Georg Lukács

 

Methodisches zur Organisationsfrage

 

5.

Diese genaue, wenn auch stets wechselnde, den Umständen angepaßte Trennung des taktischen von dem organisatorischen Zusammengehen in der Beziehung von Partei und Klasse nimmt als inneres Problem der Partei die Form der Einheit der taktischen und organisatorischen Fragen auf. Für dieses innere Leben der Partei stehen uns freilich in noch gesteigertem Maße, als bei den vorher behandelten Fragen, fast nur die Erfahrungen der russischen Partei als wirkliche und bewußte Schritte in der Richtung auf Verwirklichung der kommunistischen Organisation zur Verfügung. So wie die außerrussischen Parteien in den Zeiten ihrer „Kinderkrankheiten“ vielfach eine Neigung zur sektenhaften Auffassung der Partei gezeigt haben, so neigen sie später vielfach dazu, neben der propagandistischen und organisatorischen Einwirkung der Partei auf die Masse, neben ihrem Leben nach „außen“ ihr „inneres“ Leben zu vernachlässigen. Auch dies ist selbstredend eine „Kinderkrankheit“, die teilweise durch das schnelle Entstehen großer Massenparteien, durch die fast ununterbrochene Aufeinanderfolge wichtiger Entscheidungen und Handlungen, durch die Notwendigkeit für die Parteien „nach außen“ zu leben bestimmt ist. Aber die kausale Folge, die zu einem Fehler geführt hat, zu begreifen, bedeutet keineswegs, sich mit ihm abzufinden. Um so weniger, als gerade die richtige Art des Handelns „nach außen“ am sinnfälligsten zeigt, wie sinnlos es ist, im inneren Leben der Partei, zwischen Taktik und Organisation zu unterscheiden; wie stark diese ihre innere Einheit auf die innige Verknüpfung des „nach innen“ gerichteten Lebens der Partei mit ihrem Leben „nach außen“ einwirkt (wenn diese Trennung in der Empirie für jede kommunistische Partei, als Erbschaft der Umwelt, aus der sie entstanden ist, vorläufig fast unüberwindbar scheint). So muß jeder aus der unmittelbaren, alltäglichen Praxis sich darauf besinnen, daß organisatorische Zentralisation der Partei (mit allen Problemen der Disziplin, die aus ihr folgen, die nur die andere Seite von ihr bilden) und Fähigkeit zur taktischen Initiative sich wechselseitig bedingende Begriffe sind. Einerseits setzt die Möglichkeit, daß eine von der Partei angestrebte Taktik sich in den Massen auswirke, ihr Sichauswirken innerhalb der Partei voraus. Nicht nur in einem mechanischen Sinne der Disziplin, daß die einzelnen Teile der Partei sich fest in den Händen der Zentrale befinden, daß sie als wirkliche Glieder eines Gesamtwillens nach außen wirken. Sondern gerade darin, daß die Partei ein derart einheitliches Gebilde wird, in dem sich jede Umstellung der Kampfrichtung als Umgruppierung aller Kräfte, jede Veränderung der Einstellung sich bis auf das einzelne Parteimitglied auswirkt; in dem also die Empfindlichkeit der Organisation für Richtungsänderungen, für Erhöhung der Kampftätigkeit, für Rückzug usw. aufs äußerste gesteigert ist. Daß dies keinen „Kadavergehorsam“ sie die Möglichkeit einer gesunden, die Aktionsfähigkeit steigernden Selbstkritik am meisten befördert. [1] Andererseits ist es selbstverständlich, daß der feste organisatorische Zusammenhalt der Partei ihr nicht bloß die objektive Fähigkeit zur Aktion verleiht, sondern zugleich die innere Atmosphäre in der Partei schafft, die ein tatkräftiges Eingreifen in die Ereignisse, ein Ausnützen der von ihnen gebotenen Chancen ermöglicht. So muß eine wirklich durchgeführte Zentralisation aller Kräfte der Partei schon kraft ihrer inneren Dynamik die Partei in der Richtung auf Aktivität und Initiative vorwärtstreiben. Während das Gefühl der ungenügenden organisatorischen Festigung notwendig hemmend und lähmend auf die taktischen Entschlüsse, ja selbst auf die theoretische Grundeinstellung der Partei einwirken muß. (Man denke etwa an die KPD zur Zeit des Kapp-Putsches.)

