Georg Lukács

 

Methodisches zur Organisationsfrage

 

4.

So wichtig es nun ist, diese Beziehung der kommunistischen Parteiorganisation zu ihren einzelnen Mitgliedern theoretisch klar zu sehen, so verhängnisvoll wäre es, hier stehenzubleiben: die Organisationsfrage von einer formal-ethischen Seite zu nehmen. Denn die hier geschilderte Beziehung des Einzelnen zu dem Gesamtwillen, dem er sich mit seiner ganzen Persönlichkeit unterordnet, kommt – isoliert betrachtet – keineswegs bloß der kommunistischen Partei allein zu, sondern ist vielmehr ein Wesenszeichen vieler utopistischer Sektenbildungen gewesen. Ja manche Sekten konnten diese formal-ethische Seite der Organisationsfrage, eben weil sie sie als das alleinige oder wenigstens als das schlechthin ausschlaggebende Prinzip und nicht als bloßes Moment des ganzen Organisationsproblems aufgefaßt haben, sichtbarer und deutlicher zur Offenbarung bringen als die kommunistischen Parteien. In seiner formal-ethischen Einseitigkeit hebt sich aber dieses Organisationsprinzip selbst auf: seine Richtigkeit, die kein bereits erreichtes und erfülltes Sein, sondern bloß die richtige Richtung auf das zu verwirklichende Ziel bedeutet, hört mit dem Auflösen der richtigen Beziehung auf das Ganze des Geschichtsprozesses auf, etwas Richtiges zu sein. Darum wurde bei dem Herausarbeiten der Beziehung zwischen Einzelnen und Organisation auf das Wesen der Partei als auf das konkrete Vermittlungsprinzip zwischen Mensch und Geschichte ein entscheidendes Gewicht gelegt. Denn nur indem der in der Partei zusammengefaßte Gesamtwille ein aktiver und bewußter Faktor der geschichtlichen Entwicklung ist, der sich dementsprechend in stetiger, lebendiger Wechselwirkung zu dem gesellschaftlichen Umwälzungsprozeß befindet, wodurch seine einzelnen Glieder ebenfalls in eine lebendige Wechselwirkung zu diesem Prozeß und zu seinem Träger, der revolutionären Klasse, geraten, können die Forderungen, die von hier aus an den Einzelnen gestellt werden, ihren formal-ethischen Charakter verlieren. Darum hat Lenin [1] bei Behandlung der Frage, wodurch sich die revolutionäre Disziplin der kommunistischen Partei erhält, neben der Hingebung der Mitglieder die Beziehung der Partei zur Masse und die Richtigkeit ihrer politischen Leitung in den Vordergrund gestellt.

Diese drei Momente sind aber voneinander nicht zu trennen. Die formal-ethische Auffassung des Sektenwesens scheitert gerade daran, daß sie die Einheit dieser Momente, die lebendige Wechselwirkung zwischen Parteiorganisation und unorganisierter Masse nicht zu erfassen vermag. Jede Sekte, mag sie sich auch noch so ablehnend gegen die bürgerliche Gesellschaft gebärden, mag sie – subjektiv – noch so tief von dem Abgrund, der sie von dieser trennt, überzeugt sein, offenbart gerade an diesem Punkt, daß sie im Wesen ihrer Geschichtsauffassung doch noch auf bürgerlichem Boden steht; daß dementsprechend die Struktur eigenen Bewußtseins dem bürgerlichen nahe verwandt ist. Diese Verwandtschaft kann letzten Endes auf eine ähnliche Fassung der Zweiheit von Sein und Bewußtsein zurückgeführt werden; auf die Unfähigkeit, ihre Einheit als dialektischen Prozeß, als den Prozeß der Geschichte, zu begreifen. Es ist von diesem Standpunkt aus gleich, ob diese objektiv vorhandene dialektische Einheit in ihrer falschen, sektenhaften Spiegelung als starres Sein oder als gleich starres Nichtsein gefaßt wird; ob den Massen – mythologisierend – die richtige Einsicht für das revolutionäre Handeln bedingungslos zugesprochen oder die Auffassung vertreten wird, daß die „bewußte“ Minderheit für die „unbewußte“ Masse zu handeln hat. Beide extreme Fälle, die hier nur als Beispiele herbeigezogen wurden, da eine selbst andeutende Behandlung der Typologie der Sekten weit über diesen Rahmen hinausgehen würde, gleichen einander und dem bürgerlichen Bewußtsein darin, daß in ihnen der wirkliche Geschichtsprozeß von der Bewußtseinsentwicklung der „Masse“ getrennt betrachtet wird. Wenn die Sekte für die „unbewußte“ Masse, an ihrer Stelle, in ihrer Stellvertretung handelt, läßt sie die geschichtlich notwendige und darum dialektische, organisatorische Trennung der Partei von der Masse in Permanenz erstarren. Wenn sie hingegen in der spontanen, instinktiven Bewegung der Masse restlos aufzugehen versucht, muß sie das Klassenbewußtsein des Proletariats den augenblicklichen Gedanken, Empfindungen usw. der Massen einfach gleichsetzen und muß jeden Maßstab für die objektive Beurteilung des richtigen Handelns verlieren. Sie ist dem bürgerlichen Dilemma von Voluntarismus und Fatalismus anheimgefallen. Sie stellt sich auf einen Standpunkt, von wo aus es unmöglich wird, entweder die objektiven oder die subjektiven Etappen der geschichtlichen Entwicklung zu beurteilen. Sie ist gezwungen, die Organisation entweder maßlos zu überschätzen oder ebenso maßlos zu unterschätzen. Sie muß die Frage der Organisation von den allgemeinen, praktisch-geschichtlichen, von den strategisch-taktischen Fragen getrennt, isoliert behandeln.

