Georg Lukács

 

Lenin

 

V. Der Staat als Waffe

Das revolutionäre Wesen einer Epoche äußert sich am sichtbarsten darin, daß der Kampf der Klassen und Parteien nicht mehr den Charakter eines Kampfes innerhalb einer bestimmten Staatsordnung besitzt, sondern ihre Grenzen zu sprengen beginnt, über ihre Grenzen hinausweist. Einerseits erscheint er als Kampf um die Staatsmacht, anderseits und zugleich wird der Staat selbst – offenkundig – zum Teilnehmer des Kampfes gemacht. Es wird nicht nur gegen den Staat gekämpft, sondern der Staat selbst enthüllt seinen Charakter als Waffe des Klassenkampfes, als eines der wichtigsten Instrumente für die Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft.

Dieser Charakter des Staates ist von Marx und Engels stets erkannt und in allen seinen Beziehungen zur geschichtlichen Entwicklung, zur proletarischen Revolution untersucht worden. Marx und Engels haben in ganz unmißverstehbarer Weise die theoretischen Grundlagen einer Staatstheorie im Rahmen des historischen Materialismus niedergelegt. Der Opportunismus hat sich aber gerade hier – konsequenterweise – am weitesten von Marx und Engels entfernt. Denn auf jedem anderen Punkt war es möglich, entweder die „Revision“ von einzelnen ökonomischen Theorien so darzustellen, als ob ihre Grundlage mit dem Wesen der Methode von Marx doch übereinstimmen würde (Richtung Bernstein), oder den „orthodox“ festgehaltenen ökonomischen Lehren eine mechanistisch-fatalistische, eine undialektisch-unrevolutionäre Wendung zu geben (Richtung Kautsky). Aber das bloße Aufwerfen jener Probleme, die Marx und Engels als Grundfragen ihrer Staatstheorie betrachtet haben, bedeutet schon das Anerkennen der Aktualität der proletarischen Revolution. Der Opportunismus aller in der II. Internationale herrschenden Tendenzen offenbart sich am deutlichsten darin, daß keine sich ernsthaft mit dem Problem des Staates befaßt hat; hier – am entscheidenden Punkte – ist zwischen Kautsky und Bernstein kein Unterschied. Sie haben alle, ausnahmslos, den Staat der bürgerlichen Gesellschaft einfach hingenommen. Und wenn sie ihn kritisiert haben, so sollten dadurch bloß einzelne, für das Proletariat schädliche Erscheinungsformen, Äußerungsweisen des Staates bekämpft werden. Der Staat wurde ausschließlich vom Standpunkt partikularer Tagesinteressen betrachtet, niemals aber wurde sein Wesen vom Standpunkt der Gesamtklasse des Proletariats untersucht und bewertet. Und die revolutionäre Unreife und Unklarheit des linken Flügels der II. Internationale zeigt sich ebenfalls darin, daß auch er außerstande war, das Problem des Staates klarzustellen. Er kam zuweilen bis zum Problem der Revolution, bis zum Problem des Kampfes gegen den Staat, ohne aber imstande zu sein, die Frage – selbst rein theoretisch – konkret zu stellen, geschweige denn ihre konkreten Folgen in der aktuellen geschichtlichen Wirklichkeit praktisch aufzuweisen.