„Für eine kommunistische Partei“ sagen die Organisationsthesen des III. Kongresses, „gibt es keine Zeit, in der die Parteiorganisation nicht politisch aktiv sein könnte.“ Diese taktische und organisatorische Permanenz nicht nur der revolutionären Kampfbereitschaft, sondern der revolutionären Aktivität selbst, kann nur bei vollem Verständnis für die Einheit von Taktik und Organisation richtig verstanden werden. Denn wird die Taktik von der Organisation getrennt, wird in beiden nicht derselbe Entwicklungsprozeß des proletarischen Klassenbewußtseins erblickt, so ist es unvermeidlich, daß der Begriff der Taktik dem Dilemma von Opportunismus und Putschismus verfällt: daß die „Aktion“ entweder eine isolierte Tat der „bewußten Minderheit“ zur Ergreifung der Macht, oder etwas bloß den Tageswünschen der Massen angepaßtes, etwas „Reformistisches“ bedeutet, während der Organisation bloß die technische Rolle der „Vorbereitung“ der Aktion zukommt. (Die Auffassung von Serrati und seinen Anhängern sowie die von Paul Levi stehen auf dieser Stufe.) Die Permanenz der revolutionären Lage bedeutet aber keineswegs, daß die Machtergreifung seitens des Proletariats in jedem Augenblick möglich wäre. Sie bedeutet nur soviel, daß infolge der objektiven Gesamtlage der Ökonomie jeder Änderung dieser Lage, jeder von ihr verursachten Bewegung in den Massen eine revolutionär wendbare Tendenz innewohnt, die im Proletariat zur Weiterentwicklung seines Klassenbewußtseins ausgewertet werden kann. In diesem Zusammenhang ist aber die innere Weiterentwicklung der selbständigen Gestalt dieses Klassenbewußtseins, der kommunistischen Partei ein Faktor allerersten Ranges. Das Revolutionäre der Lage äußert sich in erster Reihe und am augenfälligsten in der ständig abnehmenden Stabilität der gesellschaftlichen Formen, verursacht durch die ständig abnehmende Stabilität des Gleichgewichts der gesellschaftlichen Kräfte und Mächte, auf deren Zusammenarbeit die bürgerliche Gesellschaft beruht. Das Selbständigwerden, das zur Gestaltwerden des proletarischen Klassenbewußtseins kann also nur dann für das Proletariat sinnvoll werden, wenn es tatsächlich in jedem Augenblick den revolutionären Sinn gerade dieses Augenblicks für das Proletariat verkörpert. Die Richtigkeit des revolutionären Marxismus ist dementsprechend in einer objektiv revolutionären Lage viel mehr, als die bloß „allgemeine“ Richtigkeit einer Theorie. Eben weil sie ganz aktuell, ganz praktisch geworden ist, muß die Theorie zum Wegweiser für jeden einzelnen Schritt des Alltags werden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Theorie ihren rein theoretischen Charakter völlig ablegt, wenn sie rein dialektisch wird, d.h. jeden Gegensatz des Allgemeinen und des Besonderen, des Gesetzes und des ihm „subsumierten“ Einzelfalles, also des Gesetzes und seiner Anwendung und damit zugleich jeden Gegensatz von Theorie und Praxis praktisch aufhebt. Während die auf Verlassen der dialektischen Methode beruhende Taktik und Organisation der Opportunisten der „Realpolitik“ den Forderungen des Tages darin genug tut, daß sie die Festigkeit der theoretischen Grundlegung aufgibt, andererseits aber gerade in ihrer Alltagspraxis der erstarrenden Schematik ihrer verdinglichten Organisationsformen und ihrer taktischen Routine anheimfällt, muß die kommunistische Partei gerade die dialektische Spannung des Festhaltens des „Endzieles“ in der genausten Anschmiegung an die konkreten Gebote der Stunde in sich lebendig erhalten und bewahren. Für jeden einzelnen würde diese eine „Genialität“ voraussetzen, auf die eine revolutionäre Realpolitik niemals rechnen kann. Sie ist aber dazu keineswegs gezwungen, da gerade die bewußte Ausbildung des kommunistischen Organisationsprinzips der Weg ist, den Erziehungsprozeß in dieser Richtung, in der Richtung auf praktische Dialektik in der revolutionären Vorhut zu bewerkstelligen. Denn diese Einheit von Taktik und Organisation, die Notwendigkeit, daß jede Anwendung der Theorie, jeder taktische Schritt sofort organisatorisch gewendet wird, ist das bewußt angewendete Korrektivprinzip gegen die dogmatische Erstarrung, der jede Theorie – von im Kapitalismus aufgewachsenen Menschen mit verdinglichtem Bewußtsein angewendet – unaufhörlich ausgesetzt ist. Dies Gefahr ist um so größer, als ja dieselbe kapitalistische Umwelt, die diese Schematisierung des Bewußtseins hervorbringt, in ihrem gegenwärtigen krisenhaften Zustand immer neue Formen aufnimmt und für ein schematisches Erfassen immer unerreichbarer wird. Was also heute richtig ist, kann morgen falsch sein. Was bis zu einer bestimmten Intensität heilbringend ist, kann etwas darüber oder darunter verhängnisvoll werden. „Man braucht aber nur“, sagt Lenin [2] über gewisse Formen des kommunistischen Dogmatismus, „einen kleinen Schritt weiter zu tun – offenbar in derselben Richtung – und die Wahrheit verwandelt sich in einen Fehler.“