Denn der Maßstab und der Wegweiser für die richtige Beziehung von Partei und Klasse kann nur im Klassenbewußtsein des Proletariats aufgefunden werden. Einerseits bildet die reale, objektive Einheit des Klassenbewußtseins die Grundlage der dialektischen Verbundenheit in der organisatorischen Trennung von Klasse und Partei. Andererseits bedingt das nichteinheitliche Vorhandensein, die verschiedenen Grade der Klarheit und Tiefe dieses Klassenbewußtseins in den verschiedenen Individuen, Gruppen und Schichten des Proletariats die Notwendigkeit der organisatorischen Abtrennung der Partei von der Klasse. Bucharin [2] hebt deshalb richtig hervor, daß bei einer innerlich einheitlichen Klasse die Parteibildung etwas Überflüssiges wäre. Die Frage ist nur: ob der organisatorischen Selbständigkeit der Partei, der Herauslösung dieses Teiles aus dem Ganzen der Klasse objektive Unterschiede der Schichtung in der Klasse selbst entsprechen, oder ob die Partei von der Klasse nur infolge ihrer Bewußtseinsentwicklung, infolge ihres Bedingtseins durch und ihrer Rückwirkung auf die Bewußtseinsentwicklung der Mitglieder getrennt ist? Es wäre natürlich töricht, die objektiv-ökonomischen Schichtungen innerhalb des Proletariats ganz zu übersehen. Es darf aber nicht vergessen werden, daß diese Schichtungen keineswegs auf auch nur ähnlich objektiven Differenzen beruhen, wie jene sind, die die Scheidung der Klassen selbst objektiv-ökonomisch bestimmen. Ja, sie können vielfach nicht einmal als Unterarten dieser Trennungsprinzipien gelten. Wenn z.B. Bucharin hervorhebt, daß „ein Bauer, der soeben in eine Fabrik eingetreten ist, etwas ganz anderes ist, als ein Arbeiter, der von Kindesbeinen an in der Fabrik arbeitet“ so ist das allerdings ein Unterschied des „Seins“, liegt aber auf völlig anderer Ebene, wie der andere – ebenfalls von Bucharin angeführte – Unterschied zwischen dem Arbeiter des modernen Großbetriebes und dem der kleinen Werkstätte. Denn im zweiten Falle handelt es sich um eine objektiv verschiedene Stellung im Produktionsprozeß, während im ersten Fall bloß die individuelle Lage (mag sie auch noch so typisch sein) im Produktionsprozeß geändert wird. In diesem Fall handelt es sich also darum, wie schnell das Individuum (oder die Schicht) sich seiner neuen Lage im Produktionsprozeß bewußtseinsmäßig anzupassen fähig ist, wie lange die psychologischen Überreste seiner alten verlassenen Klassenlage auf die Herausbildung seines Klassenbewußtseins hemmend einwirken. Während im zweiten Fall die Frage aufgeworfen wird, ob die Klasseninteressen, die sich objektiv-ökonomisch aus solchen verschiedenen Lagen innerhalb des Proletariats ergeben, groß genug sind, um eine Differenziation innerhalb der objektiven Klasseninteressen der ganzen Klasse hervorzubringen. Hier handelt es sich also darum, ob das objektive, das zugerechnete [3] Klassenbewußtsein selbst als differenziert, geschichtet gedacht werden muß, dort bloß darum, welche – eventuell typische – Lebensschicksale auf das Sich-durchsetzen dieses objektiven Klassenbewußtseins hemmend einwirken.

