Georg Lukács

 

Methodisches zur Organisationsfrage

 

2.

Daß hier kein Zufall, kein bloßer „Fehler“ dieser so bedeutenden und bahnbrechenden Denkerin vorliegt, ist an anderer Stelle auseinandergesetzt worden. [1] Das für diesen Zusammenhang Wesentliche solcher Gedankengänge läßt sich am besten als die Illusion einer „organischen“ rein proletarischen Revolution zusammenfassen. Im Kampfe gegen die opportunistische, „organische“ Entwicklungslehre, daß das Proletariat allmählich, durch langsames Wachsen die Majorität der Bevölkerung erobern und so mit rein legalen Mitteln die Macht erringen wird [2], ist eine revolutionär „organische“ Theorie der spontanen Massenkämpfe entstanden. Diese lief – allen klugen Vorbehalten zum Trotz – letzten Endes doch darauf hinaus, daß die ständige Verschärfung der wirtschaftlichen Lage, der notwendig eintretende imperialistische Weltkrieg, die ihnen zufolge herannahende Periode der revolutionären Massenkämpfe mit gesellschaftlich-geschichtlicher Notwendigkeit spontane Massenaktionen des Proletariats hervorbringt, in denen sich dann jene Klarheit über Ziele und Wege der Revolution in der Führung bewähren wird. Diese Theorie hat aber damit den rein proletarischen Charakter der Revolution zur stillschweigenden Voraussetzung gemacht. Freilich ist etwa Rosa Luxemburgs Auffassung vom Umfang des Begriffes „Proletariat“ eine ganz andere, als die der Opportunisten. Zeigt sie doch mit großer Eindringlichkeit, wie die revolutionäre Lage große Massen des bis dahin unorganisierten, für Organisationsarbeit unerreichbaren Proletariats (Landarbeiter usw.) mobilisiert; wie jene Massen in ihren Handlungen einen unvergleichlich höheren Grad von Klassenbewußtsein zeigen, als die Partei und die Gewerkschaften selbst, die sie als unreif, „unentwickelt“ von oben herab zu behandeln sich anmaßen. Trotzdem liegt aber auch dieser Konzeption der rein proletarische Charakter der Revolution zugrunde. Einerseits erscheint das Proletariat einheitlich auf dem Schlachtplan, andererseits sind jene Massen, deren Aktionen behandelt werden, rein proletarische Massen. Und so muß es auch sein. Denn nur im Klassenbewußtsein des Proletariats kann die richtige Einstellung auf das revolutionäre Handeln so tief verankert, so tief instinktiv verwurzelt sein, daß nur ein Bewußtmachen, eine klare Führung vonnöten ist, um das Handeln selbst auf dem richtigen Wege weiterzuführen. Nehmen aber auch andere Schichten an der Revolution in entscheidender Weise teil, so kann zwar ihre Bewegung – unter Umständen – die Revolution fördern, sie kann aber ebenso leicht eine konterrevolutionäre Richtung annehmen, da in der Klassenlage dieser Schichten (Kleinbürger, Bauern, unterdrückte Nationen usw.) keineswegs eine notwendige Richtung ihres Handelns auf die proletarische Revolution hin vorgezeichnet ist, noch sein kann. In bezug auf solche Schichten, auf das Vorwärtstreiben ihrer Bewegungen zugunsten der proletarischen Revolution, auf das Verhindern, daß ihr Handeln die Konterrevolution fördert, muß eine so gedachte revolutionäre Partei notwendig versagen.

Sie muß es aber auch in bezug auf das Proletariat selbst. Denn die Partei in dieser organisatorischen Zusammenstellung entspricht einer Vorstellung von dem Zustand des proletarischen Klassenbewußtseins, in dem es sich nur darum handelt, das Unbewußte bewußt, das Latente aktuell zu machen usw. Besser gesagt: in dem dieser Prozeß des Bewußtwerdens nicht eine fürchterliche innere ideologische Krise des Proletariats selbst bedeutet. Es handelt sich hier nicht um die Widerlegung jener opportunistischen Angst vor der „Unreife“ des Proletariats zur Übernahme und zum Bewahren der Macht. Diesen Einwand hat Rosa Luxemburg bereits Bernstein gegenüber schlagend widerlegt. Sondern es handelt sich darum, daß das Klassenbewußtsein des Proletariats sich nicht parallel mit der objektiven ökonomischen Krise, gradlinig und im ganzen Proletariat in gleicher Weise entwickelt. Das große Teile des Proletariats geistig unter dem Einflusse der Bourgeoisie bleiben, daß die schärfste Entwicklung der ökonomischen Krise sie nicht aus dieser Haltung herausreißt, daß also das Verhalten des Proletariats, seine Reaktion auf die Krise an Heftigkeit und Intensität weit hinter der Krise selbst zurückbleibt. [3]