Denn der Kampf gegen die Einwirkungen des verdinglichten Bewußtseins ist selbst ein langwieriger und hartnäckige Kämpfe erfordernder Prozeß, in dem man sich weder auf eine bestimmte Form solcher Einwirkungen, noch auf die Inhalte bestimmter Erscheinungen festlegen darf. Aber die Herrschaft des verdinglichten Bewußtseins über die heute lebenden Menschen wirkt gerade in solchen Richtungen. Wird die Verdinglichung an einem Punkt überwunden, so entsteht augenblicklich die Gefahr, daß der Bewußtseinszustand dieser Überwindung zu einer neuen ebenfalls verdinglichten – Form erstarrt. Gilt es etwa für die Arbeiter, die im Kapitalismus leben, den Wahn zu überwinden, als bildeten die Wirtschafts- und Rechtsformen der bürgerlichen Gesellschaft die „ewige“ die „vernunftgemäße“ die „natürliche“ Umwelt des Menschen, gilt es also, die übermäßige Achtung, die sie vor ihrer gewohnten gesellschaftlichen Umwelt empfinden, zu brechen, so kann nach Übernahme der Macht, nach dem Niederwerfen der Bourgeoisie im offenen Klassenkampf der so entstehende „kommunistische Hochmut“, wie ihn Lenin genannt hat, ebenso gefährlich werden, wie früher der menschewistische Kleinmut der Bourgeoisie gegenüber gewesen ist. Gerade weil der richtig aufgefaßte historische Materialismus der Kommunisten – im schroffen Gegensatz zu den opportunistischen Theorien – davon ausgeht, daß die gesellschaftliche Entwicklung unaufhörlich Neues, und zwar in qualitativem Sinne produziert [3], muß jede kommunistische Organisation darauf eingestellt sein, ihre eigene Empfindlichkeit jeder neuen Erscheinungsform gegenüber, ihre Fähigkeit, von allen Momenten der Entwicklung zu lernen, soweit wie nur möglich zu steigern. Sie muß verhindern, daß die Waffen, mit denen gestern ein Sieg erfochten wurde, infolge ihrer Erstarrung heute zu einem Hemmnis des weiteren Kampfes werden. „Wir müssen vom Kommis lernen“, sagt Lenin in seiner eben angeführten Rede über die Aufgaben der Kommunisten in der neuen Wirtschaftspolitik.