Auch hier ist Lenin der einzige gewesen, der die theoretische Höhe der Marxschen Auffassung, die Reinheit der proletarisch-revolutionären Stellungnahme zum Problem des Staates wieder erreicht hat. Und wenn seine Leistung nur hierin bestünde, so wäre sie schon eine theoretische Leistung von hohem Range. Aber diese Wiederherstellung der Marxschen Staatstheorie ist bei Lenin weder eine philologische Wiederherstellung der ursprünglichen Lehre noch eine philosophische Systematisation ihrer echten Prinzipien, sondern – wie überall – ihre Weiterführung ins Konkrete, ihre Konkretisierung ins Aktuell-Praktische. Lenin hat die Staatsfrage als Tagesfrage des kämpfenden Proletariats erkannt und dargestellt. Er hat schon damit – um vorerst bei der Bedeutung dieser bloßen Fragestellung zu bleiben – den Weg zur entscheidenden Konkretisierung der Frage beschritten. Denn die objektive Möglichkeit für die opportunistische Verschleierung der sonnenklaren Staatstheorie des historischen Materialismus lag darin, daß diese Theorie vor Lenin nur als allgemeine Theorie, als geschichtliche, ökonomische, philosophische usw. Erklärung des Wesens des Staates aufgefaßt wurde. Wohl haben Marx und Engels an den konkreten revolutionären Erscheinungen ihrer Zeit den realen Fortschritt des proletarischen Staatsgedankens abgelesen (Kommune); wohl haben sie scharf auf jene Fehler hingewiesen, die die falschen Staatstheorien für die Führung des proletarischen Klassenkampfes bedeuten (Kritik des Gothaer Programmes). Jedoch selbst ihre unmittelbarsten Schüler, die besten Führer dieser Zeit haben den Zusammenhang des Staatsproblems mit ihrer Tagesarbeit nicht erfaßt. Dazu war eben damals das theoretische Genie von Marx und Engels nötig, um das bloß im weltgeschichtlichen Sinne Aktuelle in diesem Zusammenhang mit den kleinen Kämpfen des Alltags zu sehen. Und das Proletariat war selbstredend noch weniger imstande, dieses Kernproblem mit den ihm unmittelbar erscheinenden Problemen seiner Tageskämpfe organisch zu verknüpfen. Das Problem erhielt immer mehr den Akzent einer „Endzielfrage“, deren Entscheidung der Zukunft vorbehalten bleiben darf.

Erst durch Lenin ist die „Zukunft“ auch theoretisch zur Gegenwart geworden. Aber erst wenn die Staatsfrage als Tagesproblem erkannt wird, wird es dem Proletariate möglich, den kapitalistischen Staat in konkreter Weise nicht mehr als seine unabänderliche natürliche Umwelt, als die für sein gegenwärtiges Dasein einzig mögliche Ordnung der Gesellschaft zu betrachten. Erst diese Stellungnahme zum bürgerlichen Staat gibt dem Proletariat die theoretische Unbefangenheit dem Staat gegenüber, macht sein Verhalten ihm gegenüber zu einer rein taktischen Frage. Es ist zum Beispiel ohne weiters einleuchtend, daß sowohl hinter der Taktik einer Legalität um jeden Preis wie hinter der einer Romantik der Illegalität derselbe Mangel an theoretischer Unbefangenheit dem bürgerlichen Staate gegenüber verborgen ist. Der bürgerliche Staat wird nicht als Instrument des Klassenkampfes der Bourgeoisie betrachtet, mit dem als mit einem realen Machtfaktor, aber nur als mit einem realen Machtfaktor zu rechnen ist; dessen Respektieren zu einer Frage der bloßen Zweckmäßigkeit herabsinkt.

Aber die Leninsche Analyse des Staates als Waffe des Klassenkampfes konkretisiert die Frage noch viel weiter. Es werden nämlich nicht nur die unmittelbar praktischen (taktischen, ideologischen usw.) Konsequenzen der richtigen geschichtlichen Erkenntnis des bürgerlichen Staates herausgearbeitet, sondern die Umrisse des proletarischen Staates erscheinen zugleich konkret und mit den anderen Kampfmitteln des Proletariats organisch verbunden. Die traditionelle Arbeitsteilung der Arbeiterbewegung (Partei, Gewerkschaft, Genossenschaft) erweist sich heute als unzureichend für den revolutionären Kampf des Proletariats. Es erscheint als notwendig, daß Organe entstehen, die imstande sind, das ganze Proletariat und darüber hinaus alle Ausgebeuteten der kapitalistischen Gesellschaft (Bauern, Soldaten) in ihren großen Massen zu erfassen und in den Kampf zu führen. Diese Organe, die Sowjets, sind jedoch ihrem Wesen nach – bereits innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft – Organe des sich zur Klasse organisierenden Proletariats. Damit ist aber die Revolution auf die Tagesordnung gestellt. Denn wie Marx sagt: „Die Organisation der revolutionären Elemente als Klasse setzt die fertige Existenz aller Produktionskräfte voraus, die sich überhaupt im Schoß der alten Gesellschaft entfalten konnten.“