Diese Sachlage, auf der die Möglichkeit des Menschewismus beruht, hat zweifellos ebenfalls objektiv ökonomische Grundlagen. Marx und Engels [4] haben schon sehr früh diese Entwicklung, die Verbürgerlichung jener Arbeiterschichten beobachtet, die aus den Monopolprofiten des damaligen Englands eine – ihren Klassengenossen gegenüber – bevorzugte Stellung erhalten haben. Diese Schicht hat sich mit dem Eintritt in die imperialistische Phase des Kapitalismus überall entwickelt und sie ist zweifellos eine wichtige Stütze der allgemein opportunistischen, revolutionsfeindlichen Entwicklung großer Teile der Arbeiterklasse geworden. Es ist aber meines Erachtens unmöglich, von hier aus die ganze Frage des Menschewismus zu erklären. Denn erstens ist diese bevorzugte Stellung heute bereits vielfach erschüttert, ohne daß daraus die Position des Menschewismus eine entsprechende Erschütterung erfahren hätte. Auch hier bleibt vielfach die subjektive Entwicklung des Proletariats hinter dem Tempo der objektiven Krise zurück, so daß man in diesem Motiv unmöglich die alleinige Ursache des Menschewismus suchen darf, wenn man ihm nicht die bequeme theoretische Position einräumen will: aus dem Fehlen eines durchgehenden und klaren Willens zur Revolution im Proletariate auf das Fehlen einer objektiv revolutionären Lage schließen zu dürfen. Zweitens haben aber die Erfahrungen der Revolutionskämpfe keineswegs eindeutig gezeigt, daß die revolutionäre Entschlossenheit und der Kampfwille des Proletariats sich einfach nach der ökonomischen Schichtung seiner Teile gliedern würde. Es zeigen sich hier große Abweichungen von einer einfachen, gradlinigen Parallelität und große Abweichungen der Reife des Klassenbewußtseins innerhalb ökonomisch gleichgestellten Arbeiterschichten.

Aber erst auf dem Boden einer nicht fatalistischen, nicht „ökonomistischen“ Theorie werden diese Feststellungen wirklich bedeutsam. Wird die gesellschaftliche Entwicklung so aufgefaßt, daß der ökonomische Prozeß des Kapitalismus zwangsläufig und automatisch über Krisen in den Sozialismus führt, so sind die hier angedeuteten ideologischen Momente nur Konsequenzen einer falschen Fragestellung. Dann sind sie in der Tat nur Symptome dafür, daß die objektiv entscheidende Krise des Kapitalismus noch nicht da ist. Denn ein Zurückbleiben der proletarischen Ideologie hinter der ökonomischen Krise, eine ideologische Krise des Proletariats ist – für solche Anschauungen – etwas prinzipiell Unmögliches. Aber die Lage verändert sich auch dann nicht wesentlich, wenn die Auffassung über die Krise – bei Beibehaltung des ökonomistischen Fatalismus der Grundeinstellung – eine revolutionär optimistische wird. D.h. wenn die Unvermeidlichkeit der Krise, die Unvermeidlichkeit ihrer Auswegslosigkeit für den Kapitalismus festgestellt wird. In diesem Falle kann das hier behandelte Problem auch nicht als Problem anerkannt werden; nur aus dem „Unmöglich“ wird ein „Noch nicht“. Nun hat aber Lenin mit großem Recht darauf hingewiesen, daß es keine Lage gibt, die an und für sich auswegslos wäre. In welcher Lage immer der Kapitalismus sich befinden mag, es werden sich stets „rein ökonomische“ Lösungsmöglichkeiten zeigen; es fragt sich nur, ob diese Lösungen, wenn sie aus der theoretisch reinen Welt der Ökonomie in die Wirklichkeit der Klassenkämpfe heraustreten, dort auch durchführbar, durchsetzbar werden. Für den Kapitalismus wären also – an und für sich – Auswege denkbar. Ob sie auch durchführbar sind, hängt aber vom Proletariate ab. Das Proletariat, die Tat des Proletariats versperrt dem Kapitalismus den Ausweg aus dieser Krise. Freilich: daß dem Proletariate jetzt diese Macht in die Hände gegeben ist, ist die Folge der „naturgesetzlichen“ Entwicklung der Wirtschaft. Diese „Naturgesetze“ bestimmen aber nur einerseits die Krise selbst, geben ihr einen Umfang und eine Ausdehnung, die eine „ruhige“ Weiterentwicklung des Kapitalismus unmöglich machen. Ihr ungehindertes Auswirken (im Sinne des Kapitalismus) würde jedoch nicht zu seinem einfachen Untergang, zum Übergang in den Sozialismus führen, sondern über eine lange Periode von Krisen, Bürgerkriegen und imperialistischen Weltkriegen auf immer höherer Stufe, „zu dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen“, in einen neuem Zustand der Barbarei.

