Rosa Luxemburg


Miliz und Militarismus


II

Das wesentliche Merkmal der opportunistischen Politik ist, daß sie folgerichtig stets dazu führt, die Endziele der Bewegung, die Interessen der Befreiung der Arbeiterklasse ihren nächsten, und zwar eingebildeten Interessen zum Opfer zu bringen. Daß dieses Postulat auch auf die Schippelsche Politik bis auf das Tüpfelchen über dem i paßt, läßt sich an einem seiner Hauptsätze in der Frage des Militarismus sinnenfällig aufzeigen. Der wichtigste wirtschaftliche Grund, der uns nach Schippel zwingt, an dem System des Militarismus festzuhalten, ist die ökonomische „Entlastung“ der Gesellschaft durch dieses System. Wir sehen hier davon ab, daß diese seltsame Behauptung die einfachsten wirtschaftlichen Tatsachen ignoriert. Wir wollen im Gegenteil zur Kennzeichnung dieser Auffassungsweise für einen Augenblick annehmen, daß diese verkehrte Behauptung Wahrheit ist, daß die „Gesellschaft“ tatsächlich durch den Militarismus von ihren überflüssigen Produktivkräften „entlastet“ wird.

Wie kann sich diese Erscheinung für die Arbeiterklasse gestalten? Offenbar so, daß sie einen Teil ihrer Reservearmee, der Lohndrücker, durch die Erhaltung des ständigen Heeres los wird und dadurch ihre Arbeitsbedingungen verbessert. Was bedeutet das? Nur dies: Der Arbeiter gibt, um das Angebot auf dem Arbeitsmarkte zu verringern, um den Wettbewerb zu beschränken, erstens einen Teil seines Lohnes in Gestalt von Steuern her, um seinen Konkurrenten als Soldaten zu erhalten; zweitens schafft er aus diesem Konkurrenten ein Werkzeug, womit der kapitalistische Staat jede seiner Regungen zum Zwecke der Verbesserung seiner Lage (Ausstände, Koalition usw.) niederhalten, nötigenfalls im Blute ersticken, also dieselbe Aufbesserung der Lage des Arbeiters vereiteln kann, um derentwillen der Militarismus nach Schippel notwendig war. Drittens macht der Arbeiter diesen Konkurrenten zum sichersten Pfeiler der Reaktion überhaupt, also der eigenen sozialen Versklavung.

Mit anderen Worten: der Arbeiter beugt durch den Militarismus einer unmittelbaren Verminderung seines Lohnes um einen gewissen Betrag vor, verliert aber dafür in hohem Maße die Möglichkeit, dauernd um die Hebung seines Lohnes und die Verbesserung seiner Lage zu kämpfen. Er gewinnt als Verkäufer der Arbeitskraft, verliert aber zugleich die politische Bewegungsfreiheit als Bürger, um in letzter Linie auch als Verkäufer der Arbeitskraft zu verlieren. Er beseitigt einen Konkurrenten vom Arbeitsmarkte, um einen Hüter seiner Lohnsklaverei erstehen zu sehen, und verhütet eine Lohnherabsetzung, um sodann sowohl die Aussicht einer dauernden Aufbesserung seiner Lage als auch die Aussichten seiner endgültigen wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Befreiung zu vermindern. Das ist die tatsächliche Bedeutung der wirtschaftlichen „Entlastung“ der Arbeiterklasse durch den Militarismus. Hier wie bei allen Spekulationen der opportunistischen Politik sehen wir die großen Ziele der sozialistischen Klassenbefreiung kleinen praktischen Augenblicksinteressen geopfert, Interessen, die sich obendrein bei näherem Zusehen als wesentlich eingebildet erweisen.

Es fragt sich aber: wie konnte Schippel auf den so absurd klingenden Gedanken kommen, den Militarismus auch vom Standpunkte der Arbeiterklasse für eine „Entlastung“ zu erklären? Erinnern wir uns, wie dieselbe Frage vom Standpunkte des Kapitals aussieht. Wir haben dargelegt, daß für das Kapital der Militarismus die gewinnreichste und unentbehrlichste Anlageart schafft. Es ist zwar klar, daß dieselben Mittel, die, durch Besteuerung in die Hände der Regierung gelangt, zur Erhaltung des Militarismus dienen wenn sie in der Hand der Bevölkerung geblieben wären, eine gewachsene Nachfrage nach Lebensmitteln darstellten, oder, vom Staate in größerem Maßstabe zu Kulturzwecken angewandt, gleichfalls eine entsprechende Nachfrage nach gesellschaftlicher Arbeit schaffen würden. Es ist zwar klar, daß auf diese Weise für die Gesellschaft im ganzen der Militarismus durchaus keine „Entlastung“ ist. Allein anders gestaltet sich die Frage vom Standpunkte des kapitalistischen Profits, vom Unternehmerstandpunkte. Für den Kapitalisten ist es gar nicht gleich, ob er eine bestimmte Nachfrage nach Erzeugnissen auf seiten der zersplitterten Privatkäufer oder auf seiten des Staates findet. Die Nachfrage des Staates zeichnet sich durch eine Sicherheit, Massenhaftigkeit und günstige, meistens monopolartige Gestaltung der Preise aus, die den Staat zum vorteilhaftesten Abnehmer und die Lieferungen für ihn zum glänzendsten Geschäft für das Kapital machen.