Diese Organisation der Gesamtklasse muß – ob sie es will oder nicht – den Kampf gegen den Staatsapparat der Bourgeoisie aufnehmen. Hier gibt es keine Wahl: entweder desorganisieren die proletarischen Räte den bürgerlichen Staatsapparat, oder es gelingt diesem, die Räte zu einem Scheindasein zu korrumpieren und sie damit absterben zu lassen. Es entsteht eine Lage, in der entweder die Bourgeoisie ein konterrevolutionäres Unterdrücken der revolutionären Massenbewegung zustande bringt und die „normalen“ Zustände, die „Ordnung“ wiederherstellt, oder aber aus den Räten, den Kampforganisationen des Proletariats seine Herrrschaftsorganisation, sein Staatsapparat, der ja ebenfalls eine Klassenkampforganisation ist, entsteht. Die Arbeiterräte zeigen selbst in ihren allerersten, unentwickeltsten Formen schon 1905 diesen Charakter: sie sind eine Gegenregierung. Während sich andere Organe des Klassenkampfes auch an eine Zeit der unbestrittenen Herrschaft der Bourgeoisie taktisch anpassen, das heißt, unter diesen Umständen revolutionär arbeiten können, gehört es zum Wesen des Arbeiterrates, zu der Staatsmacht der Bourgeoisie im Verhältnis einer mit ihr konkurrierenden Doppelregierung zu stehen. Wenn also etwa Martow die Räte als Kampforgane anerkennt, jedoch ihre Eignung, Staatsapparat zu werden, leugnet, so hat er gerade die Revolution, die reale Machtergreifung des Proletariats aus der Theorie entfernt. Wenn dagegen einzelne extrem-linke Theoretiker aus dem Arbeiterrat eine permanente Klassenorganisation des Proletariats machen und durch sie Partei und Gewerkschaft ersetzen wollen, so zeigen sie, daß sie den Unterschied von revolutionären und nichtrevolutionären Situationen nicht begreifen und daß sie mit der eigentlichen Funktion der Arbeiterräte nicht im klaren sind. Nicht wissen, daß zwar die bloße Erkenntnis der konkreten Möglichkeit von Arbeiterräten über die bürgerliche Gesellschaft hinausweist, eine Perspektive der proletarischen Revolution ist (daß der Arbeiterrat deshalb im Proletariate ununterbrochen propagiert, das Proletariat auf diese Aufgabe ununterbrochen vorbereitet werden muß), daß aber ihr wirkliches Dasein – wenn es keine Farce sein soll – bereits den ernsten Kampf um die Staatsmacht, den Bürgerkrieg bedeutet.

Der Arbeiterrat als Staatsapparat: das ist der Staat als Waffe im Klassenkampf des Proletariats. Die undialektische und darum unhistorische und unrevolutionäre Auffassung des Opportunismus hat aus der Tatsache, daß das Proletariat die Klassenherrschaft der Bourgeoisie bekämpft, daß es eine klassenlose Gesellschaft herbeizuführen bestrebt ist, die Folgerung gezogen, daß das Proletariat, als Bekämpfer der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, Bekämpfer einer jeden Klassenherrschaft sein müsse; daß deshalb seine eigenen Herrschaftsformen unter keinen Umständen Organe der Klassenherrschaft, der Klassenunterdrückung sein dürfen. Diese Grundanschauung ist abstrakt angesehen eine Utopie, denn eine derartige Herrschaft des Proletariats kann niemals real eintreten. Sie erweist sich aber, sobald sie konkreter gefaßt und auf die Gegenwart angewendet wird, als ideologische Kapitulation vor der Bourgeoisie. Die entwickeltste Herrschaftsform der Bourgeoisie, die Demokratie erscheint für diese Auffassung zumindest als eine Vorform einer proletarischen Demokratie, zumeist jedoch als diese Demokratie selbst, in der bloß – durch friedliche Agitation – dafür gesorgt werden muß, daß die Mehrheit der Bevölkerung für die „Ideale“ der Sozialdemokratie gewonnen werde. Der Übergang aus der bürgerlichen Demokratie in die proletarische Demokratie ist also nicht notwendig revolutionär. Revolutionär ist bloß der Übergang aus rückständigen Staatsformen in die Demokratie; unter Umständen ist eine revolutionäre Verteidigung der Demokratie gegen die soziale Reaktion notwendig. (Wie unrichtig und konterrevolutionär diese mechanische Trennung der proletarischen Revolution von der bürgerlichen ist, zeigt sich praktisch darin, daß die Sozialdemokratie nirgends einer faschistischen Reaktion ernsthaften Widerstand geleistet und die Demokratie revolutionär verteidigt hat.)