Andererseits haben diese Kräfte und ihre „naturgesetzliche“ Entfaltung ein Proletariat geschaffen, dessen physische wie ökonomische Gewalt für den Kapitalismus sehr geringe Chancen gibt, nach dem Schema der früheren Krisen eine rein ökonomische Lösung, eine Lösung, in der das Proletariat nur als Objekt der ökonomischen Entwicklung figuriert, zu erzwingen. Diese Macht des Proletariats ist die Folge objektiv-ökonomischer „Gesetzmäßigkeiten“. Die Frage jedoch, wie diese mögliche Macht zur Wirklichkeit wird, wie das Proletariat, das heute tatsächlich ein bloßes Objekt des Wirtschaftsprozesses ist und nur potentiell, nur latent auch sein mitbestimmendes Subjekt, in Wirklichkeit als sein Subjekt hervortritt, ist von diesen „Gesetzmäßigkeiten“ mehr automatisch-fatalistisch bestimmt. Oder genauer: ihre automatisch-fatalistische Bestimmung trifft heute nicht mehr den Kernpunkt der wirklichen Macht des Proletariats. So weit nämlich die Reaktionen des Proletariats auf die Krise sich rein den kapitalistischen „Gesetzmäßigkeiten“ der Wirtschaft gemäß auswirken, soweit sie sich als höchstens spontane Massenaktionen zeigen, so zeigen diese im Grunde genommen eine den Bewegungen der vorrevolutionären Periode vielfach ähnliche Struktur. Sie brechen spontan aus (Die Spontaneität einer Bewegung ist nur der subjektiv-massenpsychologische Ausdruck für ihre rein ökonomisch-gesetzmäßige Determiniertheit), fast ausnahmslos als eine Abwehr gegen einen wirtschaftlichen – seltener: politischen – Vorstoß der Bourgeoisie, gegen ihren Versuch, für die Krise eine „rein ökonomische“ Lösung zu finden. Sie hören aber ebenfalls spontan auf, flauen ab, wenn ihre unmittelbaren Ziele als erfüllt oder als aussichtslos erscheinen. Es scheint also, daß sie ihren „naturgesetzlichen“ Ablauf bewahrt haben.

Dieser Schein verblaßt jedoch, wenn diese Bewegungen nicht abstrakt, sondern in ihrer wirklichen Umwelt, in der geschichtlichen Totalität der Weltkrise betrachtet werden. Diese Umwelt ist das Sichauswirken der Krise auf sämtliche Klassen, also nicht nur auf Bourgeoisie und Proletariat. Denn es ist ein qualitativer und prinzipieller Unterschied, ob in einer Lage, wo der ökonomische Prozeß im Proletariate eine spontane Massenbewegung hervorruft, der Stand der ganzen Gesellschaft ein – im großen Ganzen – stabiler ist oder sich in ihm eine tiefgehende Umgruppierung aller gesellschaftlichen Kräfte, eine Erschütterung der Machtgrundlage der herrschenden Gesellschaft vollzieht. Darum gewinnt die Erkenntnis von der bedeutsamen Rolle nicht proletarischer Schichten in der Revolution, von ihrem nicht rein proletarischen Charakter eine so entscheidende Bedeutung. Jede Minoritätsherrschaft kann sich nur dann halten, wenn es ihr möglich ist, die nicht direkt und unmittelbar revolutionären Klassen ideologisch ins Schlepptau zu bekommen, von ihnen eine Unterstützung ihrer Macht oder wenigstens eine Neutralität in ihrem Machtkampfe zu erreichen. (Daß hierzu das Bestreben tritt, Teile der revolutionären Klasse ebenfalls zu neutralisieren usw., versteht sich von selbst.) Dies bezieht sich auf die Bourgeoisie in besonders gesteigertem Maße. Sie hat die tatsächliche Gewalt viel weniger unmittelbar in Händen, als es frühere herrschende Klassen (z.B. die Bürger der griechischen Stadtstaaten, der Adel zur Blütezeit des Feudalismus) gehabt haben. Sie ist viel stärker darauf angewiesen, einerseits mit den konkurrierenden, vor ihr herrschenden Klassen Frieden oder Kompromisse zu schließen, um den von diesen beherrschten Machtapparat für ihre eigenen Zwecke dienstbar machen zu können und andererseits ist sie gezwungen, die tatsächliche Ausübung der Gewalt (Armee, niedere Bureaukratie usw.) in die Hände von Kleinbürgern, Bauern, Angehörigen unterdrückter Nationen usw. zu legen. Verschiebt sich nun infolge der Krise die wirtschaftliche Lage dieser Schichten, wird ihr naiver und undurchdachter Zusammenhalt zu dem von der Bourgeoisie geleiteten Gesellschaftssystem erschüttert, so kann der ganze Herrschaftsapparat der Bourgeoisie sozusagen auf einen Schlag auseinanderfallen: das Proletariat kann als Sieger, als einzig organisierte Macht dastehen, ohne daß eine ernsthafte Schlacht überhaupt geschlagen worden wäre, geschweige denn, daß das Proletariat in ihr wirklich gesiegt hätte.

