Jack London

Vorwort zu Krieg der Klassen

1905


Vorwort von Jack London, War of the Classes, New York, Macmillan, 1905.
Übersetzung: Joseph Grabisch, Abgedruckt in Franz Jung (Hrsgb.) Jack London, Ein Dichter der Arbeiterklasse, Wien, Verlag für Literatur und Politik, 1924, S. 99–103.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.


Als junger Bursch galt ich als verschrobener Kerl, weil ich Sozialist war. Reporter von lokalen Zeitungen interviewten mich, und die veröffentlichten Interviews lasen sich wie pathologische Studien von einem besonderen Fall von Abnormität. Damals nannte man mich, weil ich in meiner Heimatstadt für die Kommunalisierung von allgemeinen Bedürfnissen eintrat, Rothemd, Dynamitbombenwerfer und Anarchist — und sonst ganz vernünftige Burschen, die mich sonst sehr gern hatten, hielten einen Abstand von mir, wenn sie in Gesellschaft ihrer Schwestern waren.

Aber die Zeiten änderten sich. Eines Tages erklärte der republikanische Bürgermeister meiner Heimatstadt ganz öffentlich, daß Kommunaleigentum an öffentlichen Betrieben eine verfassungsmäßige amerikanische Politik sei. Und ich glaubte meine Zeit gekommen. Der Pathologe betrachtete mich nicht mehr als Studienobjekt, meine ehrsamen Altersgenossen hatten nichts mehr gegen meine Gesellschaft und ihre Schwestern konnten sich öffentlich mit mir sehen lassen. Meine politischen und soziologischen Ideen schrieb man auf das Konto meiner jugendlichen Ungebundenheit, und gutmütige, ältere Leute sagten mir gönnerhaft, daß ich eines Tages ein ungewöhnlich intelligentes Mitglied der Gesellschaft werden würde. Auch meinten sie, daß meine Ansichten etwas mit meinen leeren Taschen zu tun hätten, und daß mit der I Zeit, wenn ich ein paar Dollar zusammengespart haben I würde, meine Ansichten mit den ihrigen übereinstimmen würden.

Und dann kam eine Zeit, in der mein Sozialismus allgemeine Beachtung fand. Ich wurde immer noch als der ungebundene, junge Bursche behandelt, aber mit mehr Achtung. Ich galt als Romantiker und die Romantik ist für ein Bourgeoisgemüt etwas Achtbares, weil sie nicht gefährlich ist. Als junger Mann mit sonst nichts bedrohlicherem, als ein paar philosophischen Ideen, die in ihrem Ursprung deutsch waren, war ich eine interessante und ziemlich sympathische Persönlichkeit.

Aber die Erfahrung hatte mich etwas gelehrt: nicht ich war es, der sich geändert hatte, sondern die Gesellschaft. In Wirklichkeit waren meine sozialistischen Ideen fester gegründet und ausgesprochener. Ich wiederhole, die Gesellschaft hatte sich geändert und zu meinem Leidwesen machte ich die Entdeckung, daß die Gesellschaft sich geändert hatte in der Absicht, um mir meinen Donnerkeil zu stehlen. Sie hatte mich vorher als Rothemd gebrandmarkt, weil ich für Gemeinschaftsbesitz eingetreten war, ein wenig später hatte sie ihrem Bürgermeister zugestimmt, als er den Gemeinbesitz als verfassungsmäßige amerikanische Politik erklärte. Er stahl meinen Donnerkeil und die Gesellschaft applaudierte dem Dieb. Und heute ist es so weit gekommen, daß die Gesellschaft mir über Gemeineigentum etwas Neues sagen kann.

Wie es mir ergangen ist, so ist es nicht viel anders der sozialistischen Bewegung insgesamt in den Vers einigten Staaten gegangen. In den Bourgeoisköpfen hat sich betreffs des Sozialismus eine Wandlung vollzogen: aus einer schrecklichen Abnormität ist er zu einem jugendlichen Überschäumen geworden, und später haben die zwei alten Parteien seinen Donnerkeil gestohlen. Nachdem sie den Sozialismus, den schafsgeduldigen sparsamen Arbeiter, ausgebeutet hatten, wurde er respektabel.

Nur gefährliche Dinge werden verabscheut. Etwas, was nicht gefährlich ist, ist immer respektabel. Und so war es mit dem Sozialismus in den Vereinigten Staaten. Jahrelang war er sogar sehr respektabel, ein lieblicher und schöner utopischer Traum, aber doch nur ein Traum. Bis jetzt wurde der Sozialismus geduldet, weil er eine nicht bedrohliche Unmöglichkeit war. Ein gut Teil seiner Donnerkeile waren gestohlen und die Arbeiter wurden besänftigt durch volle Speisenäpfe. Da war nichts zu fürchten. Die gute, alte Welt ging weiter, Kupons wurden weiter geschnitten und größere Profite als je wurden den Arbeitern erpreßt. Und Kuponschneiden und Profiterpressen sollten so weiter gehen bis an das Ende der Tage. Diese Beschäftigungen waren göttlichen Ursprungs und wurden durch göttliches Recht aufrechterhalten. Die Zeitungen, die Prediger und die Universitätsprofessoren sagten, es sei so, und was diese sagen, ist natürlich für ein Bourgeoishirn das reine Evangelium.