Es ist klar, daß theoretisch bloß der zweite Fall wirklich von Bedeutung ist. Denn der Opportunismus ging, von Bernstein an, stets darauf aus: einerseits die objektiv-ökonomischen Schichtungen innerhalb des Proletariats als derart tiefgehend darzustellen, andererseits die Ähnlichkeit in der „Lebenslage“ zwischen einzelnen proletarischen, halproletarischen, kleinbürgerlichen usw. Schichten so stark zu betonen, daß in dieser „Differenzierung“ die Einheit und die Selbständigkeit der Klasse verlorengehe. (Das Görlitzer Programm der SPD ist der letzte, bereits klare, organisatorisch gewordene Ausdruck dieser Tendenz.) Selbstredend werden gerade die Bolschewiki die letzten sein, das Dasein solcher Differenzierungen zu übersehen. Es fragt sich nur: welche Art des Seins, welche Funktion in der Totalität des gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesses ihnen zukommt? Inwiefern die Erkenntnis dieser Differenzierungen zu (vorwiegend) taktischen, inwiefern sie zu (vorwiegend) organisatorischen Fragestellungen und Maßnahmen führt? Diese Fragestellung scheint im ersten Augenblick auf bloß begriffliche Haarspaltereien hinauszulaufen. Es muß jedoch bedacht werden, daß eine organisatorische Zusammenfassung – im Sinne der kommunistischen Partei – eben die Einheit des Bewußtseins, also die Einheit des ihm zugrunde liegenden gesellschaftlichen Seins voraussetzt, während ein taktisches Zusammengehen durchaus möglich ist, ja notwendig werden kann, wenn die geschichtlichen Umstände in verschiedenen Klassen, deren gesellschaftliches Sein objektiv verschieden ist, Bewegungen hervorrufen, die, obwohl von verschiedenartigen Ursachen bestimmt, doch vom Standpunkt der Revolution zeitweilig in der gleichen Richtung laufen. Wenn aber das objektive gesellschaftliche Sein wirklich verschieden ist, so können diese gleichen Richtungen nicht in dem gleichen Sinne „notwendig“ sein , wie bei gleicher klassenmäßiger Grundlage. D.h. bloß im ersten Fall ist die gleiche Richtung das gesellschaftlich Notwendige, dessen Eintreten in der Empirie zwar durch verschiedene Umstände gehemmt werden kann, aber sich auf die Dauer doch durchsetzen muß, während im zweiten Fall bloß eine Kombination verschiedener geschichtlicher Umstände dieses Konvergieren der Bewegungsrichtungen hervorgebracht hat. Es ist eine Gunst der Umstände, die taktisch ausgewertet werden muß, da sie sonst, vielleicht unwiderbringlich, verlorengeht. Freilich ist auch die Möglichkeit eines solchen Zusammengehens von Proletariat und halbproletarischen usw. Schichten keineswegs zufällig. Aber es ist in der Klassenlage des Proletariats allein notwendig begründet: da das Proletariat sich nur durch die Vernichtung der Klassengesellschaft befreien kann, ist es gezwungen, seinen Befreiungskampf auch für alle unterdrückten, ausgebeuteten Schichten zu führen. Ob diese aber in den Einzelkämpfen an seiner Seite oder im Lager seiner Gegner stehen werden, ist vom Standpunkt dieser Schichten mit unklarem Klassenbewußtsein mehr oder weniger „zufällig“ Es hängt – wie früher gezeigt wurde – sehr stark von der richtigen Taktik der revolutionären Partei des Proletariats ab. Hier also, wo das gesellschaftliche Sein der handelnden Klassen verschieden ist, wo ihre Verbindung nur durch die weltgeschichtliche Sendung des Proletariats vermittelt wird, kann nur das begrifflich stets gelegentliche, wenn auch in der Praxis oft andauernde – taktische Zusammengehen bei strenger organisatorischer Trennung im Interesse der revolutionären Entwicklung liegen. Denn das Entstehen der Einsicht in den halbproletarischen usw. Schichten, daß ihre Befreiung von dem Sieg des Proletariats abhängt, ist ein derart langwieriger Prozeß, ist bei diesen Schichten so großen Schwankungen unterworfen, daß ein mehr als taktisches Zusammengehen das Schicksal der Revolution gefährden könnte. Nun wird es verständlich, warum unsere Frage so scharf gestellt werden mußte: ob den Schichtungen innerhalb des Proletariats selbst eine ähnliche (wenn auch schwächere) Abstufung des objektiven gesellschaftlichen Seins, der Klassenlage und dementsprechend des objektiven, zugerechneten Klassenbewußtseins zukommt? Oder ob diese Schichtungen nur dadurch entstehen, wie leicht oder wie schwer dieses wahre Bewußtsein der Klasse sich in den einzelnen Schichten, Gruppen und Individuen des Proletariats durchsetzt? Ob also die – zweifellos vorhandenen – objektiven Abstufungen in der Lebenslage des Proletariats nur die Perspektive bestimmen, aus der die – zweifellos als verschieden erscheinenden – Interessen des Augenblicks betrachtet werden, die Interessen selbst aber, nicht nur weltgeschichtlich, sondern aktuell und unmittelbar, wenn auch nicht für jeden Arbeiter im Augenblick erkennbar, objektiv zusammenfallen? Oder ob – wegen eines objektiven Unterschieds im gesellschaftlichen Sein – diese Interessen selbst auseinandergehen können?