Die Bewegungen dieser Zwischenschichten sind wirklich spontan und nur spontan. Sie sind wirklich bloße Früchte von sich blind „naturgesetzlich“ auswirkenden gesellschaftlichen Naturmächten; und als solche sind auch sie selbst im gesellschaftlichen Sinne – blind. Da diese Schichten kein auf die Umgestaltung der ganzen Gesellschaft beziehbares und bezogenes Klassenbewußtsein haben [5]; da sie deshalb stets ausschließlich partikulare Klasseninteressen vertreten, die nicht einmal scheinbar objektive Interessen der Gesamtgesellschaft sind; da ihre objektive Verknüpfung mit dem Ganzen nur kausal, d.h. nur von den Verschiebungen des Ganzen verursacht, nicht aber auf Veränderung des Ganzen gerichtet sein kann; da deshalb ihre Richtung auf das Ganze und die ideologische Form, die diese annimmt, einen zufälligen Charakter hat, wenn sie auch in ihrem Entstehen als kausal-notwendig begriffen werden kann: ist das Sichauswirken dieser Bewegungen von ihren äußerlichen Gründen bestimmt. Welche Richtung sie schließlich annehmen, ob sie auf weitere Zersetzung der bürgerlichen Gesellschaft ausgehen, ob sie wieder vom Bürgertum ausgenützt, ob sie nach Ergebnislosigkeit ihrer Anläufe in Passivität versinken usw., ist nicht im inneren Wesen dieser Bewegungen selbst vorgezeichnet, sondern hängt weitgehendst vom Verhalten der bewußtseinsfähigen Klassen, von Bourgeoisie und Proletariat ab. Wie immer aber ihr späteres Schicksal sich gestalten mag, der bloße Ausbruch solcher Bewegungen kann sehr leicht dazu führen, die ganze Maschinerie, die die bürgerliche Gesellschaft zusammenhält und in Bewegung bringt, stillzulegen. Die Bourgeoisie – wenigstens zeitweilig aktionsunfähig zu machen.

Die Geschichte aller Revolutionen von der großen französischen ab zeigt in steigendem Maße diese Struktur. Das absolute Königstum, später die halbabsoluten, halbfeudalen Militärmonarchien, auf die sich die ökonomische Vorherrschaft der Bourgeoisie in Mittel- und Osteuropa gestützt hat, pflegen bei Ausbruch der Revolution „auf einmal“ jeden Halt in der Gesellschaft zu verlieren. Die gesellschaftliche Macht liegt sozusagen herrenlos auf der Straße. Die Möglichkeit der Restauration ist nur dadurch gegeben, daß es keine revolutionäre Schicht gibt, die mit dieser herrenlosen Macht etwas anzufangen vermag. Die Kämpfe des entstehenden Absolutismus mit dem Feudalismus zeigen eine ganz andere Struktur. Da dort die kämpfenden Klassen viel unmittelbarer selbst die Träger ihrer eigenen Gewaltorganisationen waren, ist der Klassenkampf auch viel, unmittelbarer der Kampf von Gewalt gegen Gewalt gewesen. Man denke an die Entstehung des Absolutismus in Frankreich, z.B. an die Frondekämpfe. Selbst der Untergang des englischen Absolutismus verläuft ähnlich, während schon der Zusammenbruch des Protektorats und noch mehr des – viel verbürgerlichteren – Absolutismus von Ludwig XVI. den modernen Revolutionen ähnlicher ist. Die unmittelbare Gewalt wird hier von „außen“ von noch nicht zusammengebrochenen absoluten Staaten oder von feudal gebliebenen Gebieten (Vendée) hineingetragen. Dagegen kommen die rein „demokratischen“ Machtkomplexe im Laufe der Revolution sehr leicht in eine ähnliche Lage: während sie zur Zeit des Zusammenbruches gewissermaßen von selbst entstanden und alle Macht an sich gerissen haben, stehen sie – infolge der rücklaufenden Bewegung der sie tragenden unklaren Schichten – ebenso plötzlich von jeder Macht entblößt da. (Kerensky, Károlyi.) Wie sich diese Entwicklung in den westlichen, bürgerlich und demokratisch fortgeschritteneren Staaten abspielen wird, ist heute noch nicht ganz klar ersichtlich. Immerhin hat sich Italien von Kriegsende bis etwa 1920 in einer sehr ähnlichen Lage befunden und die Machtorganisation, die es sich seitdem erschuf (Fascismus), bildet einen der Bourgeoisie gegenüber relativ unabhängigen Gewaltapparat. Über die Auswirkungen von Auflösungserscheinungen in kapitalistisch hochentwickelten Ländern mit großen Kolonialgebieten haben wir noch keine Erfahrungen; besonders darüber nicht, wie die Kolonialaufstände, die hier teilweise die Rolle der inneren Agraraufstände spielen, sich auf die Haltung des Kleinbürgertums, der Arbeiteraristokratie (und demzufolge auf Armee usw.) auswirken würden.

