Jack London

Was das Leben ihm gab

Newton, Iowa, November, 1905.


Abschließendes Kapitel von Jack London, Revolution, New York, Macmillan, 1906.
Übersetzung: Joseph Grabisch, Abgedruckt in Franz Jung (Hrsgb.) Jack London, Ein Dichter der Arbeiterklasse, Wien, Verlag für Literatur und Politik, 1924, S. 27-37.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.


Ich stamme aus der Arbeiterschicht. Frühzeitig entwickelten sich in mir Begeisterung, Ehrgeiz und Ideale, und wie ich sie erfüllen könnte, damit beschäftigten sich die Gedanken meiner Kindheit. Meine Umgebung war ungebildet, roh, hart. Ich konnte nicht weit um mich sehen, nur über mich hinauf. Mein Platz in der Gesellschaft war tief unten, wo nichts als Schmutz und Elend war, wo Körper und Geist ausgehungert und zerquält wurden.

Und über mir türmte sich das ungeheure Gebäude der Gesellschaft auf, und zu diesem Gebäude wollte ich emporklimmen. Über mir sah ich Männer in schwarzen Anzügen und gewaschenen Hemden und Frauen in schönen Gesellschaftskleidern. Da gab es auch viel Gutes zu essen und in reichlicher Menge. Und dort gab es auch Nahrung für die Seele. Ich wußte, da über mir wohnten Selbstlosigkeit, reine und edle Gedanken und frisches Geistesleben. Ich wußte das alles aus den Geschichten, die ich aus der Leihbibliothek gelesen, und in denen, mit Ausnahme der Schufte und der Hochstaplerinnen, alle Männer und Frauen groß und edel dachten, eine schöne Sprache sprachen und herrliche Taten vollführten. Es war für mich so sicher wie der Aufgang der Sonne, daß über mir alles schön und edel war und auch alles was dem Leben Annehmlichkeit und Bedeutung gibt und was einen für die Mühe und Arbeit belohnt.

Aber es ist nicht leicht, aus der Arbeiterschicht emporzusteigen, besonders wenn man belastet ist mit Idealen und Illusionen. Ich lebte auf einer Viehfarm in Kalifornien, und es war schwer für mich, die Leiter zu finden, auf der ich in die Höhe klettern könnte. Auch wurde ich frühzeitig bekannt mit der Zinsenlast, die man für geliehenes Geld bezahlen mußte, und ich quälte mein kindliches Gehirn ab, wer wohl die merkwürdige.. Erfindung des Zinseszinses gemacht hätte. Dann lernte ich das beständige Schwanken der Löhne für Arbeiter aller Altersklassen kennen und die Kosten der Lebenshaltung und aus diesen Voraussetzungen rechnete ich zusammen, wenn ich sofort anfangen würde zu arbeiten und zu sparen, daß ich dann mit fünfzig Jahren aufhören könnte zu arbeiten, daß mir dann der Eintritt in die höhere Gesellschaft mit ihrer Güte und ihren Genüssen offen stehen würde. Natürlich nahm ich mir ganz fest vor, nicht zu heiraten, ich vergaß ganz und gar an die große Klippe zu denken, an der die Arbeiter in der ganzen Welt gewöhnlich scheitern, nämlich an die Krankheit.

Aber etwas war in mir, das vom Leben mehr verlangte, als nur eine magere Existenz zusammenzuscharren und bloß zu raffen. Auch fand ich, als ich zehn Jahre alt war und in den Straßen einer großen Stadt Zeitungen verkaufte, daß sich mein Lebensziel etwas geändert hatte. Um mich war noch immer derselbe Schmutz und dasselbe Elend und über mir winkte noch immer dasselbe Paradies, aber die Leiter, auf der ich in die Höhe klettern könnte, war eine andere geworden. Jetzt war es die Leiter des Geschäftslebens. Warum sollte ich meine Ersparnisse in Staatspapieren anlegen, wenn ich mein Kapital dadurch verdoppeln konnte, daß ich zwei Zeitungen für fünf Cents kaufte und sie im Handumdrehen für zehn Cents wieder verkaufen konnte? Das Geschäft sollte meine Leiter werden, und ich sah mich in Gedanken als wohlgenährter und erfolgreicher Glückspilz.

