sah zufrieden in die Welt und fand alles in ihr gut. Aber ich hatte diesen Optimismus, weil ich gesund und stark war, weil ich mich weder mit Schmerzen noch mit körperlichen Schwächen herumschlagen mußte, niemals wurde ich von einem Arbeitgeber als ungeeignet zurückgewiesen, ich bekam immer irgendeine Händearbeit, ob es nun beim Kohlenschaufeln oder auf einem Schiff war.

Und weil ich mich meines jungen Lebens freute, und weil ich meinen Mann stellte bei der Arbeit wie bei der Rauferei, war ich ein unentwegter Individualist. Das war sehr natürlich. Ich gewann immer. Darum wagte ich jedes Spiel, ich glaubte, ich könnte es spielen, es sei das rechte Spiel für Männer. Ein Mann zu sein, bedeutete für mich, das Mann mit großen Buchstaben auf mein Herz zu schreiben. Zu wagen wie ein Mann, zu kämpfen wie ein Mann, zu arbeiten wie ein Mann, auch wenn man dafür wie ein Junge bezahlt wird, das alles ergriff und packte mich wie nichts sonst. Und ich sah vor mir in eine verschleierte unbegrenzte Zukunft und sah mich das männliche Spiel weiterspielen, mit unerschütterter Gesundheit, ohne Unglück, und mit immer kräftigen Muskeln. Ohne Ende erschien mir diese Zukunft. Ich sah mich durch das Leben rasen wie Nietzsches „Blonde Bestie“, frischfröhlich abenteuernd und erobernd durch bloße Kraft und Stärke.

Ich muß gestehen, ich dachte kaum an die Unglücklichen, die Kranken, die Siechen, die Alten, die Verkrüppelten, außer daß ich dunkel fühlte, daß sie ebensogut wie ich, wenn sie es wirklich wollten, schwere Arbeit leisten könnten. Ihr Unglück zog ich nicht in Betracht. Unglück erschien mir als Schicksal, das ich ebenso mit großen Buchstaben schrieb, und dem man nicht entgehen kann. Napoleon hatte Unglück bei Waterloo, aber das dämpfte nicht mein Verlangen, ein neuer Napoleon zu werden. Außerdem erlaubte mein Optimismus, der von einem Magen kam, der Eisenstücke verdauen konnte, und von einem Körper, der durch Schwerarbeit immer kräftiger wurde, mir nicht, das Unglück mit meiner erhabenen Persönlichkeit auch nur als weitläufig verwandt zu betrachten. Ich war stolz darauf, einer von den starkarmigen Söhnen der Natur zu sein. Die Würde der Arbeit war mir das eindruckvollste in der Welt. Ohne Carlyle gelesen zu haben, formulierte ich ein Evangelium der Arbeit, das jenes in den Schatten stellte. Arbeit war mir alles. Es war mir Heilung und Erlösung. Mein Stolz über ein gut verbrachtes Tage­werk mag einem anderen unbegreiflich sein, und es er­scheint mir auch unbegreiflich, wenn ich zurückblicke. Ich war ein so getreuer Lohnsklave, wie nur je einer von Kapitalisten ausgebeutet wurde. Sich von der Arbeit zu drücken oder sich krank zu stellen, erschien mir als doppelte Sünde, einmal gegen mich und dann gegen den, der mir meinen Lohn bezahlte. Eine solche Handlungsweise wäre mir wie ein Verbrechen vors gekommen, das gleich hinter Verrat kam.

Kurz gesagt, mein freudiger Individualismus war beherrscht von rechtgläubiger Bourgeoismoral. Ich las die Bourgeoisblätter, hörte die Bourgeoisprediger und schrie Beifall den lauttönenden Plattheiten der Bourgeoispolitiker. Und ich fürchte, wenn nicht gewisse Geschehnisse meinen Lebensweg anders gerichtet hätten, würde ich mich zu einem professionierten Streikbrecher entwickelt haben, und mein Kopf und meine Arbeitsfähigkeiten würden unweigerlich eines Tages zerschmettert worden sein von dem Knüppel eines kämpfenden Gewerkschafters.

Ich war eben achtzehn geworden und von einer siebenmonatigen Seereise als Matrose zurückgekehrt, als ich mir vornahm, auf die Wanderschaft zu gehen. Auf Schusters Rappen und als blinder Passagier schlug ich mich durch vom Westen, wo Menschen zur Arbeit gesucht wurden, und wo es sich gut leben ließ, nach den dichtgedrängten Arbeiterzentren des Ostens, wo der Mensch wenig Bedeutung hatte und jede Arbeit anzunehmen begierig war. Und auf dieser Abenteurers fahrt der blonden Bestie lernte ich das Leben von einem neuen und ganz anderen Gesichtswinkel aus sehen. Ich war gesunken vom Proletariat herunter in das, was die Soziologen das untergetauchte Zehntel nennen, und ich war erschreckt, als ich fand, auf welche Weise dieses untergetauchte Zehntel in seine Lage gekommen war. Ich fand darunter allerlei Menschen, viele unter ihnen waren ehedem so gut wie ich, und gerade solche blonden Bestien, Matrosen, Soldaten, Arbeiter, alle herausgerissen und entwurzelt, aus der Bahn geschleudert durch Arbeit, Entbehrung und Unglücksfälle und von ihren Arbeitgebern auf die Straße gejagt. Ich pochte an die Türen mit ihnen und schlug hinter mir die Tore zu, ich fror mit ihnen in Güterwagen oder auf Parkbänken, ich hörte ihre Lebensgeschichte an, die so hoffnungsvoll begann wie die meine und die vor meinen Augen in der Abdeckerei endete im tiefsten Schlamm des menschlichen Abgrundes.