Infolge dieser Anschauung wird aber nicht bloß die Revolution aus der geschichtlichen Entwicklung entfernt und diese durch allerhand plump oder fein konstruierte Übergänge als ein „Hineinwachsen“ in den Sozialismus dargestellt, sondern es muß auch der bürgerliche Klassencharakter der Demokratie für das Proletariat verdunkelt werden. Das Moment der Täuschung liegt in dem undialektisch gefaßten Begriff der Mehrheit. Da nämlich die Herrschaft der Arbeiterklasse ihrem Wesen nach die Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung vertritt, entsteht in vielen Arbeitern sehr leicht die Illusion, als ob eine reine, formale Demokratie, in der die Stimme eines jeden Staatsbürgers in gleicher Weise zur Geltung kommt, das geeignetste Instrument wäre, die Interessen der Gesamtheit auszudrücken und zu vertreten. Hierbei wird aber bloß – bloß! – die Kleinigkeit außer acht gelassen, daß die Menschen eben nicht abstrakte Individuen, abstrakte Staatsbürger, isolierte Atome eines Staatsganzen sind, sondern ohne Ausnahme konkrete Menschen, die einen bestimmten Platz in der gesellschaftlichen Produktion einnehmen, deren gesellschaftliches Sein (und dadurch vermittelt ihr Denken usw.) von dieser Stellung aus bestimmt ist. Die reine Demokratie der bürgerlichen Gesellschaft schaltet nun diese Vermittlung aus: sie verbindet unmittelbar das bloße, das abstrakte Individuum mit dem – in diesem Zusammenhang ebenso abstrakt erscheinenden – Staatsganzen. Schon durch diesen formalen Grundcharakter der reinen Demokratie wird die bürgerliche Gesellschaft politisch pulverisiert. Was nicht einen bloßen Vorteil für die Bourgeoisie bedeutet, sondern geradezu die entscheidende Voraussetzung ihrer Klassenherrschaft ist.

Denn so sehr eine jede Klassenherrschaft letzten Endes auf Gewalt aufgebaut ist, so gibt es doch keine Klassenherrschaft, die sich auf die Dauer durch bloße Gewalt zu halten vermöchte. „Man kann“, hat schon Talleyrand gesagt, „mit den Bajonetten alles mögliche anfangen, nur kann man sich nicht auf sie setzen.“ Jede Minderheitsherrschaft ist also sozial in einer Weise organisiert, die die herrschende Klasse konzentriert und zum einheitlich-geschlossenen Auftreten tauglich macht und zugleich die unterdrückten Klassen desorganisiert und zersplittert. Bei der Minderheitsherrschaft der modernen Bourgeoisie muß nun stets vor Augen gehalten werden, daß die große Mehrheit der Bevölkerung zu keiner der im Klassenkampf ausschlaggebenden Klassen, weder zum Proletariat noch zur Bourgeoisie gehört; daß mithin die reine Demokratie die soziale, klassenmäßige Funktion hat, der Bourgeoisie die Führung dieser Zwischenschichten zu sichern. (Dazu gehört selbstredend auch die ideologische Desorganisation des Proletariats. je älter die Demokratie in einem Lande ist, je reiner sie sich entwickelt hat, desto größer ist diese ideologische Desorganisation; wie man dies in England und Amerika am deutlichsten sehen kann.) Freilich würde eine solche politische Demokratie allein für diesen Zweck keineswegs ausreichen. Sie ist aber auch nur der politische Gipfelpunkt eines gesellschaftlichen Systems, dessen andere Glieder: die ideologische Trennung von Wirtschaft und Politik, die Schaffung eines bureaukratischen Staatsapparats, der große Teile des Kleinbürgertums an dem Bestand des Staates materiell und moralisch interessiert macht, das bürgerliche Parteiwesen, Presse, Schule, Religion usw. sind. Sie alle verfolgen – in einer mehr oder minder bewußten Arbeitsteilung – den Zweck: das Entstehen einer selbständigen, die eigenen Klasseninteressen aussprechenden Ideologie in den unterdrückten Klassen der Bevölkerung zu verhindern; die einzelnen „Staatsbürger“ usw. mit dem abstrakten – über den Klassen thronenden – Staate in Verbindung zu setzen; diese Klassen als Klassen zu desorganisieren, in von der Bourgeoisie leicht lenkbare Atome zu pulverisieren.

