Rosa Luxemburg

 

Reden auf dem Stuttgarter Parteitag
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

(Oktober 1898)


Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Stuttgart, 3. bis 8. Oktober 1898, Berlin 1898, S. 99–100 u. 117–118.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 1. Hbd., S. 236–214.
Kopiert von der Webseite Sozialistische Klassiker, die leider nicht mehr on-line ist.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Reden in der Diskussion über Fragen der Taktik [1*]

3. Oktober 1898

Die Reden von Heine und anderen haben bewiesen, daß sich in unserer Partei ein äußerst wichtiger Punkt verdunkelt hat, nämlich das Verständnis von der Beziehung zwischen unserem Endziel und dem alltäglichen Kampfe. Da wird gesagt: das vom Endziel ist eine hübsche Stelle in unserem Programm, die gewiß nicht vergessen werden darf, aber in keiner unmittelbaren Beziehung zu unserem praktischen Kampfe steht. Vielleicht findet sich eine Anzahl Genossen, die so denken: eine Spekulation über das Endziel sei eigentlich eine Doktorfrage. Ich behaupte demgegenüber, daß für uns als revolutionäre, als proletarische Partei keine praktischere Frage existiert als die vom Endziel. Denn bedenken Sie: worin besteht eigentlich der sozialistische Charakter unserer ganzen Bewegung? Der eigentliche praktische Kampf zerfällt in drei Punkte: den gewerkschaftlichen Kampf, den Kampf um die Sozialreform und den Kampf um die Demokratisierung des kapitalistischen Staates. Sind diese drei Formen unseres Kampfes eigentlicher Sozialismus? Durchaus nicht. Zunächst die gewerkschaftliche Bewegung! Schauen Sie nach England, dort ist sie nicht nur nicht sozialistisch, sondern zum Teil ein Hindernis für den Sozialismus. Die Sozialreform wird vom Kathedersozialismus [2*], den Nationalsozialen [3*] und ähnlichen Leuten ebenfalls betont. Demokratisierung ist aber etwas spezifisch Bürgerliches. Die Demokratie hatte die Bourgeoisie schon vor uns auf ihre Fahne geschrieben. Was macht uns dann in unserem alltäglichen Kampfe zur sozialistischen Partei? Es ist nur die Beziehung dieser drei Formen des praktischen Kampfes zum Endziel. Nur das Endziel ist es, welches den Geist und den Inhalt unseres sozialistischen Kampfes ausmacht, ihn zum Klassenkampf macht. Und zwar müssen wir unter Endziel nicht verstehen, wie Heine gesagt hat, diese oder jene Vorstellung vom Zukunftsstaat, sondern das, was einer Zukunftsgesellschaft vorangehen muß, nämlich die Eroberung der politischen Macht. (Zuruf: „Dann sind wir ja einig!“) Diese Auffassung unserer Aufgabe steht im engsten Zusammenhang mit unserer Auffassung von der kapitalistischen Gesellschaft, dem festen Boden unserer Anschauung, daß die kapitalistische Gesellschaft sich in unlösbare Widersprüche verwickelt, die im Schlußresultat eine Explosion notwendig machen, einen Zusammenbruch, bei dem wir den Syndikus spielen werden, der die verkrachte Gesellschaft liquidieren wird. Aber wenn wir auf dem Standpunkt stehen, daß wir die Interessen des Proletariats zur vollen Geltung bringen können, dann wären solche Äußerungen unmöglich, wie sie in der letzten Zeit gefallen sind von Heine, daß wir auch Konzessionen auf dem Gebiete des Militarismus machen können [4*]; dann die Äußerung von Konrad Schmidt im Zentralorgan [5*] von der sozialistischen Majorität im bürgerlichen Parlament und namentlich Äußerungen wie von Bernstein [6*], daß, wenn wir einmal ans Ruder kommen, wir auch dann nicht imstande sind, den Kapitalismus zu entbehren. Als ich das las, sagte ich mir: welches Glück, daß 1871 die sozialistischen Arbeiter Frankreichs nicht so weise waren, denn dann hätten sie gesagt: Kinder, legen wir uns ins Bett, unsere Stunde hat noch nicht geschlagen, die Produktion ist nicht konzentriert genug, damit wir uns am Ruder erhalten können. Aber dann hätten wir statt des großartigen Schauspiels, des heroischen Kampfes, ein anderes Schauspiel erlebt, dann wären die Arbeiter nicht Heroen gewesen, sondern einfach alte Weiber. Ich glaube, daß die Erörterung darüber, ob wir, wenn wir zur Macht kommen, imstande sind, die Produktion zu einer gesellschaftlichen zu gestalten, ob sie schon dazu reif ist, daß das eine Doktorfrage ist. Für uns darf nie ein Zweifel sein, daß wir nach der Eroberung der politischen Macht streben müssen. Eine sozialistische Partei muß sich immer der Lage gewachsen zeigen, sie darf nie vor ihren eigenen Aufgaben zurückschrecken. Dann müssen unsere Ansichten über das, was unser Endziel ist, vollständig geklärt sein, wir werden es verwirklichen, trotz Sturm und Wind und Wetter. (Beifall.)
 

