Rosa Luxemburg


Die sozialistische Krise in Frankreich

 

IV. Die Sozialreformen Millerands

Als zweiter Grund für die Teilnahme Millerands an der Regierung wird neben der „republikanischen Verteidigungsaktion“ des Ministeriums Waldeck-Rousseau die sozialreformerische Tätigkeit Millerands angeführt.

Für kein anderes Land ist in der Tat die Renovierung und Modernisierung der Sozialpolitik eine so dringende Notwendigkeit wie für Frankreich. Nachdem die ersten entschiedenen Schritte der Revolution von 1848 (der allgemeine gesetzliche Arbeitstag von elf, für Paris zehn Stunden und das Verbot der Marchandage – der Vergebung der Arbeiten an Zwischenunternehmer) nach der Niederwerfung der Arbeiterschaft wieder zunichte gemacht wurden, wird die Arbeiterschutzgesetzgebung, obwohl schon in den vierziger Jahren fürchterliche Ergebnisse der „ursprünglichen Akkumulation“ des Kapitalismus von bürgerlichen Sozialpolitikern aufgedeckt waren, erst in der Mitte der siebziger Jahre aufgenommen. Seitdem beginnt die merkwürdige, in allen Ländern ihresgleichen suchende sozialreformerische Arbeit der Dritten Republik. Jahrelang wandert jede Gesetzesvorlage durch verschiedene vorbereitende und beratende Kommissionen, wird von der Kammer dem Senat und vom Senat wieder der Kammer zugeworfen, hier angenommen, um dort abgelehnt, dort akzeptiert, um hier verworfen zu werden. Nachdem endlich durch beiderseitiges Beschneiden, Korrigieren, Umändern ein Machwerk zustande gebracht wird, das den Segen der Kammer wie des Senats erlangt, erweist es sich vom ersten Augenblick an, wo es ins Leben tritt, als eine Monstrosität. Bereits am anderen Tage beginnen deshalb Vorbereitungen zur Umarbeitung des Gesetzes, die ihrerseits nach einem weiteren Jahrzehnt eine neue sozialreformerische Totgeburt in die Welt setzen usw. Das erste Gesetz der Republik, der Schutz der Frauen- und Kinderarbeit vom Jahre 1874, zeigt sofort seine Unbrauchbarkeit und wird nach vieljährigen, 1883 beginnenden Vorbereitungen durch das Gesetz vom Jahre 1892 verbessert. Letzteres macht aber bereits 1894 eine neue Vorlage im Senat und weitere, bis zum Jahre 1900 dauernde vorbereitende Umarbeitungen notwendig.

Das erste Gesetz über den Gesundheitsschutz der Arbeiter wurde, nach siebenjähriger Umarbeitung der Regierungsvorlage, im Jahre 1893 fertiggebracht. Die Sicherstellung des Arbeitslohns ist erst 1895 gesetzlich geregelt worden. Das erste allgemeine Unfallversicherungsgesetz ist 1898 nach zwanzigjähriger Vorbereitung zustande gekommen. Endlich ist ein Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz, das seit fünfundzwanzig Jahren „vorbereitet“ wird und bereits zehn verschiedene Vorlagen erlebt hat, bis heute noch nicht reif geworden.

Neben dem endlosen, dilettantischen Herumstümpern an den Reformgesetzen – und ihrer angeborenen Untauglichkeit ist ihre höchst mangelhafte Anwendung für Frankreich charakteristisch. Der zur Überwachung geschaffene plumpe bürokratische Apparat: die Departemental-, Lokal-Kinderschutzkommissionen etc., sind zum Teile nicht einmal ins Leben getreten. Die Fabrikinspektion ist erst 1892 dem Gutdünken der departementalen Generalräte entzogen und von Staats wegen umgestaltet worden. Zu der Gleichgültigkeit und Unerfahrenheit der Inspektoren und der Unbrauchbarkeit der kollegialen Aufsichtsbehörden treten aber noch die offene Unternehmerfreundlichkeit der Administrationsorgane und der Gerichte sowie die beispiellose sozialpolitische Rückständigkeit der öffentlichen Meinung hinzu. Es genügt zur Kennzeichnung der französischen Bourgeoisie in dieser Hinsicht der Hinweis darauf, daß sich noch 1888 in der Kammer 171 Stimmen für gänzliche Wiederabschaffung der 1874 kaum im Keime geschaffenen Fabrikinspektion erklärten und daß noch 1891 ein Vorschlag gemacht wurde, mit der Fabrikaufsicht in den ländlichen Distrikten – die Feldhüter zu betrauen. Neben der alten englischen, neben der deutschen, der schweizerischen, der österreichischen Sozialpolitik steht die verknöcherte französische als ein Unikum da.