Die Erkenntnis, daß die Räte (die Räte der Arbeiter und der Bauern und der Soldaten) die Staatsmacht des Proletariats sind, bedeutet den Versuch des Proletariats als der führenden Klasse der Revolution, diesem Desorganisationsprozeß entgegen zu arbeiten. Es muß vorerst sich selbst als Klasse konstituieren. Es will aber daneben die aktiven, sich gegen die Herrschaft der Bourgeoisie instinktiv auflehnenden Elemente der Zwischenschichten ebenfalls zur Aktivität organisieren. Zugleich aber soll für die anderen Teile dieser Klassen der Einfluß der Bourgeoisie materiell wie ideologisch gebrochen werden. Klügere Opportunisten, wie zum Beispiel Otto Bauer, haben auch erkannt, daß der soziale Sinn der Diktatur des Proletariats, der Diktatur der Räte zum großen Teil darin liegt: der Bourgeoisie die Möglichkeit einer ideologischen Führung dieser Klassen, speziell der Bauern, radikal zu entreißen und diese Führung für die Übergangszeit dem Proletariate zu sichern. Die Unterdrückung der Bourgeoisie, das Zerschlagen ihres Staatsapparates, das Vernichten ihrer Presse usw. ist eine Lebensnotwendigkeit für die proletarische Revolution, weil die Bourgeoisie nach ihren ersten Niederlagen im Kampfe um die Staatsmacht keineswegs auf das Wiedererlangen ihrer ökonomisch wie politisch führenden Rolle verzichtet und sogar in dem so unter veränderten Bedingungen weitergeführten Klassenkampfe noch lange Zeit die mächtigere Klasse bleibt.

Das Proletariat setzt also mit Hilfe des Rätesystems als Staat denselben Kampf fort, den es früher um die Staatsmacht, gegen die kapitalistische Staatsmacht geführt hat. Es muß die Bourgeoisie ökonomisch vernichten, politisch isolieren, ideologisch zersetzen und unterwerfen. Es muß aber gleichzeitig allen anderen Schichten der Gesellschaft, die das Proletariat aus dem Geführtsein von der Bourgeoisie herausreißt, ein Führer zur Freiheit werden. Das heißt, es genügt nicht, daß das Proletariat objektiv ihr die Interessen der anderen ausgebeuteten Schichten kämpfe. Seine Staatsform muß auch dazu dienen, um die Dumpfheit und Zersplitterung dieser Schichten erzieherisch zu überwinden, sie zur Aktivität, zur selbständigen Teilnahme am Staatsleben zu erziehen. Es ist eine der vornehmsten Funktionen des Rätesystems, jene Momente des gesellschaftlichen Lebens, die der Kapitalismus zerreißt, zu verbinden. Dort, wo dieses Zerreißen bloß im Bewußtsein der unterdrückten Klassen liegt, muß ihnen die Verbundenheit dieser Momente bewußt gemacht werden. Das Rätesystem bildet zum Beispiel stets eine untrennbare Einheit von Wirtschaft und Politik; es verknüpft auf diese Weise das unmittelbare Dasein der Menschen, ihre unmittelbaren Tagesinteressen usw. mit den entscheidenden Fragen der Gesamtheit. Es stellt aber auch in der objektiven Wirklichkeit die Einheit dort her, wo die Klasseninteressen der Bourgeoisie eine „Arbeitsteilung“ zustande gebracht haben. So vor allem die Einheit zwischen „Machtapparat“ (Armee, Polizei, Verwaltung, Gericht usw.) und „Volk“. Die bewaffneten Bauern und Arbeiter als Staatsmacht sind zugleich Produkte des Kampfes der Räte und Voraussetzung ihrer Existenz. Das Rätesystem versucht eben überall die Aktivität der Menschen mit den allgemeinen Fragen des Staates, der Wirtschaft, der Kultur usw. zu verknüpfen, indem es dagegen ankämpft, daß die Verwaltung all dieser Fragen das Privileg einer geschlossenen, vom Gesamtleben der Gesellschaft isolierten – bureaukratischen – Schicht werde. Indem das Rätesystem, der proletarische Staat auf diese Weise den realen Zusammenhang aller Momente des gesellschaftlichen Lebens für die Gesellschaft bewußt macht (und in einem späteren Stadium: auch heute objektiv Getrenntes – zum Beispiel Stadt und Land, geistige und physische Arbeit usw. – objektiv vereinigt), ist es ein entscheidender Faktor in der Organisation des Proletariats zur Klasse. Das, was im Proletariate in der kapitalistischen Gesellschaft nur als Möglichkeit vorhanden war, erwächst erst hier zur wirklichen Existenz; die eigentliche produktive Energie des Proletariats kann erst nach dem Ergreifen der Staatsmacht erwachen. Was aber für das Proletariat gilt, gilt auch für die anderen unterdrückten Schichten der bürgerlichen Gesellschaft. Auch sie können sich erst in diesem Zusammenhang zum Leben entwickeln, nur daß sie auch in dieser Staatsordnung Geführte bleiben. Freilich bestand ihr Geführtsein im Kapitalismus darin, daß sie ihrer eigenen ökonomisch-sozialen Zersetzung, Ausbeutung und Unterdrückung nicht bewußt zu werden vermochten. Dagegen können sie jetzt – unter Führung des Proletariats nicht nur ihren eigenen Interessen gemäß leben, sondern auch zur Entfaltung ihrer bis dahin verborgenen oder verkrüppelten Energien gelangen. Ihr Geführtsein äußert sich bloß darin, daß der Rahmen und die Richtung dieser Entwicklung vom Proletariat, als der führenden Klasse der Revolution, bestimmt wird.