II.

Rede über das Verhältnis der trade-unionistischen zum politischen Kampf [7*]

4. Oktober 1898

Vollmar hat es mir zum bitteren Vorwurf gemacht, daß ich als junger Rekrut in der Bewegung die alten Veteranen belehren will. Das ist nicht der Fall. Es wäre überflüssig, weil ich der festen Überzeugung bin, daß die Veteranen auf demselben Boden stehen wie ich. Es kommt hier überhaupt nicht darauf an, irgend jemand zu belehren, sondern eine bestimmte Taktik zum klaren und unzweideutigen Ausdruck zu bringen. Daß ich noch meine Epauletten in der deutschen Bewegung erst holen muß, weiß ich; ich will es aber auf dem linken Flügel tun, wo man mit dem Feinde kämpfen, und nicht auf dem rechten, wo man mit dem Feinde kompromisseln will. (Widerspruch) Wenn aber Vollmar gegen meine sachlichen Ausführungen das Argument ins Feld führt: Du Gelbschnabel, ich könnte ja dein Großvater sein, so ist das für mich ein Beweis, daß er mit seinen logischen Gründen auf dem letzten Loche pfeift. (Lachen) Tatsächlich hat er im Laufe seiner Ausführungen eine Reihe Äußerungen getan, die im Munde eines Veteranen zumindest befremdend sind. Seinem niederschmetternden Ausspruch von Marx über den Arbeiterschutz halte ich den anderen Marxschen Ausspruch entgegen, daß die Einführung des Arbeiterschutzes in England geradezu die Rettung der bürgerlichen Gesellschaft selbst bedeutete. Vollmar sagte ferner, es sei falsch, die gewerkschaftliche Bewegung nicht als sozialistische zu behandeln und verwies auf die Trade-Unions. Ja, – hat denn Vollmar gar nichts von dem Unterschied zwischen dem alten und dem neuen Trade-Unionismus gehört? Weiß er nicht, daß die alten Trade-Unionisten ganz auf dem verstockten bürgerlichen Standpunkt stehen? Weiß er nicht, daß kein anderer als Engels es war, der die Hoffnung ausgesprochen hat, jetzt werde in England die sozialistische Bewegung vorwärtsschreiten, weil England auf dem Weltmarkt die Präponderanz verloren hat und im Zusammenhang damit die Trade-Union-Bewegung neue Bahnen betreten müsse. Den Blanquismus hat Vollmar als Schreckgespenst vorgeführt. Kennt er nicht den Unterschied zwischen Blanquismus und Sozialdemokratie? Weiß er nicht, daß bei den Blanquisten eine Handvoll von Emissären im Namen der Arbeiterklasse, bei der Sozialdemokratie die Arbeiterklasse selbst die politische Macht erobern soll. Das ist ein Unterschied, den man nicht vergessen darf, wenn man ein Veteran der sozialdemokratischen Bewegung ist. Drittens hat er mir die Unterschiebung gemacht, daß ich für Gewaltmittel schwärme. Ich habe weder in meinen Ausführungen, noch in meinen Artikeln gegen Bernstein in der Leipziger Volkszeitung [8*] den geringsten Anlaß dazu gegeben. Ich stehe gerade auf dem entgegengesetzten Standpunkte, und ich sage, das einzige Gewaltmittel, das uns zum Siege führen wird, ist die sozialistische Aufklärung der Arbeiterklasse im alltäglichen Kampfe. Meinen Ausführungen konnte man kein größeres Kompliment machen, als durch die Behauptung, daß sie etwas ganz Selbstverständliches seien. Gewiß muß das für einen Sozialdemokraten etwas Selbstverständliches sein, aber nicht für alle hier auf dem Parteitag ist es etwas Selbstverständliches („Oh!“), zum Beispiel für Genossen Heine mit seiner Kompensationspolitik. Wie verträgt sich diese mit der Eroberung der politischen Macht? Worin kann die Kompensationspolitik bestehen? Wir verlangen Stärkung der Volksrechte, demokratische Freiheiten, der kapitalistische Staat verlangt Stärkung seiner Machtmittel und Kanonen. Gesetzt den günstigsten Fall, daß das Tauschgeschäft von beiden Seiten ehrlich geschlossen und gehalten wird, so steht das, was wir erhalten, nur auf dem Papier. Schon Börne sagte: Ich rate niemand, auf eine deutsche Konstitution eine Hypothek zu nehmen, denn alle deutschen Verfassungen gehören zu den Mobilien. Konstitutionelle Freiheiten, wenn sie bleibenden Wert haben sollen, müssen durch Kampf, nicht durch Vertrag gewonnen werden. Was aber der kapitalistische Staat von uns eintauschen würde, das hat eine feste, brutale Existenz. Die Kanonen, die Soldaten, die wir bewilligen, verschieben die objektiven materiellen Machtverhältnisse zu unseren Ungunsten. Es war aber kein anderer als Lassalle, der sagte: „Die wahre Konstitution eines Landes besteht nicht in der geschriebenen Verfassung, sondern in seinen tatsächlichen Machtverhältnissen.“ [9*] Das Ergebnis der Kompensationspolitik ist also immer, daß wir die Verhältnisse zu unseren Gunsten bloß auf dem Papier, zugunsten der Gegner aber in der objektiven Wirklichkeit verschieben, daß wir unsere Position im Grunde genommen schwächen, diejenige des Gegners aber stärken. Ich frage, ob man von einem Menschen, der das vorschlägt, behaupten kann, daß er in ernster Weise die Eroberung der politischen Macht erstrebt. Ich glaube, die Entrüstung, mit der Genosse Fendrich die Selbstverständlichkeit dieser Bestrebung betonte, war bloß irrtümlich an mich adressiert, sie richtete sich im Grunde gegen Heine; sie war nur der Ausdruck des schroffen Gegensatzes, in den sich Heine zu dem proletarischen Gewissen unserer Partei gesetzt hat, als er von einer Konzessionspolitik gegenüber dem kapitalistischen Staat zu sprechen wagte.