Auf diesem Gebiet eine rege Tätigkeit zu entfalten, hatte das Kabinett Waldeck-Rousseau mehr als einen Grund. Der französische Radikalismus, der in sozialpolitischem Chinesentum die opportunistische Politik noch übertrumpft, hatte sich durch sein bisheriges Verhalten in den Augen der Arbeiterschaft vollends kompromittiert. Die Rücksichten auf die proletarische Unterstützung waren um so dringender, als die eigenen Kerntruppen des Radikalismus, das Pariser Kleinbürgertum, sich in der ganzen Dreyfus-Krise und wieder bei den Wahlen zum Gemeinderat als höchst unsichere Kantonisten erwiesen hatten.

Aber das ausschlaggebende Moment lag in der eigentümlichen Situation des jetzigen Ministeriums. Das Kabinett Waldeck-Rousseau war wie seine radikalen Vorgänger auf die Unterstützung der Sozialisten angewiesen, und es trat wie seine Vorgänger mit dem Verrat an den politischen Bestrebungen und Hoffnungen der Sozialisten als seinem eigentlichen politischen Programm auf die Bühne. Niemals früher waren aber die Sozialisten in dem Masse an der politischen Tätigkeit der Regierung unmittelbar interessiert, niemals war die Aufmerksamkeit und die Wachsamkeit der Arbeiterklasse ihr gegenüber so geschärft gewesen wie nach der Dreyfus-Krise, als deren unmittelbares Ergebnis die Regierung Waldeck-Rousseau erschien und während der ein großer Teil der Sozialisten eine hervorragende Rolle in der Tagespolitik des Landes gespielt hafte. Niemals ist deshalb die Impotenz des Radikalismus in so schroffen Gegensatz zu den Erwartungen der sozialistischen Arbeiterschaft getreten wie während des Ministeriums Waldeck-Rousseau. Das achtzehnmonatige Nichtstun und das darauf folgende Amnestiegesetz hätten nach der allgemeinen Spannung und Aufregung der zweijährigen Dreyfus-Krise sogar die erprobte Langmut der Sozialisten erschöpfen können. Die Festhaltung der sozialistischen Unterstützung war also diesmal für die radikale Regierung eine viel schwierigere Aufgabe als in den früheren Fällen. Irgend etwas mußte der Arbeiterschaft im voraus als Entgelt für ihre Enttäuschungen unbedingt geboten werden. Und als dieses Entgelt ergaben sich von selbst die Sozialreformen.

Arbeiterfreundliche Gesetze waren für das Ministerium das einzige Mittel, das die Sozialisten veranlassen konnte, sich über sein politisches Fiasko hinwegzusetzen. Wären nicht die Reformen, womit die Arbeiterschaft geblendet und die Sozialisten in Atem gehalten wurden, so hätte sogar die Hypnose von Jaurès es nicht fertiggebracht, seine Truppen an die „republikanische Verteidigung“ des Kabinetts glauben zu machen. Erst die sozialreformerischen Gesetze und Dekrete haben eine Verwirrung des politischen Urteils in den sozialistischen Kreisen angerichtet, so daß man später ein „großes republikanisches Werk“ dort erblicken konnte, wo selbst bürgerliche Demokraten nur Verrat und Schmach sehen. Die Amnestie und die Vorlage über die Kongregationen durften sich erst nach dem Gesetz über den Arbeitstag und nach der Vorlage über die Erweiterung des Koalitionsrechtes ans Tageslicht wagen. Die Sozialreformen Millerands sicherten der politischen Kapitulation Waldeck-Rousseaus die Straflosigkeit. Die Arbeiterfreundlichkeit des Kabinetts war der Preis, womit die passive Mitschuld eines Teiles der Arbeiterklasse an dieser Kapitulation erkauft wurde.