Das Geführtsein der nicht proletarischen Zwischenschichten unterscheidet sich also im proletarischen Staate materiell sehr wesentlich von ihrem Geführtsein in der bürgerlichen Gesellschaft. Daneben besteht aber noch ein nicht unwesentlicher formaler Unterschied: der proletarische Staat ist der erste Klassenstaat in der Geschichte, der sich ganz offen und ungeheuchelt als Klassenstaat, als Unterdrückungsapparat, als Instrument des Klassenkampfes bekennt. Diese rückhaltlose Offenheit, dieser Mangel an Heuchelei macht erst die wirkliche Verständigung zwischen Proletariat und anderen Schichten der Gesellschaft möglich. Es ist aber noch darüber hinaus ein ungeheuer wichtiges Mittel der Selbsterziehung für das Proletariat. Denn so unendlich wichtig es gewesen ist, im Proletariate das Bewußtsein zu erwecken, daß die Phase der entscheidenden revolutionären Kämpfe da ist, daß der Kampf um die Staatsmacht, um die Führung der Gesellschaft bereits entbrannt ist, so gefährlich wäre es, diese Wahrheit undialektisch erstarren zu lassen. Es wäre also sehr gefährlich, wenn das Proletariat, indem es sich aus der Ideologie des Klassenkampfpazifismus befreit, indem es die geschichtliche Bedeutung, die Unerläßlichkeit der Gewalt begreift, sich nun einbilden würde: sämtliche Probleme der Herrschaft des Proletariats ließen sich unter allen Umständen mit Gewalt erledigen. Aber noch gefährlicher wäre es, wenn etwa die Vorstellung im Proletariate aufkäme, daß mit der Eroberung der Staatsmacht der Klassenkampf zu Ende geführt oder wenigstens zu einem Stillstand gekommen sei. Das Proletariat muß begreifen, daß die Eroberung der Staatsmacht nur eine Phase in diesem Kampfe ist. Der Kampf nach der Eroberung der Staatsmacht wird nur noch heftiger, und man kann keineswegs behaupten, daß die Kräfteverhältnisse sich sogleich und entscheidend zugunsten des Proletariats verschoben hätten. Lenin wiederholt unermüdlich, daß die Bourgeoisie auch im Anfang der Räterepublik, auch nach ihrer ökonomischen Expropriation, auch während ihrer politischen Unterdrückung noch immer die mächtigere Klasse bleibt. Aber die Kräfteverhältnisse haben sich insofern verschoben, als das Proletariat eine neue, mächtige Waffe für seinen Klassenkampf erobert hat: den Staat. Freilich: der Wert dieser Waffe, ihre Fähigkeit, die Bourgeoisie zu zersetzen, zu isolieren, zu vernichten, die anderen Schichten der Gesellschaft zur Mitarbeit am Staate der Arbeiter und Bauern zu gewinnen und zu erziehen, das Proletariat selbst wirklich zur führenden Klasse zu organisieren, ist mit der bloßen Eroberung keineswegs automatisch gegeben, noch entwickelt sich der Staat als Kampfmittel zwangsläufig aus dem bloßen Faktum der Eroberung der Staatsmacht. Der Wert des Staates als Waffe für das Proletariat hängt davon ab, was das Proletariat aus ihm zu machen imstande sein wird.