Ja, die Luftschlösser! Als ich sechszehn war, hatte ich wenigstens den Beinamen „Glückspilz“. Aber diesen Titel hatten mir eine Bande von Gurgelabs schneidern und Spitzbuben gegeben, mit denen ich auf den Austerbänken räuberte und wobei ich meine Zunftgenossen ausbeutete. Als Kapitän und Besitzer des Bootes nahm ich zwei Drittel der Beute, die anderen bekamen, obwohl sie ebenso wie ich gearbeitet hatten und ebenso Leben und Freiheit aufs Spiel gesetzt, hatten wie ich, nur ein Drittel.

Auf dieser Leiter kam ich nur eine Sprosse hoch. Eines Nachts unternahm ich einen Raubzug auf chinesische Fischer. Es war Raub, muß ich zugestehen, aber es war nichts anderes als der kapitalistische Geist. Der Kapitalist beutet seine Mitmenschen aus durch Vorzugsbehandlung, durch Vertrauensbruch oder durch den Kauf von Richtern und Regierungsstellen. Ich machte es nur etwas roher, das war der ganze Unterschied. Aber meine Mannschaft war in jener Nacht reichlich ungeschickt und eben das ist es, worüber der Kapitalist am meisten wütet, weil solche Ungeschicklichkeit die Ausgaben vermehrt und die Gewinne verkürzt. Meine Leute taten beides. Durch Nachlässigkeit geriet das große Hauptsegel in Brand und wurde vollständig Verrächtet. Und dann gab es auch in jener Nacht keinen Gewinn und die chinesischen Fischer blieben im Besitz ihrer Netze und Seile. Ich war bankrott, weil ich nicht fünfundsechzig Dollar für ein neues Hauptsegel bezahlen konnte. Ich ließ mein Boot vor Anker und ging auf einem Hafenboot den Sacramentofluß hinauf, und währenddessen stahl mir eine andere Bande mein Boot. Sie nahmen mir alles, selbst den Anker, später fand ich auch das Wrack wieder und verkaufte es für 20 Dollar. Ich war also die eine Sprosse, die ich emporgestiegen war, wieder herabgerutscht, und nie wieder machte ich einen neuen Versuch auf dieser Leiter des Geschäftslebens.

Von jetzt an wurde ich von anderen Kapitalisten mit» leidslos ausgebeutet. Ich besaß Muskeln, und sie machten Geld daraus, während sie mir nur einen sehr dürftigen Lebensunterhalt ließen. Ich wurde Matrose, Hafenarbeiter, Kohlenschlepper, ich arbeitete in Konservenfabriken und Wäschereien, ich arbeitete im Garten, klopfte Teppiche und wusch Fenster. Und niemals bekam ich das volle Entgelt für meine Arbeit. Ich sah die Tochter des Fabrikbesitzers im Wagen fahren und wußte, daß es zum Teil meine Muskeln waren, die ihren Wagen schleppten. Ich sah den Sohn der Fabrikbesitzers nach der Hochschule gehen und wußte, daß es meine Muskeln waren, die ihren Teil beitrugen, um den Wein und die gute Gesellschaft zu bezahlen, mit der es sich vergnügte. Aber ich ließ alles so hingehen, das gehörte dazu. Sie waren die Starken. Ja aber ich war auch stark, und ich würde mir schon meinen Weg nach dem Platze bahnen, wo sie waren und selber Geld zu machen suchen aus den Muskeln anderer. Ich wollte mich mehr anstrengen und härter arbeiten als zuvor, um eine der Säulen der Gesellschaft zu werden.