Dann kam die Präsidentenwahl von 1904. Wie ein Blitz aus heiterem Himmel waren die 435.000 sozialistischen Stimmen, die größte Stimmenzahl einer dritten Partei seit dem Bürgerkriege. Der Sozialismus hatte gezeigt, daß er sehr lebendig und zu einer revolutionären Macht angewachsen war, daß die alte Bedrohlichkeit wieder aufgelebt war. Er war nicht länger mehr respektabel, und ich muß eingestehen, ich war es auch nicht mehr. Die kapitalistische Presse des Landes gab mir Grund genug zu dieser Vermutung. Der „Chicago Chronicle“ schrieb: „Die sozialdemokratische Partei des europäischen Kontinents mit ihrer Predigt des Mißvergnügens und Klassenhasses, mit ihrer Bekämpfung von Gesetz, Eigentum und persönlichen Rechten, mit ihren Phrasen von Konfiskation und Raub, ist unter uns.“ Die „Chicagoer Neue Welt“: „Auf der republikanischen Partei lastet seit dem Wahltag eine furchtbare Verantwortung ... große weit umfassende Reformen sind nötig, und sie hat die Macht, sie durchzuführen. Gott stehe unserer Zivilisation bei, wenn sie es tut ... sie muß die Truste unterdrücken oder sie ist vor der Welt verantwortlich, wenn sich unser Regierungssystem in eine sozialistische Republik umwandelt. Das willkürliche Niederhalten der Löhne muß aufhören oder der Sozialismus wird einen weiteren Aufstieg nehmen und die Macht an sich reißen.“ Der „Francisco Argonaut“: „Vor der Wahl sagten wir, daß wir in keiner Weise den Sozialisten Hilfe gewähren und uns mit ihnen beschäftigen dürfen.....Wir müssen jetzt den Sozialismus in allen seinen Erscheinungsformen, bei jeder Regung bekämpfen.“

Und ferne sei es von mir, zu leugnen, daß der Sozialismus wirklich eine Bedrohung ist. Denn er beabsichtigt alle kapitalistischen Institutionen unserer heutigen Gesellschaft mit Stumpf und Stiel auszurotten. Er ist ausgesprochen revolutionär und in seinem innersten Wesen und in seiner Ausweitung unendlich gewaltiger als irgendeine Revolution, die die Weltgeschichte je gesehen hat. Er bietet der erstaunten Welt ein neues Schauspiel, das einer organisierten internationalen revolutionären Bewegung. In den Köpfen der Bourgeoisie ist der Klassenkampf etwas Erschreckendes und Verabscheuungswürdiges, und gerade das ist der Sozialismus: ein Klassenkampf über die ganze Welt zwischen eigentumlosen Arbeitern und besitzenden Herren über die Arbeiter. Es ist eine Grundlage des Sozialismus, daß der Kampf ein Klassenkampf ist. Die Arbeiterklasse muß im Verlauf der sozialen Entwicklung notgedrungen sich von der Herrschaft der Kapitalistenklasse befreien und diese Klasse niederwerfen. Dies ist die Drohung des Sozialismus, und indem ich mich als einen Anhänger desselben erkläre, muß ich es als notwendige Folge hinnehmen, wenn ich die gesellschaftliche Achtung verliere.

Bis jetzt ist der Sozialismus für ein Bourgeoisgemüt nur eine unbestimmte gestaltlose Drohung. Das Durchschnittsmitglied der Kapitalistenklasse verrät mit jedem Wort, das es über den Sozialismus spricht, daß es ihn gar nicht kennt. Es kennt seine Literatur nicht, noch seine Philosophie, noch seine Politik. Es schüttelt weise sein Haupt und klappert mit den ausgedorrten Knochen toter und begrabener Ideen. Seine Lippen plappern müde Phrasen wie: „Menschen sind nicht gleich geboren und werden es niemals sein“, oder „alles Utopie und nicht durchführbar“, oder „die Menschheit müßte erst wiedergeboren werden“, oder „Produktionsgenossenschaften sind bis jetzt immer gescheitert“, oder „was nützt es, wenn geteilt wird, in zehn Jahren werden wieder Reiche und Arme sein wie zuvor.“

Es ist sicherlich Zeit, daß die Kapitalisten den Sozialismus kennenlernen und spüren sollten, daß er sie bedroht. Und es ist die Hoffnung des Verfassers, daß die sozialistischen Studien dieses Buches in einem gewissen Grade dazu beitragen werden, daß es in einigen kapitalistischen Gehirnen etwas heller wird., Der Kapitalist muß zuerst und vor allem lernen und sich für immer merken, daß der Sozialismus nicht auf der Gleichheit der Menschen gegründet ist, sondern auf der Ungleichheit. Dann muß er lernen, daß keine Wiedergeburt zu reiner Geistigkeit nötig ist, bevor der Sozialismus möglich wird. Er muß lernen, daß Sozialismus sich mit dem beschäftigt, was ist, und nicht, was sein sollte, und daß er es nur zu tun hat mit dem warmfühlenden, irrenden und gebrechlichen Erdenkloß, mit all seinem Schmutz und seiner Kleinlichkeit und Lächerlichkeit, voller Widersprüche und Seltsamkeiten, und der trotz alledem bisweilen durchweht ist von etwas Höherem und Göttlichem, bisweilen getrieben von Hilfsbereitschaft und Uneigennützigkeit, Güte, Entsagung und Opferwilligkeit, mit einem unerschütterlichen und ehrfurchtgebietenden Gewissen, das, wenn die Stunde kommt, mit loderndem Ernst gebieterisch sein Recht verlangt — — nicht mehr und nicht weniger als sein Recht.

Oakland, Kalifornien, 12. Januar 1905

Jack London



Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018