Es heißt also die innere Logik der ganzen politischen Situation verkennen, wenn man behauptet, der sozialistische Minister sei der eigentliche und alleinige Urheber der sonst undenkbaren sozialpolitischen Tätigkeit des radikalen Ministeriums. Ganz im Gegenteil, mag der Geist, der Charakter, der Umfang des sozialreformerischen Werkes auf Konto des einzelnen Ministers gesetzt werden – dieses Werk selbst war das Fundament, auf dem das Kabinett Waldeck-Rousseau angesichts seiner völligen Preisgabe der politischen Aufgaben seine parlamentarische Existenz begründet hat.

Auf den ersten Blick scheint die dargestellte Taktik des radikalen Ministeriums auf den Kopf gestellt. Um politische Interessen der Reaktion schonen zu können, entschloß es sich, ihre wirtschaftlichen Interessen zu opfern? Um die politischen Gegensätze innerhalb der Bourgeoisie vertuschen zu können, will sie den sozialen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat hervorheben? Das Verkehrte dieser Taktik ist nur scheinbar. Die nähere Analyse der Millerandschen Sozialreform zeigt, daß sie in letzter Linie nicht eine Verleugnung, sondern eine direkte Fortsetzung der politischen Aktion des Kabinetts ist.

Es ist für alle wichtigsten sozialreformerischen Maßnahmen Millerands bezeichnend, daß sie gleichzeitig ebenso überschwengliche Begeisterung wie schroffe Ablehnung hervorgerufen haben, daß sie in Frankreich wie außerhalb Gegenstand der widersprechendsten Urteile geworden sind. Während sie auf der einen Seite als rein sozialistische Maßnahmen, als Vorboten der kommenden Herrschaft der Arbeiterklasse, als. Marksteine einer neuen Ära der Sozialpolitik gefeiert werden, reißt man sie auf der anderen als Verrat an der Arbeiterklasse, zum mindesten als gänzlich verfehlte Versuche einer Sozialreform herunter.

Die Ursache davon ist eine einfache. Sie liegt nicht etwa, wie es ein oberflächlicher Beobachter schließen könnte, an dem grundsätzlich verschiedenen Verhältnis der Urteilenden zu der sozialistischen Ministerfrage, sondern an der Eigentümlichkeit der Millerandschen Maßnahmen selbst. Sie zeichnen sich nämlich alle durch eine innere Zwieschlächtigkeit, einen widerspruchsvollen Charakter aus, der namentlich auch für die drei im Mittelpunkt des Millerandschen Werkes wie des öffentlichen Interesses stehenden Maßnahmen bezeichnend ist: für das Gesetz über den Arbeitstag, die Vorlage über die Gewerkschaften und das Projekt des obligatorischen Streiks.

Frankreich, das sozialpolitisch hinter England, Deutschland, hinter der ganzen kapitalistischen Welt stehende Frankreich bekommt plötzlich in gemischten Betrieben den allgemeinen elfstündigen, in wenigen Jahren den zehnstündigen Arbeitstag! Mit einem Sprunge steht das klassische Land des sozialpolitischen Manchestertums an der Spitze des Fortschritts, die französische Arbeiterklasse, das Aschenbrödel von gestern, steht mit einem Male vor uns als stolze Prinzessin da. Es ist klar, daß ein solches Wunder nur der sozialistische Minister hervorzaubern konnte.