Was aber besonders bei militärischen Lieferungen als höchst wichtiger Vorteil zum Beispiel vor staatlichen Ausgaben für Kulturzwecke (Schulen, Wege usw.) hinzukommt, sind die unaufhörlichen technischen Umwälzungen und das unaufhörliche Wachstum der Ausgaben, so daß der Militarismus eine unerschöpfliche, ja immer ergiebigere Quelle der kapitalistischen Gewinne darstellt und das Kapital zu einer sozialen Macht erhebt, wie sie dem Arbeiter zum Beispiel in den Kruppschen und Stummschen Unternehmungen entgegentritt. Der Militarismus, der für die Gesellschaft im ganzen eine ökonomisch völlig absurde Vergeudung ungeheurer Produktivkräfte darstellt, der für die Arbeiterklasse eine Herabsetzung ihres wirtschaftlichen Lebensmaßstabes zum Zwecke ihrer sozialen Versklavung bedeutet, bildet für die Kapitalistenklasse ökonomisch die glänzendste, unersetzliche Anlageart, wie gesellschaftlich und politisch die beste Stütze ihrer Klassenherrschaft. Wenn daher Schippel denselben Militarismus kurzerhand für eine notwendige ökonomische „Entlastung“ erklärt, so verwechselt er offenbar nicht nur den Standpunkt der gesellschaftlichen Interessen mit dem der Kapitalinteressen und stellt sich somit - wie wir eingangs gesagt haben - auf bürgerlichen Standpunkt, sondern er geht auch, indem er annimmt, jeder ökonomische Vorteil des Unternehmertums sei notwendig auch ein Vorteil für die Arbeiterklasse, von dem Grundsatze der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit aus.

Es ist dies wiederum derselbe Standpunkt, den wir bei Schippel schon einmal kennengelernt haben - in der Zollfrage. Auch hier trat er, da er den Arbeiter als Produzenten vor dem verderblichen Wettbewerbe der ausländischen Industrie schützen wollte, im Prinzip für den Schutzzoll ein. Hier ganz wie in der Militärvorlage sieht er nun unmittelbare wirtschaftliche Interessen des Arbeiters und übersieht seine weiteren sozialen Interessen, die mit dem allgemeinen gesellschaftlichen Fortschritt zum Freihandel oder zur Abschaffung stehender Heere zusammenhängen. Und hier wie dort nimmt er auch für unmittelbares wirtschaftliches Interesse der Arbeiter unmittelbar das, was das Interesse des Kapitals ist, indem er glaubt, daß alles, was für das Unternehmertum ein Vorteil, auch für die Arbeiter ein solcher sei. Aufopferung der Endziele der Bewegung den praktischen Augenblickserfolgen und die Einschätzung der praktischen Interessen vom Standpunkte der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit - diese beiden Grundsätze stehen ebenso im harmonischen Zusammenhang untereinander, wie sie das wesentliche Merkmal aller opportunistischen Politik bilden.

Es kann auf den ersten Blick überraschen, daß ein Befürworter dieser Politik die Möglichkeit findet, sich auf die Schöpfer des sozialdemokratischen Programms zu berufen und allen Ernstes, da doch sein Gewährsmann in der Militärfrage der Freiherr v. Stumm ist, als seinen Gewährsmann in derselben Frage - Friedrich Engels zu betrachten. Es ist die Einsicht in die geschichtliche Notwendigkeit und die geschichtliche Entwicklung des Militarismus, die Schippel mit Engels gemein zu haben wähnt. Allein dies beweist nur wieder, daß, wie einst die schlecht verdaute Hegelsche Dialektik, so jetzt die schlecht verdaute Marxsche Geschichtsauffassung zu der heillosesten Verwirrung in den Köpfen führt. Es zeigt sich ferner abermals, daß beide, die dialektische Denkweise im allgemeinen, wie die materialistische Geschichtsphilosophie im besonderen, so revolutionär sie in richtiger Auffassung sind, gefährliche reaktionäre Konsequenzen erzeugen, sobald sie verkehrt aufgefaßt werden. Liest man Schippelsche Zitate aus Engels, namentlich aus dem Anti-Dühring, über die Entwicklung des militärischen Systems zu seiner eigenen Aufhebung und zum Volksheer, so erscheint es auf den ersten Blick unklar, worin denn eigentlich der Unterschied zwischen der Schippelschen und der parteiüblichen Auffassung der Frage liegt. Wir betrachten den Militarismus, wie er leibt und lebt, als eine natürliche und unvermeidliche Blüte der gesellschaftlichen Entwicklung - Schippel auch. Wir behaupten, daß der Militarismus in seiner weiteren Entwicklung zum Volksheer führt - Schippel auch. Wo ist denn der Unterschied, der Schippel zu seiner reaktionären Opposition gegen die Milizforderung führen konnte? Er ist sehr einfach: Während wir mit Engels in der eigenen inneren Entwicklung des Militarismus zur Miliz bloß die Bedingungen zu seiner Aufhebung sehen, meint Schippel, daß das Volksheer der Zukunft auch von selbst, „von innen heraus“ aus dem heutigen Militärsystem heraus wachse. Während wir, gestützt auf diese uns von der objektiven Entwicklung gebotenen materiellen Bedingungen – die Verbreitung der allgemeinen Wehrpflicht und die Verkürzung der Dienstzeit –, durch den politischen Kampf die Verwirklichung des Milizsystems durchsetzen wollen, verläßt sich Schippel auf die eigene Entwicklung des Militarismus mit seinen Folgeerscheinungen und stempelt jedes bewußte Eingreifen zur Herbeiführung der Miliz als Phantasie und Bierbankpolitik.