Schmiegsamkeit, Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit der Taktik und straff zusammengefaßte Organisation sind also nur zwei Seiten ein und derselben Sache. Dieser tiefste Sinn der kommunistischen Organisationsform wird aber – selbst in kommunistischen Kreisen – selten in seiner ganzen Tragweite erfaßt. Obwohl von seiner richtigen Anwendung nicht nur die Möglichkeit des richtigen Handelns abhängt, sondern auch die innere Entwicklungsfähigkeit der kommunistischen Partei. Lenin wiederholt hartnäckig die Ablehnung eines jeden Utopismus in bezug auf das Menschenmaterial, mit dem die Revolution gemacht und zum Siege geführt werden muß: es besteht notwendig aus Menschen, die in der kapitalistischen Gesellschaft erzogen und von ihr verdorben worden sind. Aber die Ablehnung von utopistischen Hoffnungen oder Illusionen bedeutet keineswegs, daß man bei der Anerkennung dieses Tatbestandes fatalistisch stehen bleiben dürfte. Es müssen nur, da jede Erwartung einer inneren Umwandlung der Menschen, solange der Kapitalismus besteht, eine utopistische Illusion wäre, organisatorische Vorkehrungen und Garantien gesucht und gefunden werden, die geeignet sind, den verderbnisbringenden Folgen dieser Sachlage entgegenzuarbeiten, ihr unvermeidliches Auftreten sofort zu korrigieren, die dadurch entstandenen Auswüchse auszumerzen. Der theoretische Dogmatismus ist ja nur ein Spezialfall jener Erstarrungserscheinungen, denen jeder Mensch und jede Organisation in der kapitalistischen Umwelt ununterbrochen ausgesetzt ist. Die kapitalistische Verdinglichung [4] des Bewußtseins bringt zugleich eine Überindividualisierung und eine mechanische Versachlichung der Menschen zustande. Die nicht auf menschlicher Eigenart beruhende Arbeitsteilung läßt die Menschen einerseits in ihrer Tätigkeit schematisch erstarren, macht Automaten ihrer Beschäftigung, bloße Routiniers aus ihnen. Andererseits aber übersteigert sie zugleich ihr individuelles Bewußtsein, das infolge der Unmöglichkeit in der Tätigkeit selbst die Befriedigung und das Sichausleben der Persönlichkeit zu finden, leer und abstrakt geworden ist, zu einem brutalen, habgierigen oder ehrsüchtigen Egoismus. Diese Tendenzen müssen auch in der kommunistischen Partei, die ja niemals mit dem Anspruch aufgetreten ist, die ihr angehörenden Menschen durch ein Wunder innerlich zu verwandeln, weiterwirken. Um so mehr, als die Notwendigkeiten des zweckmäßigen Handelns jeder kommunistischen Partei ebenfalls eine weitgehende sachliche Arbeitsteilung aufzwingen, die notwendig diese Gefahren der Erstarrung, des Bureaukratismus, der Korruption usw. in sich birgt.

Das innere Leben der Partei ist ein ständiges Ankämpfen gegen diese ihre kapitalistische Erbschaft. Das entscheidende organisatorische Kampfmittel kann nur die Heranziehung der Parteimitglieder in ihrer Gesamtpersönlichkeit zur Parteitätigkeit sein. Nur wenn die Funktion in der Partei kein Amt ist, das ja eventuell mit voller Hingebung und Gewissenhaftigkeit, aber doch nur als Amt ausgeübt wird, sondern die Aktivität aller Mitglieder sich auf alle nur möglichen Arten der Parteiarbeit bezieht; wenn diese Tätigkeit noch dazu je nach den sachlichen Möglichkeiten abgewechselt wird, kommen die Mitglieder der Partei mit ihrer Gesamtpersönlichkeit in eine lebendige Beziehung zu der Totalität des Parteilebens und der Revolution, hören sie auf, bloße Spezialisten zu sein, die notwendig der Gefahr der inneren Erstarrung unterworfen sind. [5] Auch hier zeigt sich wiederum die unzertrennbare Einheit von Taktik und Organisation. jede Funktionärshierarchie in der Partei, die im Zustand des Kampfes absolut unvermeidlich ist, muß auf dem Geeignetsein eines bestimmten Typus der Begabungen für die sachlichen Anforderungen einer besimmten Phase des Kampfes beruhen. Geht die Entwicklung der Revolution über diese Phase hinaus, so wäre eine bloße Änderung der Taktik, ja selbst eine Änderung der Formen der Organisation (etwa übergehen von Illegalität zu Legalität) für eine wirkliche Umstellung zum nunmehr richtigen Handeln durchaus nicht ausreichend. Es muß zugleich eine Umstellung der Funktionärshierarchie in der Partei erfolgen; die Personenauswahl muß der neuen Kampfweise genau angepaßt werden. [6] Dies läßt sich selbstredend weder ohne „Fehler“ noch ohne Krisen verwirklichen. Die kommunistische Partei wäre eine phantastisch-utopische selige Insel im Meere des Kapitalismus, wenn ihre Entwicklung nicht ständig diesen Gefahren unterworfen wäre. Das entscheidend Neue an ihrer Organisation ist nur, daß sie in bewußter, in ständig bewußterer Form gegen diese innere Gefahr ankämpft.