Es entsteht demzufolge eine gesellschaftliche Umwelt für das Proletariat, die den spontanen Massenbewegungen, selbst in dem Fall, daß diese – für sich betrachtet – ihre alte Wesensart bewahrt hätten, eine ganz andere Funktion in der gesellschaftlichen Totalität zuweisen würde, wie sie sie in der stabilen kapitalistischen Ordnung gehabt haben. Hier treten aber sehr wesentliche quantitative Veränderungen in der Lage der kämpfenden Klassen ein. Erstens ist die Kapitalkonzentration noch weiter fortgeschritten, wodurch das Proletariat – wenn es organisatorisch und bewußtseinsmäßig dieser Entwicklung auch nicht völlig zu folgen vermochte – ebenfalls stark konzentriert wurde. Zweitens macht es der krisenhafte Zustand dem Kapitalismus immer unmöglicher, in der Form von kleinen Konzessionen dem Druck des Proletariats auszuweichen. Seine Rettung aus der Krise, die „ökonomische“ Lösung der Krise kann nur durch eine verschärfte Ausbeutung des Proletariats erfolgen. Darum betonen die taktischen Thesen des III. Kongresses sehr richtig, daß „ein jeder Riesenstreik die Tendenz hat, sich in einen Bürgerkrieg und in einen unmittelbaren Kampf um die Macht umzuwandeln“.

Aber doch nur: die Tendenz. Und daß diese Tendenz, trotzdem die ökonomischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Verwirklichung in mehreren Fällen gegeben waren, sich doch nicht zur Wirklichkeit gesteigert hat: ist eben die ideologische Krise des Proletariats. Diese ideologische Krise zeigt sich einerseits darin, daß die objektiv äußerst prekäre Lage der bürgerlichen Gesellschaft sich im Kopfe der Proletarier doch in der Form ihrer alten Solidität spiegelt; daß das Proletariat vielfach noch immer sehr stark in den Gedanken- und Gefühlsformen des Kapitalismus befangen bleibt. Andererseits erhält diese Verbürgerlichung des Proletariats eine eigene organisatorische Form in den menschewistischen Arbeiterparteien und der von ihnen beherrschten Gewerkschaftsführung. Diese Organisationen arbeiten nun bewußt darauf, die bloße Spontaneität der Bewegungen des Proletariats (ihre Abhängigkeit von ihrem unmittelbaren Anlaß, ihre Zerstückelung nach Beruf, Land usw.) auf der Stufe der bloßen Spontaneität zu bewahren und ihr Umschlagen in der Richtung auf das Ganze, sowohl in der territorialen, beruflichen usw. Zusammenfassung wie in der Vereinheitlichung der wirtschaftlichen Bewegung mit der politischen zu verhindern. Wobei den Gewerkschaften mehr die Funktion der Atomisierung, der Entpolitisierung der Bewegung, des Verdeckens der Beziehung zum Ganzen zukommt; während die menschewistischen Parteien mehr den Beruf erfüllen, die Verdinglichung im Bewußtsein des Proletariats ideologisch und organisatorisch zu fixieren, es auf der Stufe der relativen Verbürgerlichung festzuhalten. Diese ihre Funktion können sie aber nur erfüllen, weil diese ideologische Krise im Proletariat vorhanden; weil ein ideologisches – Hineinwachsen in Diktatur und Sozialismus für das Proletariat auch theoretisch eine Unmöglichkeit ist; weil also die Krise zugleich mit der ökonomischen Erschütterung des Kapitalismus auch eine ideologische Umwälzung des im Kapitalismus, unter dem Einfluß der Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft entwickelten Proletariats bedeutet. Eine ideologische Umwälzung, die zwar infolge der ökonomischen Krise und der durch sie gegebenen objektiven Möglichkeit der Machtergreifung entstanden ist, deren Ablauf jedoch keineswegs eine automatisch – „gesetzmäßige“ Parallelität mit der objektiven Krise selbst aufnimmt, deren Lösung nur die freie Tat des Proletariats selbst sein kann.