Ist die Frage so gestellt, so kann die Antwort nicht mehr zweifelhaft sein. Die Worte des Kommunistischen Manifestes die beinahe Wort für Wort in die Thesen über „die Rolle der kommunistischen Partei in der proletarischen Revolution“ des II. Kongresses übernommen wurden, daß die „kommunistische Partei keine von der gesamten Arbeiterklasse abweichenden Interessen hat, daß sie sich von der gesamten Arbeiterklasse dadurch unterscheidet, daß sie eine Übersicht über den ganzen historischen Weg der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit hat und bestrebt ist, auf allen Biegungen dieses Weges nicht die Interessen einzelner Gruppen oder einzelner Berufe zu verteidigen, sondern die Interessen der Arbeiterklasse in ihrer Gesamtheit“, sind nur dann verständlich und sinnvoll, wenn die Einheit des objektiv-ökonomischen Seins für das Proletariat bejaht wird. Dann aber sind jene Schichtungen im Proletariate, die zu den verschiedenen Arbeiterparteien, zu der Entstehung der kommunistischen Partei führen, keine objektiv-ökonomischen Schichtungen des Proletariats, sondern Abstufungen in dem Entwicklungsgang seines Klassenbewußtseins. Einzelne Arbeiterschichten sind durch ihr ökonomisches Dasein ebensowenig unmittelbar dazu vorherbestimmt, Kommunisten zu werden, wie der einzelne Arbeiter als Kommunist geboren wird. Für jeden in der kapitalistischen Gesellschaft geborenen und unter seinem Einfluß aufgewachsenen Arbeiter ist ein an Erfahrungen mehr oder weniger schwerer Weg zurückzulegen, um in sich das richtige Bewußtsein über die eigene Klassenlage verwirklichen zu können.