Und während ich zuhorchte, begann mein Gehirn zu arbeiten. Das Weib auf der Straße und der Mann im Rinnstein kamen mir ganz nahe. Ich sah das Bild des menschlichen Abgrundes so lebhaft vor mir und im tiefsten Abgrunde mich über ihnen, nicht viel höher hängend an der abschüssigen Wand und mich nur durch meine bloße Kraft und Anstrengung festhaltend. Schrecken ergriff mich. Was würde geschehen, wenn meine Kraft nachläßt? Wenn ich unfähig sein würde, Schulter an Schulter mit den starken Männern zu arbeiten, die heute noch ungeboren sind? Und dort und damals schwor ich mir einen heiligen Eid: Mein Lebtag habe ich schwer gearbeitet und mit jedem Tage, an dem ich arbeite und mit gerade um so viel, bin ich näher dem Abgrunde gekommen. Ich werde mich schon aus dem Abgrunde herausarbeiten, aber das wird nicht geschehen durch bloße Muskelarbeit. Ich werde keine Schwerarbeit mehr tun, und Gott soll mich niederschmettern, wenn ich jemals wieder schwerere körperliche Arbeit tue als ich unbedingt tun muß. — Und seitdem habe ich mich bemüht, diesen Eid zu halten.

Und ich blieb mir treu. Als ich einmal bei meinem Herumwandern durch die Vereinigten Staaten und Kanada bei den Niagarafällen landete, wurde ich von einem belohnungslüsternen Polizisten geschnappt, jede Gelegenheit wurde mir genommen, meine Unschuld zu beweisen, man verurteilte mich kurzerhand zu dreißig Tagen Gefängnis, weil ich keine feste Wohnung und keine ersichtlichen Unterhaltsmittel besaß, man legte mir Handschellen an und kettete mich zusammen mit einem Trupp von Männern, die ein ähnliches Schicksal betroffen hatte; ich wurde hinunter nach Buffalo transportiert, wurde sorgfältig numeriert im Kreisgefängnis von Erie, man schor mir den Kopf kahl, rasierte meinen aufsprossenden Schnurrbart ab, kleidete mich in einen gestreiften Anzug, irgendein Medizinstudent, der Leute unseres Schlages als Versuchskaninchen betrachtete, impfte mich gewaltsam, man lehrte mich im Gänsemarsch gehen und ließ mich arbeiten unter der Aufsicht von scharfbewaffneten Posten — alles nur darum, weil ich gewagt hatte, wie eine blonde Bestie zu leben. Weitere Einzelheiten mögen unerwähnt bleiben, nur soviel, daß der Nationalpatriotismus dadurch beträchtlich zusammenschmolz und bis auf den letzten Rest durch irgendeinen Riß meiner Seele hindurchsickerte — wenigstens habe ich mich seit dieser üblen Erfahrung mehr um die Menschen als um imaginäre geographische Grenzen gekümmert.

Ich denke, daß mein überschäumender Individualismus ziemlich wirksam aus mir heraus- und etwas anderes ebenso wirksam in mich hineingehämmert worden ist. Aber gerade, wie ich ein Individualist geworden war, ohne es zu wissen, so war ich ein Sozialist geworden, ohne mir dessen bewußt zu werden. Ich war wieder geboren worden, hatte aber keinen neuen Namen bekommen, und ich ging umher und suchte herauszufinden, was ich nun eigentlich wäre. Ich ging zurück nach Kalifornien und fing an, Bücher zu lesen. Ich weiß nicht mehr, welches mir zuerst in die Hand fiel. Es tut auch nichts zur Sache. Ich war ein anderer geworden, auch wenn ich nicht wußte, was das andere war, aber mit Hilfe der Bücher fand ich, daß ich ein Sozialist war. Von da ab habe ich viele Bücher gelesen, aber kein volkswirtschaftliches Argument, kein logischer Beweis von der Notwendigkeit des Sozialismus hat mich so tief überzeugt wie die Lehre jenes Tages, da ich den kapitalistischen Abgrund um mich wie eine Mauer sah, da ich fühlte, wie ich hinunterglitt, immer weiter hinunter bis auf den Bodenschlamm.



Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018