„Es ist lächerlich“ sagt Lenin [6] in einer nur formell, nicht im Wesen der Sache karikierend übertriebenen Weise, „sich vorzustellen, daß an einem Orte sich ein Heer in Frontstellung aufrichten und sagen wird: „wir sind für den Sozialismus!“, und an einem anderen Orte ein anderes Heer, das erklären wird: „wir sind für den Imperialismus“, und daß das dann eine soziale Revolution sein wird.“ Die Fronten von Revolution und Konterrevolution entstehen vielmehr in einer sehr abwechslungsvollen und vielfach äußerst chaotischen Form. Da können Kräfte, die heute in der Richtung auf die Revolution wirken, morgen leicht in entgegengesetzter Richtung wirksam sein. Und – was besonders wichtig ist – folgen diese Richtungsänderungen keineswegs einfach und mechanisch aus der Klassenlage oder gar aus der Ideologie der betreffenden Schicht selbst, sondern werden von den stets wechselnden Beziehungen zur Totalität der geschichtlichen Lage und der gesellschaftlichen Kräfte entschieden beeinflußt. So daß es gar keine besondere Paradoxie ist, zu sagen, daß etwa Kemal Pascha (unter bestimmten Umständen) eine revolutionäre, während eine große „Arbeiterpartei“ eine konterrevolutionäre Kräftegruppierung darstellt. Unter diesen richtunggebenden Momenten ist aber die richtige Erkenntnis des Proletariats über seine eigene geschichtliche Lage ein Faktor allerersten Ranges. Der Ablauf der russischen Revolution im Jahre 1917 zeigt dies in geradezu klassischer Weise: wie die Parolen des Friedens, des Selbstbestimmungsrechts, der radikalen Lösung der Agrarfrage aus an sich schwankenden Schichten ein (für den Augenblick) für die Revolution brauchbares Heer geschaffen und jeden Machtapparat der Konterrevolution vollends desorganisiert, aktionsunfähig gemacht haben. Es nützt wenig, wenn dagegen gesagt wird: die Agrarrevolution, die Friedensbewegung der Massen hätte sich auch ohne kommunistische Partei, ja auch gegen sie ausgewirkt. Erstens ist dies absolut unbeweisbar; die Niederlage der im Oktober 1918 ebenfalls spontan ausgebrochenen Agrarbewegung in Ungarn zeugt z.B. dagegen; es wäre bei einer „Einheitlichkeit“ (bei einer konterrevolutionären Einheit) aller „maßgebenden“ „Arbeiterparteien“ eventuell auch in Rußland möglich gewesen, die Agrarbewegung niederzuschlagen oder abflauen zu lassen. Zweitens hätte „dieselbe“ Arbeiterbewegung, wenn sie sich gegen das städtische Proletariat durchgesetzt hätte, in bezug auf die soziale Revolution seinen durchaus konterrevolutionären Charakter erhalten. Schon dies eine Beispiel zeigt, wie wenig die Gruppierung der gesellschaftlichen Kräfte in den akuten Krisenlagen der sozialen Revolution nach mechanisch-fatalistischen Gesetzmäßigkeiten beurteilt werden darf. Es zeigt, wie entscheidend die richtige Einsicht und der richtige Entschluß des Proletariats in die Waagschale fällt; wie sehr die Entscheidung der Krise vom Proletariate selbst abhängt. Dabei muß noch bemerkt werden, daß die Lage Rußlands im Vergleich zu der der westlichen Länder eine relativ einfache war; daß die Massenbewegungen dort noch eher den reinen Charakter der Spontaneität aufgewiesen haben; daß der organisatorische Einfluß der gegenwirkenden Kräfte kein alteingewurzelter gewesen ist usw. So daß wohl ohne Übertreibung gesagt werden kann, daß die hier festgestellten Bestimmungen für die westlichen Länder in gesteigertem Maßstabe zutreffen. Um so mehr als der unterentwickeltere Charakter Rußlands, der Mangel einer langen legalen Tradition der Arbeiterbewegung – um von dem fertigen Dasein einer kommunistischen Partei vorläufig noch ganz zu schweigen – dem russischen Proletariate die Möglichkeit einer schnelleren Überwindung der ideologischen Krise gegeben haben. [7]