Der Kampf der kommunistischen Partei geht um das Klassenbewußtsein des Proletariats. Ihre organisatorische Trennung von der Klasse bedeutet in diesem Falle nicht soviel, als ob sie statt der Klasse selbst für die Interessen der Klasse kämpfen wollte. (Wie dies etwa die Blanquisten getan haben.) Tut sie auch dies, was im Laufe der Revolution zuweilen vorkommen kann, so geschieht es nicht in erster Reihe um der objektiven Ziele des betreffenden Kampfes willen (die auf die Dauer sowieso nur durch die Klasse selbst erkämpft oder bewahrt werden können), sondern um den Entwicklungsprozeß des Klassenbewußtseins zu befördern und zu beschleunigen. Denn der Prozeß der Revolution ist – im geschichtlichen Maßstabe – gleichbedeutend mit dem Entwicklungsprozeß des proletarischen Klassenbewußtseins. Die organisatorische Loslösung der kommunistischen Partei von der breiten Masse der Klasse selbst beruht auf der bewußtseinsmäßig verschiedenen Gliederung der Klasse, ist aber zugleich dazu da, um den Prozeß der Ausgleichung dieser Schichtungen – auf dem erreichbar höchsten Niveau – zu befördern. Die organisatorische Selbständigkeit der kommunistischen Partei ist notwendig, damit das Proletariat sein eigenes Klassenbewußtsein, als geschichtliche Gestalt, unmittelbar erblicken könne; damit in jedem Ereignis des alltäglichen Lebens jene Stellungnahme, die das Interesse der Gesamtklasse erfordert, klar und für jeden Arbeiter verständlich in Erscheinung trete; damit für die ganze Klasse das eigene Dasein als Klasse ins Bewußtsein gehoben werde. Während die Organisationsform der Sekten das „richtige“ Klassenbewußtsein (soweit diese in einer solchen abstrakten Isolierung überhaupt gedeihen kann) künstlich von Leben und Entwicklung der Klasse abgesondert, bedeutet die Organisationsform der Opportunisten den Ausgleich dieser Schichtungen des Bewußtseins auf dem niedrigsten Niveau oder bestenfalls auf dem Niveau des Durchschnitts. Daß die jeweiligen tatsächlichen Handlungen der Klasse weitgehend von diesem Durchschnitt bestimmt werden, ist selbstverständlich. Da aber dieser Durchschnitt nicht etwas statisch-statistisch Bestimmbares ist, sondern selbst die Folge des revolutionären Prozesses, ist es ebenso selbstverständlich, daß ein organisatorisches Sichstützen auf den vorgefundenen Durchschnitt seine Entwicklung zu hemmen, ja sein Niveau zu senken bestimmt ist. Während das klare Herausarbeiten der höchsten Möglichkeit, die in einem bestimmten Augenblick objektiv gegeben ist, also die organisatorische Selbständigkeit der bewußten Vorhut, selbst ein Mittel ist, die Spannung zwischen dieser objektiven Möglichkeit und dem tatsächlichen Bewußtseinszustand des Durchschnitts in einer die Revolution befördernden Weise auszugleichen.

Die organisatorische Selbständigkeit ist sinnlos und führt zur Sekte zurück, wenn sie nicht zugleich die ununterbrochene taktische Rücksichtnahme auf den Bewußtseinszustand der breitesten, der zurückgebliebensten Massen bedeutet. Hier wird die Funktion der richtigen Theorie für das Organisationsproblem der kommunistischen Partei sichtbar. Sie soll die höchste, objektive Möglichkeit des proletarischen Handelns repräsentieren. Dazu ist aber die richtige theoretische Einsicht die unerläßliche Vorbedingung. Eine opportunistische Organisation, da sie eine mehr oder weniger lose Zusammenfassung heterogener Bestandteile zu bloß gelegentlichen Handlungen ist, da ihre Handlungen von den unbewußten, bereits nicht mehr hemmbaren Bewegungen der Massen eher geschoben werden, als daß die Partei sie wirklich leiten würde, da der organisatorische Zusammenhalt der Partei im Wesen eine in mechanisierte Arbeitsteilung fixierte Hierarchie von Führern und Funktionären ist, zeigt den Konsequenzen einer falschen Theorie gegenüber eine geringere Empfindlichkeit, als eine kommunistische Organisation. (Daß die unausgesetzte falsche Anwendung falscher Theorien doch zum Parteizusammenbruch führen muß, ist eine andere Frage.) Gerade der eminent praktische Charakter der kommunistischen Organisation, ihr Wesen als Kampfpartei setzt einerseits die richtige Theorie voraus, da sie sonst sehr bald an den Folgen der falschen Theorie scheitern müßte; andererseits produziert und reproduziert diese Organisationsform die richtige theoretische Einsicht, indem sie die Empfindlichkeit der Organisationsform für die Folgen einer theoretischen Einstellung bewußt und organisatorisch steigert. Handlungsfähigkeit und Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Selbstkorrektur, zur theoretischen Weiterentwicklung stehen also in unlösbarer Wechselwirkung. Auch theoretisch handelt die kommunistische Partei nicht stellvertretend für das Proletariat. Ist sein Klassenbewußtsein, in bezug auf Denken und Handeln der ganzen Klasse etwas Prozeßartiges und Fließendes, so muß sich dies in der organisatorischen Gestalt dieses Klassenbewußtseins, in der kommunistischen Partei widerspiegeln. Nur mit dem Unterschied, daß sich hier eine höhere Bewußtseinsstufe organisatorisch objektiviert hat: dem mehr oder weniger chaotischen Auf und Ab in der Entwicklung dieses Bewußtseins in der Klasse selbst, der Abwechslung von Ausbrüchen, in denen eine alle theoretische Voraussicht weit übertreffende Reife des Klassenbewußtseins sich offenbart, mit halb lethargischen Zuständen der Unbeweglichkeit, des alles Erduldens, der bloß unterirdischen Weiterentwicklung steht hier ein bewußtes Betonen der Beziehung des „Endzieles“ zu dem gegenwärtig aktuellen und notwendigen Handeln [4] gegenüber. Das Prozeßartige, das Dialektische des Klassenbewußtseins wird also in der Theorie der Partei zur bewußt gehandhabten Dialektik.