Und gerade zu der Zeit wollte es das Schicksal, daß ich einen Arbeitgeber fand, der dasselbe im Sinne hatte. Ich war willens zu arbeiten, und er war mehr als willens, daß ich arbeitete. Ich glaubte einen neuen Geschäfts» zweig zu lernen und ersetzte in Wirklichkeit zwei Ar» heiter. Ich glaubte, er wollte einen Elektromonteur aus mir machen, in Wirklichkeit aber verdiente er monatlich fünfzig Dollar an mir. Denn die beiden Arbeiter, an deren Stelle ich getreten war, hatten jeder vierzig Dollar monatlich bekommen, ich tat die Arbeit beider für dreißig Dollar im Monat.

Mein Auftraggeber nutzte mich aus bis fast ans Ende meiner Kräfte. Man kann Austern gern essen, aber wenn sie einem jeden Tag zu jeder Mahlzeit vorgesetzt werden, so bekommt man sie schließlich über. Und so war es mit mir. Ich wurde unlustig zur Arbeit, ich konnte sie nicht mehr sehen und lief schließlich davon. Ich ging auf die Landstraße und bettelte mich von Tür zu Tür durch die ganzen Vereinigten Staaten hindurch und ging durch die harte Schule der Spelunken und Gefängnisse. Statt vorwärts zu kommen, war ich noch tiefer gesunken als ich angefangen hatte, ich befand mich in dem Kellergeschoß der Gesellschaft, in Tiefen, wo Elend herrscht und über die man nur ungern spricht. Es war der Abgrund, der Müllhaufen, die Jauchegrube, die Abdeckerei, der Abschaum der Zivilisation. Es war jener Teil des Gebäudes der Gesellschaft, in den die Gesellschaft nie hineingeht. Die Dinge, die ich dort sah, versetzten mich in furchtbare Angst. Und diese Angst brachte mich zum Nachdenken. Ich sah nackt und klar die einfachen Tatsachen der vielfachen verschlungenen Zivilisation, in der wir leben. Leben ist eine Magen- und Wohnungsfrage. Und um Essen und Wohnung zu bezahlen, müssen die Menschen irgend etwas verkaufen. Der Kaufmann verkauft Schuhe, der Politiker seinen Charakter, die Volksvertreter — es gibt natürlich einige Ausnahmen — Treue und Glauben, nahezu alle verkaufen ihre Ehre. Auch die Frauen, sei es auf der Straße oder im geheiligten Ehebett, verkaufen ihren Körper. Alle Dinge werden Ware, alles kauft und verkauft. Der Arbeiter hat nur eine einzige Ware zu verkaufen — seine Muskeln. Die Arbeitsehre hat auf dem Markt keinen Preis.

Aber da ist ein Unterschied, ein fundamentaler Unterschied. Schuhe, Ehre und Vertrauen lassen sich wieder ersetzen, davon gibt es ungeheure Vorräte. Aber die Muskeln lassen sich nicht wieder ersetzen. Wenn der Kaufmann seinen Schuhladen ausverkauft hat, dann füllt er ihn neu wieder auf. Aber es gibt keinen Fabrikanten, der dem Arbeiter wieder neue Muskeln liefern kann. Je mehr Muskeln er verkauft, desto weniger bleiben ihm übrig. Er hat keine anderen Waren und mit jedem Tage wird sein Vorrat kleiner. Schließlich, wenn er nicht vorher gestorben ist, hat er alles verkauft und muß den Laden zumachen, er ist bankrott, nichts bleibt ihm übrig, er muß in die Kellerwohnung der Gesellschaft ziehen und elend zugrunde gehen.

Ich machte weiter die Erfahrung, daß auch das Gehirn eine Ware ist. Aber es ist doch etwas verschieden von den Muskeln. Einer, der sein Gehirn verkauft, macht erst seine besten Geschäfte, wenn er fünfzig bis sechzig Jahre alt ist, dann bekommt er bessere Preise als vorher. Ein Handarbeiter ist mit fünfzig verbraucht und nicht viel mehr nutze.