Geht solcherart ein jedes Mitglied der Partei mit seiner ganzen Persönlichkeit, mit seiner ganzen Existenz in das Leben der Partei auf, so ist es dasselbe Prinzip der Zentralisation und der Disziplin, das für die lebendige Wechselwirkung zwischen dem Willen der Mitglieder und dem der Parteileitung, für das Zurgeltungkommen des Willens und der Wünsche, der Anregungen und der Kritik der Mitglieder der Leitung gegenüber zu sorgen hat. Eben dadurch, daß jeder Entschluß der Partei sich in Handlungen sämtlicher Mitglieder der Partei auswirken muß, daß aus jeder Parole Taten der einzelnen Mitglieder zu folgen haben, in denen diese ihre ganze physische und moralische Existenz aufs Spiel setzen, sind sie nicht nur in der Lage, sondern geradezu gezwungen, mit ihrer Kritik sofort einzusetzen; ihre Erfahrungen, ihre Bedenken usw. augenblicklich zur Geltung zu bringen. Besteht die Partei aus einer bloßen, von den Massen der gewöhnlichen Mitglieder isolierten Funktionärshierarchie, deren Handlungen gegenüber jenen im Alltag nur eine Zuschauerrolle zukommt, ist das Handeln der Partei als Ganzes nur ein gelegentliches, so entsteht in den Mitgliedern eine gewisse, aus blindem Vertrauen und Apathie gemischte Gleichgültigkeit den Alltagshandlungen der Partei gegenüber. Ihre Kritik kann bestenfalls eine Kritik post festum (auf Kongressen usw.) sein, die selten einen bestimmenden Einfluß auf die wirkliche Richtung der Handlungen in der Zukunft ausübt. Dagegen ist die tätige Teilnahme aller Mitglieder an dem Alltagsleben der Partei, die Notwendigkeit, sich mit ihrer Gesamtpersönlichkeit für jede Aktion der Partei einzusetzen, das einzige Mittel, das einerseits die Parteileitung dazu zwingt, ihre Entschlüsse den Mitgliedern wirklich verständlich zu machen, sie von ihrer Richtigkeit zu überzeugen, da sie sie sonst unmöglich richtig durchführen könnten. (Je durchorganisierter die Partei ist, je wichtigere Funktionen auf jedes Mitglied – z.B. als Mitglied einer Gewerkschaftsfraktion usw. – gebürdet sind, desto stärker ist diese Notwendigkeit.) Andererseits müssen diese Auseinandersetzungen bereits vor der Aktion, aber auch während des Handelns gerade diese lebendige Wechselwirkung zwischen dem Willen der Gesamtpartei und dem der Zentrale herbeiführen; sie müssen modifizierend, korrigierend usw. auf den tatsächlichen Übergang vom Entschluß zur Tat einwirken. (Auch hier ist diese Wechselwirkung desto größer, je stärker die Zentralisation und die Disziplin gestaltet sind.) Je tiefer diese Tendenzen sich durchsetzen, desto stärker schwindet die aus der Struktur der bürgerlichen Parteien überbrachte, schroffe und übergangslose Gegenüberstellung von Führer und Masse; wobei der Wechsel der Funktionärshierarchie noch stärkend mitwirkt. Und die – vorläufig noch – unvermeidliche post festum Kritik verwandelt sich immer stärker in einen Austausch konkreter und allgemeiner, taktischer und organisatorischer Erfahrungen, die dann auch immer stärker auf die Zukunft gerichtet sind. Die Freiheit ist eben – wie das schon die klassische deutsche Philosophie erkannt hat etwas Praktisches, eine Tätigkeit. Und nur indem die kommunistische Partei zu einer Welt der Tätigkeit für jedes ihrer Mitglieder wird, kann sie die Zuschauerrolle des bürgerlichen Menschen der Notwendigkeit des unbegriffenen Geschehens gegenüber und ihre ideologische Form, die formelle Freiheit der bürgerlichen Demokratie wirklich überwinden. Die Trennung der Rechte von den Pflichten ist nur bei der Trennung der aktiven Führer von der passiven Masse, bei dem stellvertretenden Handeln der Führer für die Masse, also bei einer fatalistisch-kontemplativen Handlung der Masse möglich. Die wahre Demokratie, die Aufhebung der Trennung der Rechte von den Pflichten ist aber keine formelle Freiheit, sondern eine innigst verknüpfte, solidarische Tätigkeit der Glieder eines Gesamtwillens.