Diese ununterbrochene dialektische Wechselwirkung zwischen Theorie, Partei und Klasse, dieses Gerichtetsein der Theorie auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Klasse bedeutet mithin keineswegs ein Aufgehen der Partei in der Masse des Proletariats. Die Debatten über die Einheitsfront haben bei fast allen Gegnern dieser Taktik den Mangel an dialektischer Auffassung, den Mangel an Verständnis für die wirkliche Funktion der Partei im Prozeß der Bewußtseinsentwicklung des Proletariats gezeigt. Ich spreche gar nicht von jenen Mißverständnissen, die die Einheitsfront als sofortige organisatorische Wiedervereinigung des Proletariats gedacht haben. Aber die Furcht, daß die Partei durch eine zu große Annäherung an die – scheinbar – „reformistischen“ Tagesparolen, durch gelegentliches taktisches Zusammengehen mit den Opportunisten ihren kommunistischen Charakter verlieren könnte, zeigt, daß das Vertrauen zu der richtigen Theorie, zu der Selbsterkenntnis des Proletariats als Erkenntnis seiner objektiven Lage auf einer bestimmten Stufe der geschichtlichen Entwicklung, zu dem dialektischen Innewohnen des „Endzieles“ in jeder revolutionär richtig erfaßten Tagesparole in weiten Kreisen der Kommunisten sich noch nicht genügend gefestigt hat; daß sie noch häufig – in sektenhafter Weise – für das Proletariat handeln, statt durch ihr Handeln den realen Prozeß der Entwicklung seines Klassenbewußtseins befördern zu müssen meinen. Denn diese Anschmiegung der Taktik der kommunistischen Partei an jene Momente des Lebens der Klasse, in denen gerade das richtige Klassenbewußtsein sich – wenn auch vielleicht in falscher Form – emporzuringen scheint, bedeutet keineswegs, daß sie nun unbedingt bloß den augenblicklichen Willen der Massen zu erfüllen gewillt wäre. Im Gegenteil. Gerade weil sie den höchsten Punkt des objektiv-revolutionär Möglichen zu erreichen bestrebt ist – und das augenblickliche Wollen der Masse ist oft der wichtigste Teil, das wichtigste Symptom hierfür -, ist sie zuweilen gezwungen, gegen die Massen Stellung zu nehmen; ihnen den richtigen Weg durch Negation ihres gegenwärtigen Wollens zu zeigen. Sie ist gezwungen, darauf zu rechnen, daß das Richtige an ihrer Stellungnahme den Massen erst post festum, nach vielen bitteren Erfahrungen begreiflich wird.