Dann die Äußerung von Konrad Schmidt, daß die Anarchie der kapitalistischen Herrschaft durch gewerkschaftliche Kämpfe und derartiges beseitigt werden könne. Wenn etwas zu dem Programmsatze von der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht Anlaß gegeben hat, so war es die Überzeugung, daß auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft für die Beseitigung der kapitalistischen Anarchie kein Kräutlein gewachsen. Jeden Tag wächst die Anarchie, die furchtbaren Leiden der Arbeiterklasse, die Unsicherheit der Existenz, die Ausbeutung, der Abstand zwischen arm und reich. Kann man von einem, der die Lösung durch kapitalistische Mittel herbeiführen will, behaupten, daß er die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter klasse für notwendig hält? Also auch hier richtet sich die Entrüstung Fendrichs und Vollmars nicht gegen mich, sondern gegen Konrad Schmidt. Und dann die bewußte Äußerung in der Neuen Zeit: „Das Endziel, was es immer sei, ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles!“ [10*] Auch wer das sagt, steht nicht auf dem Standpunkt der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht. Sie sehen, daß manche Parteigenossen nicht auf dem Standpunkt des Endziels unserer Bewegung stehen, und darum ist es nötig, das zum klaren unzweideutigen Ausdruck zu bringen; und wenn es je notwendig war, so gerade jetzt. Die Schläge der Reaktion sausen hageldicht auf uns herab. Auf die neueste Rede des Kaisers [11*] muß die Antwort in der Debatte gegeben werden. Klipp und klar müssen wir sagen, wie der alte Cato: „Im übrigen bin ich der Meinung, daß dieser Staat zerstört werden muß.“ Die Eroberung der politischen Macht bleibt das Endziel und das Endziel bleibt die Seele des Kampfes. Die Arbeiterklasse darf sich nicht auf den dekadenten Standpunkt des Philosophen stellen: „Das Endziel ist mir nichts, die Bewegung ist mir alles“; nein, umgekehrt: die Bewegung als solche ohne Beziehung auf das Endziel, die Bewegung als Selbstzweck ist mir nichts, das Endziel ist uns alles. (Beifall.)