Ich war in der Kellerwohnung der Gesellschaft, aber mir gefiel die Wohnung nicht. Sie war recht ungesund, und die Luft darin sehr schlecht. Wenn ich schon nicht im Wohnzimmer der Gesellschaft leben durfte, so wollte ich doch wenigstens versuchen, in einer Dachstube unterzukommen. Die Kost ist dort zwar nur schmal, aber die Luft ist wenigstens rein, und ich entschloß mich, von jetzt ab keine Muskeln mehr zu verkaufen, sondern mein Gehirn.

Eine wilde Jagd nach Wissen begann. Ich kehrte nach Kalifornien zurück und setzte mich hinter Bücher. Ich vertiefte mich hinter soziologische Fragen, und ich fand in den Büchern die Gedanken bereits Wissenschaftlich formuliert, die ich schon für mich selber ausgearbeitet hatte. Andere und größere Geister als ich, hatten, schon bevor ich geboren war, all das was ich ausgedacht, bereits ausgearbeitet und ein gut Teil mehr. Ich machte nur die Entdeckung, daß ich ein Sozialist war.

Die Sozialisten sind Revolutionäre, da sie die heutige Gesellschaft umstürzen und aus dem übrigbleibenden Rohstoff eine neue zukünftige Gesellschaft aufbauen wollen. Ich war jetzt auch ein revolutionärer Sozialist. Ich schloß mich den revolutionären Hand- und Kopfarbeitern an, und zum ersten Mal kam in mein Leben etwas Geistiges. Ich kam zusammen mit kühn­denkenden Köpfen und hinreißenden Rednern, mit starken und geweckten Mitgliedern der Arbeiterklasse, auch wenn sie eine schwielige Hand hatten. Ich traf Prediger ohne Talar, deren Christentum für jede Gemeinde von Mammon-Anbetern allzu ernst war, Universitätsprofessoren, die entlassen worden waren, weil sie nicht länger bloß der herrschenden Klasse dienen wollten, sondern ihr Wissen in den Dienst der gesamten Menschheit stellten. Hier fand ich warmen Glauben an die Menschheit, glühenden Idealismus, Selbstlosigkeit, Selbstverleugnung und Bekennertum, all die herrlichen und bewegenden Taten des Geistes. Hier erneuerte sich das Leben wieder und wurde voller Wunder und Größe, und es war eine Lust für mich zu leben. Ich war in ständiger Fühlung mit großen Geistern, die Körper und Geist emporhoben über Dollars und Cents, und denen das schwache Wimmern eines verhungernden Kindes mehr bedeutete als all die Großartigkeit des geschäftlichen Lebens und der Weltreiche. Alles um mich war edelstes Streben und heroische Anstrengung, am Tage schien mir die Sonne und nachts leuchteten mir die Sterne, und vor meinen Augen sah ich den immer lodernden und glühenden heiligen Gral, das langmütige, mißhandelte Warmmenschliche, das nun endlich gerettet und erlöst wird.

Und ich, ich armer Tor, betrachtete all das als bloßen Vorgeschmack der Lebensfreuden, die ich über mir in der Gesellschaft finden würde. Zwar hatte ich schon viele Illusionen aufgegeben, seit ich die Leihbibliotheksgeschichten auf der kalifornischen Viehfarm gelesen hatte, und ich sollte noch viele Illusionen verlieren, die noch übriggeblieben waren.