Aber weder diese noch jene Möglichkeit der Zusammenarbeit mit den Massen darf zum allgemeinen taktischen Schema verallgemeinert werden. Die Entwicklung des proletarischen Klassenbewußtseins (also: die Entwicklung der proletarischen Revolution) und die der kommunistischen Partei sind zwar – weltgeschichtlich betrachtet – ein und derselbe Prozeß. Sie bedingen sich also in der Praxis des Alltags wechselseitig in der innigsten Weise, ihr konkretes Wachstum erscheint aber dennoch nicht als ein und derselbe Prozeß, ja er kann nicht einmal eine durchgehende Parallelität aufzeigen. Denn die Art, wie dieser Prozeß sich abspielt, in welcher Form gewisse objektiv-ökonomische Veränderungen im Bewußtsein des Proletariats verarbeitet werden und vor allem, wie sich innerhalb dieser Entwicklung die Wechselwirkung! von Partei und Klasse gestaltet, läßt sich nicht auf schematisierte „Gesetzmäßigkeiten“ zurückzuführen. Das Erwachen der Partei, ihre äußere wie innere Konsolidation spielt sich freilich nicht im luftleeren Raum der sektenhaften Isolierung, sondern inmitten der historischen Wirklichkeit, in ununterbrochener, dialektischer Wechselwirkung mit der objektiven Wirtschaftskrise und den durch sie revolutionierten Massen ab. Es kann geschehen, daß der Lauf der Entwicklung – wie etwa in Rußland zwischen den beiden Revolutionen – der Partei die Möglichkeit bietet, sich vor den entscheidenden Kämpfen zur vollen inneren Klarheit durchzuarbeiten. Es kann aber auch, wie in einigen Ländern Mittel- und Westeuropas, der Fall vorliegen, daß die Krise die breiten Massen so weit und so schnell revolutioniert, daß sie teilweise auch organisatorisch Kommunisten werden, bevor sie sich die inneren bewußtseinsmäßigen Voraussetzungen dieser Organisationen erkämpft haben, so daß kommunistische Massenparteien entstehen, die erst im Laufe der Kämpfe zu wirklich kommunistischen Parteien werden müssen usw. Wie weit sich diese Typologie der Parteibildung auch verzweigen mag, wie sehr in gewissen extremen Fällen der Schein entstehen könnte, als würde die kommunistische Partei organisch-“gesetzmäßig“ aus der Wirtschaftskrise herausgewachsen, der entscheidende Schritt, die bewußte, innerlich-organisatorische Zusamenfassung der revolutionären Vorhut, also das wirkliche Entstehen einer wirklichen kommunistischen Partei, bleibt doch die bewußte und freie Tat dieser bewußten Vorhut selbst. An diesem Tatbestand ändert nichts, um nur zwei extreme Fälle zu nehmen, ob eine relativ kleine, innerlich gefestigte Partei sich in Wechselwirkung mit den breiten Schichten des Proletariats zur großen Massenpartei entfaltet oder aus der spontan entstandenen Massenpartei – nach manchen inneren Krisen eine kommunistische Massenpartei wird. Denn das theoretische Wesen all dieser Vorgänge bleibt doch dasselbe: die Überwindung der ideologischen Krise, das Erkämpfen des richtigen, proletarischen Klassenbewußtseins. Von diesem Standpunkt ist es gleich gefährlich für die Entwicklung der Revolution, wenn der Faktor der Zwangsläufigkeit dieses Prozesses überschätzt und angenommen wird, irgendeine Taktik wäre fähig, selbst eine Reihe von Aktionen, geschweige denn den Gang der Revolution selbst, in zwangsläufiger Steigerung über sich hinaus und zu weiter gesteckten Zielen zu führen, wie es verhängnisvoll wäre, zu glauben, daß die beste Aktion der größten und bestorganisierten kommunistischen Partei mehr erreichen könnte, als das Proletariat, für ein Ziel, das es selbst – wenn auch nicht ganz bewußt – anstrebt, in der richtigen Weise in den Kampf zu führen. Es wäre freilich ebenfalls falsch, den Begriff des Proletariats auch hier bloß statisch-statistisch zu nehmen; „der Begriff der Masse ändert sich eben im Laufe des Kampfes“ sagt Lenin. Die kommunistische Partei ist eine – im Interesse der Revolution – selbständige Gestalt des proletarischen Klassenbewußtseins. Es gilt, sie in dieser doppelten, dialektischen Beziehung: zugleich als Gestalt dieses Bewußtseins, wie als Gestalt dieses Bewußtseins, also zugleich in ihrer Selbständigkeit und ihrem Zugeordnetsein theoretisch richtig zu begreifen.

 

Fußnoten

1. Der „Radikalismus“, die Kinderkrankheit des Kommunismus, S.6-7.

2. Klasse, Partei, Führer, Die Internationale, Berlin 1922, IV, S.22.

3. Über diesen Begriff vgl. den Aufsatz Klassenbewußtsein.

4. Über die Beziehung von Endziel und augenblicklichem Handeln vergl. den Aufsatz Was ist orthodoxer Marxismus?

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003