So legt die Entwicklung der ökonomischen Kräfte des Kapitalismus die Entscheidung über das Schicksal der Gesellschaft in die Hände des Proletariats. Engels [8] bezeichnet den Übergang, den die Menschheit nach dem hier zu vollziehenden Umsturz vollbringt, als „den Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ Daß aber dieser Sprung – trotzdem oder gerade weil er ein Sprung ist – seinem Wesen nach einen Prozeß vorstellt, versteht sich für den dialektischen Materialismus von selbst. Spricht doch auch Engels an der angeführten Stelle davon, daß die Veränderungen in dieser Richtung sich „in stets steigendem Maße“ vollziehen werden. Es fragt sich nur, wohin der Anfangspunkt dieses Prozesses zu setzen ist? Das nächstliegende wäre freilich, dem Wortlaut von Engels zu folgen und das Reich der Freiheit einfach als Zustand in die Zeit nach der ganz vollzogenen sozialen Revolution zu verlegen und damit jede Aktualität dieser Frage abzulehnen. Es fragt sich nur, ob mit dieser Feststellung, die dem Wortlaute von Engels zweifellos entspricht, die Frage auch wirklich erschöpft ist? Es fragt sich, ob ein Zustand auch nur denkbar sein, geschweige denn gesellschaftlich verwirklicht werden kann, der nicht von einem langen, auf ihn hinwirkenden Prozeß vorbereitet worden ist, der seine Elemente, wenn auch in einer vielfach unangemessenen, in einer dialektischen Umschläge bedürfenden Form enthalten und entwickelt hat? Ob also eine schroffe, dialektische Übergänge ausschließende Trennung des „Reiches der Freiheit“ von dem Prozeß, der es ins Leben zu rufen bestimmt ist, nicht eine ähnliche utopische Struktur des Bewußtseins aufzeigt, wie die schon behandelte Trennung von Endziel und Bewegung?

Wenn aber das „Reich der Freiheit“, im Zusammenhange mit dem Prozeß, der zu ihm führt, betrachtet wird, so ist es zweifellos, daß schon das erste geschichtliche Auftreten des Proletariats – freilich in jeder Beziehung unbewußt – hierauf intentioniert hat. Das Endziel der proletarischen Bewegung, so wenig es die einzelnen Etappen des Anfangsstadiums – selbst theoretisch – unmittelbar zu beeinflussen imstande sein kann, ist doch als Prinzip, als Gesichtspunkt der Einheit von keinem Moment des Prozesses ganz abzulösen. Es darf jedoch nicht vergessen werden, daß die Periode der entscheidenden Kämpfe von den vorhergehenden sich nicht bloß an Umfang und Intensität der Kämpfe selbst unterscheidet, sondern daß diese quantitativen Steigerungen nur Symptome für die tiefgehenden qualitativen Unterschiede sind, die diese Kämpfe von den früheren abheben. War auf früherer Stufe, nach den Worten des Kommunistischen Manifestes selbst das „massenhafte Zusammenhalten der Arbeiter noch nicht die Folge ihrer eigenen Vereinigung, sondern die Folge der Vereinigung der Bourgeoisie“ so wiederholt sich dieses Selbständigwerden, dieses „sich zur Klasse organisieren“ des Proletariats auf immer höherer Stufe, bis der Zeitpunkt, die Periode der endgültigen Krise des Kapitalismus gekommen ist: die Epoche, in der die Entscheidung immer mehr in der Hand des Proletariats liegt.

Diese Sachlage bedeutet keinesfalls, daß die objektiven ökonomischen „Gesetzmäßigkeiten“ aufgehört hätten, zu funktionieren. Im Gegenteil, sie werden noch lange nach dem Sieg des Proletariats in Geltung bleiben und erst mit dem Entstehen der klassenlosen, vollständig unter menschlicher Kontrolle stehenden Gesellschaft – wie der Staat – absterben. Das Neue an der gegenwärtigen Lage bedeutet bloß – bloß! – so viel, daß die blinden Mächte der kapitalistisch-ökonomischen Entwicklung die Gesellschaft dem Abgrund entgegentreiben; daß die Bourgeoisie nicht mehr die Macht besitzt, die Gesellschaft über den „toten Punkt“ ihrer ökonomischen Gesetze nach kurzen Schwankungen hinauszuhelfen; daß aber das Proletariat die Möglichkeit besitzt, die vorhandenen Tendenzen der Entwicklung bewußt ausnützend, der Entwicklung selbst eine andere Richtung zu geben. Diese andere Richtung ist: die bewußte Regelung der Produktionskräfte der Gesellschaft. Und indem dies bewußt gewollt wird, wird das „Reich der Freiheit“ gewollt; ist der erste bewußte Schritt in der Richtung auf seine Verwirklichung getan.