Als einer, der mit seinem Gehirn arbeitet, hatte ich Erfolg. Die Gesellschaft öffnete mir ihre Tore. Ich durfte geradeswegs ins Empfangszimmer gehen, ich setzte mich zu Tische mit den Herren der Gesellschaft und speiste mit deren Frauen und Töchter. Aber rasch verflog eine Illusion nach der anderen. Die Frauen waren wohl schön gekleidet, aber zu meinem Erstaunen machte ich die Entdeckung, daß sie doch aus demselben Lehm geformt waren wie alle übrigen Frauen, die ich im Kellergeschoß kennengelernt hatte. Und doch war es nicht so sehr dieses, was mich so betroffen machte, als vielmehr ihr Materialismus. Wohl plapperten diese elegant gekleideten schönen Frauen von ihren niedlichen kleinen Idealen und von ihren kleinen moralischen Anwandlungen, aber durch all ihr Plappern hindurch kam immer der Grundzug ihres Lebens hindurch, ihr Materialismus. Und sie waren so merkwürdig sentimental egoistisch. Sie halfen bei allen möglichen niedlichen kleinen Wohltätigkeitsveranstaltungen mit und waren stolz, wenn sie davon erzählten, während all das Essen, das sie sich und ihren Gästen vorsetzten und all die schönen Kleider, die sie trugen, bezahlt waren von Geschäftsgewinnen, so daß das Blut von Kinderarbeit daran klebte, von übermäßiger Arbeit, selbst von Prostitution. Wenn ich solche Tatsachen berührte, und in meiner Unschuld erwartete, daß sie sofort das blutbefleckte Seidenkleid und die Juwelen ablegen würden, so wurden sie aufgeregt und böse, und ich bekam ihre Predigten zu hören über Mangel an Sparsamkeit, über Trunksucht, über angeborene Verderbtheit, die all das Elend im Kellergeschoß der Gesellschaft verursacht hätten. Und wenn ich dazu bemerkte, daß ich nicht recht einzusehen vermöchte, wie Mangel an Sparsamkeit, wie Unmäßigkeit und Verderbtheit ein halbverhungertes Kind von sechs Jahren zwingen könnten, jede Nacht zwölf Stunden in einer Baumwollspinnerei zu arbeiten, dann griffen sie mein Privatleben an, nannten mich einen Agitator, als wenn damit die Sache bewiesen wäre.

Nicht besser fuhr ich mit den Herren der Gesellschaft. Ich hatte nach ihren reinen, edlen, lebendigen Idealen erwartet, reine, edle und lebendige Menschen zu finden. Ich kam mit Männern zusammen, die an hervorragenden Stellen standen, mit Predigern, Politikern, Geschäftsleuten, Professoren und Zeitungsherausgebern. Ich aß mit ihnen, trank Wein mit ihnen, fuhr aus mit ihnen und studierte sie. Ich fand manche reine und edle Gesinnung, aber das waren seltene Ausnahmen, ich glaube, ich konnte sie an den Fingern abzählen. Aber sie waren wie wohlkonservierte Mumien, sie waren nicht lebendig. Ich fand Männer darunter, die in ihren Gesprächen gegen den Krieg den Namen des Friedensfürsten anriefen, und die bewaffneten Polizisten Gewehre in die Hand gaben, mit denen sie die streikenden Arbeiter ihrer Fabrik niederschießen sollten. Ich fand Männer, die entrüstet waren über die Brutalität der Boxkämpfe, und die zu gleicher Zeit beteiligt waren an Lebensmittelfälschungen, durch die jedes Jahr mehr Kinder getötet werden, als die blutbefleckte Hand des Herodes hat umbringen lassen. Ich sprach in Hotels, Klubs, in der Eisenbahn und auf Dampfern mit Industriehäuptern und war erstaunt, wie wenig sie im Reiche des Geistes heruntergekommen waren, und wie ihre Moralbegriffe aufhören, wenn das Geschäft anfängt.