Anmerkungen

1*. Redaktionelle Überschrift – in den Gesammelten Werken hat die Redaktion dem Stück den Titel Rede über den politischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie gegeben.

2*. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entstand an deutschen Universitäten eine bürgerlich-liberale Richtung in der Sozialpolitik, die versuchte, die Arbeiterklasse durch Reformvorschläge und sozialpolitische Maßnahmen vom revolutionären Klassenkampf abzuhalten. Der Kathedersozialismsu bildete mit seinen sozialreformerischen und staatskapitalistischen Forderungen eine theoretische Grundlage des Revisionismus.

3*. Der 1896 von Friedrich Naumann gegründete Nationalsoziale Verein vertrat die imperialistische Expansionspolitik und versuchte, mit der demagogischen Forderung nach einem christlich-nationalen Sozialismus die Arbeiterklasse vom politischen und sozialen Kampf abzuhalten.

4*. Wolfgang Heine hatte in einer Rede am 10. Februar 1898 im dritten Berliner Reichstagswahlkreis die opportunistische Auffassung vertreten, die Sozialdemokratie könne einer preußisch-junkerlichen Regierung Militärforderungen für „Volksfreiheiten“ bewilligen. Mit diesem Kompromiß wollte Heine den antimilitarischen Kampf der deutschen Sozialdemokratie revidieren.

5*. Im Vorwärts vom 20. Februar 1898 hatte der Opportunist Konrad Schmidt die Diktatur des Proletariats abgelehnt und behauptet, eine sozialdemokratische Parlamentsmehrheit könne den kapitalistischen Staat auf friedlichem Wege in eine sozialistischen umwandeln.

6*. Siehe Eduard Bernstein: Probleme des Sozialismus, Abschnitt 1: Allgemeines über Utopismus und Eklektizismus, in: Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, 1. Bd., S. 164–171; Abschnitt 5: Die sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl, in: Ebenda, 2. Bd., S. 138–143.

7*. Redaktionelle Überschrift der Redaktion der Gesammelten Werke.

8*. Gemeint ist der erste Teil der Artikelserie von Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, der vom 21. bis 28. September 1898 in der Leipziger Volkszeitung erschienen war.

9*. „Verfassungsfragen sind ursprünglich nicht Rechtsfragen, sondern Machtfragen; die wirkliche Verfassung eines Landes existiert nur in den reellen, tatsächlichen Machtverhältnissen, die in einem Land bestehen; geschriebene Verfassungen sind nur dann von Wert und Dauer, wenn sie der genaue Ausdruck der wirklichen in der Gesellschaft bestehenden Machtverhältnisse sind ...“ (Ferd. Lassalles Reden und Schriften. Neue Gesammt-Ausgabe. Mit einer biographischen Einleitung von Ed. Bernstein, 1. Bd., Berlin 1892, S. 497.

10*. „Ich gestehe es offen, ich habe für das, was man gemeinhin under ‚Endziel des Sozialismus‘ versteht, außwerordentlich wenig Sinn und Interesse. Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.“ (Eduard Bernstein: Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, in: Die Neue Zeit, 16. Jg. 1897/98, 1. Bd., S. 556.

11*. Wilhelm II. hatte am 6. September 1898 in einer Rede in Oeynhausen neue Ausnahmegesetze gegen die Arbeiterklasse angekündigt, wonach die Organisierung und Durchführung von Streiks mit schweren Zuchthausstrafen geahndet werden sollte.


Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019