Die viel verlästerte und verleumdete Frage der „Säuberung“ der Partei ist nur die negative Seite desselben Problems. Auch hier – wie in allen Fragen – mußte der Weg von der Utopie zur Wirklichkeit zurückgelegt werden. So hat sich z.B. die Forderung der 21 Bedingungen des II. Kongresses, daß jede legale Partei von Zeit zu Zeit solche Säuberungen vorzunehmen habe, als eine utopische Forderung, die mit der Entwicklungsphase der entstehenden Massenparteien des Westens unvereinbar ist, erwiesen. (Der III. Kongreß hat sich auch über diese Frage viel zurückhaltender geäußert.) Ihre Aufstellung war aber trotzdem kein „Fehler“ Denn sie bezeichnet klar und scharf die Richtung, die die innere Entwicklung der kommunistischen Partei einschlagen muß, wenn auch die geschichtlichen Umstände die Form der Durchführung dieses Prinzips bestimmen werden. Gerade weil die Organisationsfrage die tiefste und geistigste Frage der revolutionären Entwicklung ist, ist das Hineintragen solcher Probleme ins Bewußtsein der revolutionären Vorhut, selbst wenn sie momentan praktisch nicht zu verwirklichen sind, unbedingt notwendig gewesen. Die Entwicklung der russischen Partei zeigt aber in großartiger Form die praktische Bedeutung dieser Frage; u.z. wie dies abermals aus der unzertrennbaren Einheit von Taktik und Organisation folgt, nicht nur für das innere Leben der Partei selbst, sondern auch für ihre Beziehung zu den breiten Massen aller Werktätigen. Die Reinigung der Partei ist in Rußland je nach den verschiedenen Etappen der Entwicklung in sehr verschiedenen Weisen erfolgt. Bei der letzten, die im Herbst vorigen Jahres durchgeführt wurde, wurde vielfach das äußerst interessante und bedeutsame Prinzip eingeführt, daß die Erfahrungen und Urteile der parteilosen Arbeiter und Bauern verwertet wurden, daß diese Massen zu der Arbeit der Reinigung der Partei herangezogen worden sind. Nicht als ob die Partei nunmehr jedes Urteil dieser Massen blindlings angenommen hätte, aber doch soweit, daß ihre Anregungen und Ablehnungen bei dem Ausscheiden der korrupten, der verbureaukratisierten, von den Massen entfremdeten und revolutionär unzuverlässigen Elementen weitgehende Berücksichtigung fanden. [7]