Was wir auf diese Weise bekommen, ist nicht die Engelssche Geschichtsauffassung, sondern die Bernsteinsche. Wie bei Bernstein die kapitalistische Wirtschaft von selbst, ohne Sprung, schrittweise in die sozialistische „hineinwächst“, so wächst bei Schippel aus dem heutigen Militarismus von selbst das Volksheer heraus. Wie Bernstein in bezug auf den Kapitalismus im ganzen, so versteht Schippel in bezug auf den Militarismus nicht, daß die objektive Entwicklung uns bloß die Bedingungen einer höheren Entwicklungsstufe an die Hand gibt, daß aber ohne unser zielbewußtes Eingreifen, ohne den politischen Kampf der Arbeiterklasse um die sozialistische Umwälzung oder um die Miliz weder die eine noch die andere je verwirklicht wird. Da aber somit das bequeme „Hineinwachsen“ bloß eine Chimäre, eine opportunistische Ausflucht, ist, um dem zielsicheren revolutionären Kampfe aus dem Wege zu gehen, so schrumpft auch die auf diesem Wege erreichbare soziale und politische Umwälzung auf elendes bürgerliches Flickwerk zusammen. Wie bei der Bernsteinschen Theorie der „allmählichen Sozialisierung“ schließlich aus dem Begriff des Sozialismus selbst alles verschwindet, was wir darunter verstehen, und der Sozialismus zur „gesellschaftlichen Kontrolle“, das heißt zu harmlosen bürgerlichen Sozialreformen wird, so verwandelt sich bei der Schippelschen Auffassung das „Volksheer“ aus dem freien, selbst über Krieg und Frieden entscheidenden Volk in Waffen, das unser Ziel ist, in eine auf alle tauglichen Bürger erstreckte allgemeine Wehrpflicht nach dem heutigen System des stehenden Heeres mit einer kurzen Dienstzeit. Angewendet auf alle Ziele unseres politischen Kampfes führt die Schippelsche Auffassung geraden Weges zur Verzichtleistung auf das ganze sozialdemokratische Programm.

Das Schippelsche Eintreten für den Militarismus ist eine handgreifliche Erläuterung zu der ganzen opportunistischen Strömung in unserer Partei und zugleich ein wichtiger Schritt in ihrer Entwicklung. Wir hörten auch früher schon von einem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten, von Heine, daß man unter Umständen der kapitalistisdlen Regierung militärische Forderungen bewilligen könne. Dies war aber bloß als ein Zugeständnis für höhere Zwecke der Demokratie gedacht. Die Kanonen sollten bei Heine wenigstens nur als ein Tauschgegenstand für Volksrechte dienen. Nun erklärt Schippel die Kanonen um der Kanonen willen für notwendig. Ist auch das Ergebnis hier wie dort das gleiche – nämlich die Unterstützung des Militarismus, so beruht sie bei Heine wenigstens noch auf einer falschen Auffassung von der sozialdemokratischen Kampfweise, während sie bei Schippel einfach aus der Verschiebung des Kampfobjekts entspringt. Dort wurde nur statt der sozialdemokratischen die bürgerliche Taktik vorgeschlagen, hier wird dreist an Stelle des sozialdemokratischen das bürgerliche Programm gestellt.

In der Schippelschen „Milizskepsis“ hat die „praktische Politik“ ihre letzten Folgerungen gezogen. Weiter in der Richtung zur Reaktion kann sie nicht gehen, es bleibt ihr nur übrig, sich auf andere Programmpunkte auszudehnen, um den Rest des sozialdemokratischen Mantels, mit dessen Fetzen sie sich drapiert, abzulegen und in der ganzen klassischen Blöße als - Pfarrer Naumann [1] zu erscheinen.


Anmerkung

1. Friedrich Naumann, evangelischer Theologe, Gründer des Nationalsozialen Vereins, versuchte auf kleinbürgerlich-reformistischen Weg mit sozialliberalen Phrasen die Arbeiterklasse mit dem imperialistischen Staat zu versöhnen. Er arbeitete eng mit dem Finanzkapital zusammen und hatte Verbindungen zu opportunistischen Führern der deutschen Sozialdemokratie.


Zuletzt aktualisiert am 19.05.2019