Dieser Schritt folgt allerdings „notwendig“ aus der Klassenlage des Proletariats. Jedoch diese Notwendigkeit hat selbst den Charakter eines Sprunges. [9] Die praktische Beziehung zum Ganzen, die wirkliche Einheit von Theorie und Praxis, die den früheren Handlungen des Proletariats nur sozusagen unbewußt innegewohnt hat, tritt in ihr klar und bewußt zutage. Auch in früheren Stadien der Entwicklung wurde die Aktion des Proletariats oft sprunghaft auf eine Höhe getrieben, deren Zusammenhang und Kontinuität mit der vorausgehenden Entwicklung erst nachträglich bewußt gemacht und als notwendiges Produkt der Entwicklung begriffen werden konnte. (Man denke an die Staatsform der Kommune von 1871.) Hier jedoch muß das Proletariat diesen Schritt bewußt vollziehen. Kein Wunder, daß alle in den Gedankenformen des Kapitalismus Befangenen vor diesem Sprung zurückschrecken, mit aller Energie ihres Denkens sich an die Notwendigkeit, als „Gesetz der Wiederholung“ der Erscheinungen, als Naturgesetz anklammern und das Entstehen eines radikal Neuen, von dem wir noch keine „Erfahrung“ haben können, als Unmögliches zurückzuweisen. Am klarsten wurde diese Scheidung, nachdem sie bereits in den Kriegsdebatten berührt war, von Trotzki in schier Polemik Kautsky gegenüber betont. „Denn das grundlegende bolschewistische Vorurteil besteht eben darin, daß man das Reiten nur erlernen kann, wenn man fest auf einem Pferde sitzt.“ [10] Aber Kautsky und seinesgleichen sind nur als Symptome der Sachlage bedeutsam: als theoretischer Ausdruck für die ideologische Krise der Arbeiterklasse, als des Moments ihrer Entwicklung, wo sie „von neuem vor der unbestimmten Ungeheuerlichkeit ihrer eigenen Zwecke“ zurückschreckt, ihrer Aufgabe, die sie doch auf sich nehmen muß und nur in dieser bewußten Form auf sich nehmen kann, wenn sie nicht in der Krise des zusammenbrechenden Kapitalismus gemeinsam mit der Bourgeoisie schmach- und leidvoll zugrunde gehen will.

 

 

Fußnoten

1. Vgl. den vorangehenden Aufsatz. (Kritische Bemerkungen über Rosa Luxemburgs Kritik der russischen Revolution)

2. Vgl. darüber die Polemik von Rosa Luxemburg gegen die Mainzer Resolution Davids, Massenstreik, S.59, sowie ihre Ausführungen in der Programmrede am Gründungsparteitag der KPD über die „Bibel“ des Legalismus: Engels Vorwort zu dem Klassenkämpfen. l.c., S.22ff.

3. Diese Auffassung ist nicht einfach eine Folge der sogenannte langsamen Entwicklung der Revolution. Lenin hat bereits am 1. Kongreß die Befürchtung ausgesprochen, „daß die Kämpfe so stürmisch werden, daß das bewußtsein der Arbeitermassen mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten kann.“ Auch die Auffassung des Spartakusprogramms, daß die KP es ablehnt, die Macht zu übernehmen, nur weil die bürgerliche und sozialdemokratische „Demokratie“ abgewirtschaftet hat, geht von der Auffassung aus, daß der objektive Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft früher erfolgen kann, als die Festigung des revolutionären Klassenbewußtseins im Proletariat. Bericht über die Gründungsparteitag, S.56.

4. Eine gute Zusammenfassung ihrer Äußerungen findet man in Gegen den Strom, S.516-517.

5. Vgl. den Aufsatz Klassenbewußtsein.

6. Gegen den Strom, S.412.

7. Es soll damit nicht behauptet werden, daß diese Frage für Rußland endgiltig erledigt ist. Sie besteht vielmehr solange, wie der Kampf mit dem Kapitalismus dauert. Nur nimmt sie in Rußland andere (und voraussichtlich schwächere) Formen an, als in Europa, dem geringeren Einfluß entsprechend, den die kapitalistische Denk- und Empfindungsweise auf das Proletariat ausgeübt haben. Über das Problem selbst vergl. Lenin, Der Radikalismus, S.92-93.

8. Antidühring, S.306.

9. Vgl. den Aufsatz Funktionswechsel des historischen Materialismus.

10. Terrorismus und Kommunismus, S.82. Ich halte es für keineswegs zufällig, freilich nicht im philosophischen Sinne, daß die Polemik Trotzkis Kautsky gegenüber auf politischem Gebiet die wesentlichen Argumente der Polemik Hegels gegen die Erkenntnistheorie Kants wiederholt. Vg. Hegels Werke XV, S.54. Kautsky hat übrigens später die Gesetzlichkeit des Kapitalismus als unbedingt für die Zukunft giltig, selbst bei Unmöglichkeit der Erkenntnis der Entwicklungstendenzen, formuliert. Vgl. Die proletarische Revolution und ihr Programm, S.57.

 


Zuletzt aktualisiert am 13.2.2005