So zeigt auf entwickelter Stufe der kommunistischen Partei diese intimste innere Parteiangelegenheit die intimste Beziehung zwischen Partei und Klasse. Sie zeigt, wie sehr die scharfe, organisatorische Trennung der bewußten Vorhut von den breiten Massen nur ein Moment des einheitlichen, aber dialektischen Entwicklungsprozesses der ganzen Klasse, der Entwicklung ihres Bewußtseins ist. Sie zeigt aber zugleich, daß dieser Prozeß, je klarer und energischer er die Notwendigkeiten des Augenblicks mit ihrer geschichtlichen Bedeutung vermittelt, desto klarer und energischer das einzelne Parteimitglied in seiner Tätigkeit als Einzelnen erfaßt, benützt, zur Entfaltung bringt und beurteilt. So wie die Partei als Ganzes die verdinglichten Trennungen nach Nationen, Berufen usw., nach Erscheinungsformen des Lebens (Wirtschaft und Politik) durch ihr auf revolutionäre Einheit und Zusammenfassung gerichtetes Handeln aufhebt, um die wahre Einheit der proletarischen Klasse herzustellen, so zerreißt sie für ihr einzelnes Mitglied, gerade durch ihre straff zusammenfassende Organisation, durch die aus ihr folgende eiserne Disziplin, durch die Forderung des Einsatzes der Gesamtpersönlichkeit die verdinglichten Hüllen, die in der kapitalistischen Gesellschaft das Bewußtsein des Einzelnen umnebeln. Daß dies ein langwieriger Prozeß ist, daß wir erst an seinem Anfang stehen, kann und darf uns nicht daran verhindern, bestrebt zu sein: das Prinzip, das hier in Erscheinung tritt, das nahende „Reich der Freiheit“ als Forderung für den klassenbewußten Arbeiter in der heute möglichen Klarheit zu erkennen. Gerade weil das Entstehen der kommunistischen Partei nur das bewußt getane Werk der klassenbewußten Arbeiter sein kann, ist hier jeder Schritt in der Richtung auf richtige Erkenntnis zugleich ein Schritt der Verwirklichung entgegen.

September 1922

 

 

Fußnoten

1. „Auf die Politik und die Parteien ist – mit entsprechenden Änderungen – das anwendbar, was sich auf einzelne Personen bezieht. Klug ist nicht derjenige, der keine Fehler macht, solche Menschen gibt es nicht und kann es keine geben. Klug ist derjenige, der nicht besonders wesentliche Fehler macht und der sie schnell und leicht zu korrigieren versteht.“ Lenin, Der Radikalismus etc., S.17.

2. Ebd., S.80.

3. Schon die Akkumulationsdebatten bewegen sich um diesen Punkt. Noch schärfer die Auseinandersetzung über Krieg und Imperialismus. Vgl. Sinowjew gegen Kautsky: Gegen den Strom, S.321. Besonders scharf in der Rede von Lenin am 11. Kongreß über Staatskapitalismus: „Ein staatlicher Kapitalismus, in der Form, in der wir sie haben, wird von keiner Theorie und in keiner Literatur analysiert aus dem einfachen Grund, weil alle gebräuchlichen, mit diesen Worten verbundenen Vorstellungen der bürgerlichen Regierung und der kapitalistischen Gesellschaftsordnung angepaßt sind. Wir aber besitzen einer Gesellschaftsordnung, die das Geleise des Kapitalismus verlassen hat und noch auf kein neues Geleise gekommen ist, denn diesen Staat lenkt nicht die Bourgeoisie, sondern das Proletariat. Und von uns hängt es ab, von der kommunistischen Partei und der Arbeiterklasse hängt es ab, welcher Art dieser staatliche Kapitalismus sein wird.“

4. Vgl. darüber den Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewußtsein des Proletariats.

5. Man lese darüber den sehr interessanten Abschnitt über Parteipresse in den Organisationsthesen des III. Kongresses nach. Im Punkt 48 ist diese Forderung ganz klar ausgesprochen. Aber die ganze Organisationstechnik, z.B. Beziehung der Parlamentsfraktion zum ZK, die Abwechslung von legaler und illegaler Arbeit usw. ist auf dieses Prinzip aufgebaut.

6. Vgl. darüber die Rede Lenins am allrussischen Metallarbeiterkongreß. 6.3.1922, sowie am 11. Kongreß der KPR über die parteiorganisatorischen Folgen der neuen Wirtschaftspolitik.

7. Vgl. Lenin Artikel: Prawda, 2.9.1921. Daß diese organisatorische Maßnahme zugleich eine glänzende taktische Maßnahme zur Hebung der Autorität der kommunistischen Partei, zur Befestigung ihrer Beziehung zu den werktätigen Massen ist, wird ohne weitere Erörterung einleuchten.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003