Die Aktualität der Revolution drückt sich in der Aktualität des Staatsproblems für das Proletariat aus. Damit ist aber zugleich das Problem des Sozialismus selbst aus der Ferne eines bloßen Endzieles in die Nähe einer unmittelbaren Tagesfrage vor das Proletariat gestellt. Diese greifbare Nähe der Verwirklichung des Sozialismus ist aber wiederum ein dialektisches Verhältnis, und es könnte für das Proletariat verhängnisvoll werden, wenn es – in mechanistisch-utopistischer Weise – diese Nähe des Sozialismus als sein Realisiertsein durch die bloße Machtergreifung (Expropriation der Kapitalisten, Sozialisierung usw.) auffassen würde. Marx hat den Übergang vom Kapitalismus in den Sozialismus in der scharfsinnigsten Weise analysiert und auf die vielfachen bürgerlichen Strukturformen hingewiesen, die nur im Laufe einer langwierigen Entwicklung langsam ausgemerzt werden können. Lenin zieht auch hier die Trennungslinie vom Utopismus so scharf wie möglich. „Kein Kommunist hat“, sagt er, „glaube ich, ferner bestritten, daß der Ausdruck „sozialistische Räterepublik“ die Entschlossenheit der Rätemacht bedeutet, den Übergang zum Sozialismus zu verwirklichen und nicht etwa eine Anerkennung der gegebenen Wirtschaftsverhältnisse als sozialistisch.“ Die Aktualität der Revolution bedeutet also allerdings den Sozialismus als Tagesfrage für die Arbeiterbewegung. Jedoch nur in dem Sinne, daß nun Tag für Tag um das Herbeischaffen seiner Voraussetzungen gekämpft werden muß; daß einige der konkreten Maßregeln des Tages bereits konkrete Schritte zu seiner Verwirklichung bedeuten.

Der Opportunismus enthüllt nun gerade an diesem Punkte, in seiner Kritik der Beziehung von Sowjet und Sozialismus, daß er endgültig ins Lager der Bourgeoisie übergegangen, daß er ein Klassenfeind des Proletariats geworden ist. Denn einerseits betrachtet er alle Scheinkonzessionen, die eine momentan erschrockene oder desorganisierte Bourgeoisie dem Proletariate – auf Widerruf – gibt, als wirkliche Schritte zum Sozialismus. (Man denke an die längst liquidierten „Sozialisierungskommissionen“ von 1918-1919 in Deutschland und Österreich.) Anderseits verhöhnt er die Räterepublik, weil sie den Sozialismus nicht sofort wirklich ins Leben ruft, weil sie unter proletarischen Formen, unter proletarischer Führung nur eine bürgerliche Revolution macht. („Rußland als Bauernrepublik“, „Wiedereinführung des Kapitalismus“ usw.) In beiden Fällen zeigt es sich, daß für den Opportunismus aller Schattierungen der eigentliche Feind, der wirklich bekämpft werden soll: eben die proletarische Revolution selbst ist. Auch dies ist nichts anderes als seine konsequente Weiterentwicklung von der Stellungnahme zum imperialistischen Kriege an. Es ist aber ebenfalls nur die konsequente Weiterführung seiner Kritik des Opportunismus vor und während des Krieges, wenn Lenin in der Räterepublik die Opportunisten auch praktisch als Feinde der Arbeiterklasse behandelt hat. Zu der Bourgeoisie, deren geistiger und materieller Apparat zerstört, deren Gefüge durch die Diktatur desorganisiert werden soll, damit ihr Einfluß die – ihrer objektiven Klassenlage gemäß – schwankenden Schichten nicht ergreife, gehört auch der Opportunismus. Gerade die Aktualität des Sozialismus macht diesen Kampf viel schärfer, als er etwa zur Zeit der Bernstein-Debatten gewesen ist. Der Staat als Waffe des Proletariats zum Kampfe für den Sozialismus, zur Unterdrückung der Bourgeoisie ist zugleich seine Waffe zur Vertilgung der opportunistischen Gefahr für den Klassenkampf des Proletariats, der in der Diktatur in unverminderter Heftigkeit weitergeführt werden muß.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003