Ich traf einen aristokratisch aussehenden Herrn mit feinen Zügen, er nannte sich Direktor, war aber nur ein Strohmann, ein Werkzeug eines Trustes, der Frauen und Waisen beraubte. Einen Herrn traf ich, der schöne Bilder sammelte und ein besonderer Literaturfreund war und Erpressergelder bezahlte an politische Parteigrößen mit Hängekinnen und Augenwülsten. Ich traf einen Zeitungsherausgeber, der Inserate von Schwindelmedikamenten aufnahm, und der nicht wagte, in seinen Zeitungen die Wahrheit über diese Medizinen zu drucken, aus Furcht, er könnte das Inserat verlieren, und als ich ihm sagte, daß seine wirtschaftlichen Anschauungen veraltet wären, da nannte er mich einen verruchten Demagogen. Ich traf einen Senator, der nur das Werkzeug und der Sklave einer mächtigen und ungebildeten Parteigröße war, ein großes Kirchenlicht, der für ausländische Missionen hohe Beiträge zahlte, aber seine Ladenmädchen um einen Hungerlohn zehn Stunden am Tage arbeiten ließ und sie dadurch der Prostitution gerade in die Arme trieb. Ein anderer, der Universitäten mit neuen Lehrstühlen ausstattete, leistete vor Gericht einen Meineid wegen ein paar Dollar. Ein Eisenbahnkönig brach sein Wort und wurde ein Lügner, indem er einem von zwei rivalisierenden Industriehäuptern, die sich auf Tod und Leben bekämpften, geheime Vergünstigungen gewährte. Es war überall dasselbe, überall Verbrechen und Betrug, Betrug und Verbrechen. Und daneben stand die große hoffnungslose Menge, die nur reinlich war und sonst nichts Großzügiges und Lebendiges hatte, die zwar vorsätzlich kein Unrecht tat, aber durch ihre Teilnahmslosigkeit und ihre Unwissenheit sündigte, indem sie zu der landläufigen Unmoralität schwieg und davon Nutzen zog.

Ich wollte nicht länger mehr in den guten Räumen der Gesellschaft leben, es langweilte mich, es machte mich krank. Ich dachte an meine geistigen und idealen Freunde, an meine abgesetzten Prediger, entlassenen Professoren, an die reinlichdenkenden klassenbewußten Arbeiter. Ich dachte an den Sonnenschein, das Leuchten der Sterne, wo das Leben ein einziges wildes schönes Wunder ist, ein geistiges Paradies, ein selbstloses Erlebnis und eine ethische Romanze. Und ich sah vor mir beständig glühend und lodernd den heiligen Gral.

So kam ich zurück zu den Arbeitern, unter denen ich geboren war und zu denen ich gehörte. Ich wollte nicht höher klettern. Das mächtige Gebäude der Gesellschaft über meinem Kopfe hatte keine Reize mehr für mich. Nur die Grundmauern dieses Gebäudes haben noch Interesse für mich. Dort bin ich zufrieden bei meiner Arbeit, bin Schulter an Schulter mit geistigen idealen Menschen, mit klassenbewußten Arbeitern, die manchmal einen festen Hebebaum in die Hand bekommen, mit dem sie das ganze Gebäude ins Schwanken bringen. Eines Tages, sobald wir nur ein paar Hände, ein paar Brechstangen mehr bekommen haben werden, werden wir es gänzlich umwerfen, mit all seinem faulen Leben, seinen unbegrabenen Toten, seiner ungeheuerlichen Eigensucht und seinem abgelebten Materialismus. Dann werden wir das Kellergeschoß wieder wohn; lieh machen und ein neues Wohnhaus für die ganze Menschheit erbauen, in welchem es kein besonderes Empfangszimmer geben wird, in welchem alle Räume in gleichem Maße hell und luftig sind, und wo die Atmosphäre überall rein, edel und lebendig ist. Ich sehe vor mir eine Zeit, wo die Menschen auf etwas Wertvolleres und Höheres hinstreben, als auf die Befriedigung des Magens, wo es höhere Motive geben wird, die Menschen zur Tat anzutreiben, als der heutige einzige Trieb des Magens. Ich behalte meinen Glauben an all das Edle und Hervorragende im Menschen, ich glaube, daß die Freundlichkeit und Selbstlosigkeit der Seele über die heutige grobe Gefräßigkeit siegen wird. Und vor allem glaube ich an die arbeitende Schicht der Bevölkerung. Der Treppenaufgang der Zeit hallt beständig wieder von hinaufgehenden Arbeiterschuhen und herabkommenden Lackschuhen.



Zuletzt aktualisiert am 27. Juli 2018