Aber es gibt, wie Genosse Jaurès nach dem Amnestiegesetz philosophisch bemerkt hat, keine ungetrübten Siege in der Geschichte. Das Betrübende an dem epochemachenden Millerandschen Gesetz ist, daß der Zehnstundentag erst in vier Jahren nach seiner Veröffentlichung (am 1. April 1904) in Kraft tritt. Im Laufe von vier Jahren fließt viel Wasser die trübe Seine hinab, und viele französische Ministerien purzeln in den Lethe. Wenn die bisherigen Arbeiterschutzgesetze in Frankreich hauptsächlich zur Ausschmückung des Journal officiel dienten, so lag das an dem vereinigten Widerstand des Unternehmertums, der Administrationsorgane und der Gerichte. Im bedauerlichen Gegensatz zu dem „Hinundherschweben“, dem „wechselnd Weben“, dem Eintagsfliegendasein der Ministerien, stellen alle diese Widerstandskräfte in Frankreich eine feste, unerschütterliche Mauer dar. Ein dem Kampfe der unbekannten künftigen Regierungen mit diesem Wall der sozialpolitischen Reaktion überlassenes Gesetz ist jedenfalls ein Wechsel auf eine Bank der Zukunft.

Jedoch der Pessimismus in bezug auf seine künftige Realisierung ist nicht der einzige Schatten, der auf das lichtvolle Gesetz Millerands fällt. Die Verkürzung der Arbeitszeit der Erwachsenen gegenwärtig auf elf und künftig auf zehn Stunden ist mit einem Opfer, mit der vorläufigen Verlängerung der Arbeitszeit der Kinder um eine Stunde, erkauft worden.

Es ist wahr, der 1892 festgesetzte zehnstündige Arbeitstag der Kinder wurde in der Praxis ebensowenig eingehalten wie die anderen Arbeiterschutzgesetze. Die schlauen französischen Unternehmer hatten das Gesetz – wie ihre englischen Kollegen in den vierziger Jahren – mit der Einführung eines komplizierten Schichtensystems beantwortet, in dem die Arbeitshände nach dem Marxschen Ausdruck wie Karten untereinander gemischt wurden und die Kontrolle der Durchführung des Gesetzes fast unmöglich war.

Wenn also nun der gesetzliche Arbeitstag der Kinder um eine Stunde verlängert wurde, so war das Opfer, wie uns die „Realpolitiker“ versicherten, nur ein imaginäres. Eine nur auf dem Papier existierende Mußestunde der Fabrikkinder konnte man mit leichtem Herzen hingeben, um dafür die gesetzliche Verkürzung der Arbeitszeit der Erwachsenen und die Ausgleichung ihrer Arbeitszeit mit der der Kinder einzutauschen, bei der allein – wenigstens nach der Versicherung Millerands – eine Beobachtung des Gesetzes über die Arbeitsdauer überhaupt möglich wird. In Wirklichkeit zeugt die Annahme gerade dieser Bestimmung des Gesetzes von einem sozialpolitischen Dilettantismus, wie ihn sogar die französische Gesetzgebung bis jetzt noch nie erreicht hat.

Die Fabrikkinder und die Jugendlichen besonders zu schützen, ihre Arbeitszeit kürzer zu gestalten als die der Erwachsenen, das bildet den elementarsten Grundsatz der Arbeiterschutzgesetzgebung in allen kapitalistischen Ländern, das Abc jeder, auch der primitivsten bürgerlichen Sozialpolitik, die erste Forderung des einfachen gesunden Menschenverstandes, das direkte Ergebnis natürlicher Altersunterschiede, endlich die sicherste Maßnahme zur Beschränkung der Kinderzahl in den Fabriken. Indem das Gesetz Millerand die Arbeitszeit der Kinder vorläufig um eine Stunde erhöht, opfert es nicht die materielle eine Stunde ihrer Ruhe, nicht die rein formelle gesetzliche Bestimmung, sondern etwas unendlich Wichtigeres: das Prinzip selbst des besonderen Kinderschutzes.

Nur bei der grob-mechanischen Auffassung der an Tauschgeschäfte gewöhnten „Realpolitik“ konnte die in Bälde bevorstehende Wiederherabsenkung der Arbeitszeit der Kinder auf die frühere absolute Höhe von 10 Stunden eine Kompensation für ihre zeitweise Erhöhung darstellen. Vom sozialpolitischen Standpunkt, von dem aus die Arbeitszeit der Kinder als eine relative, im Verhältnis zur Arbeit der Erwachsenen naturgemäß wechselnde Größe erscheint, ist die Zusammenkettung jetzt und in Zukunft der Arbeitszeit der Kinder und der Jugendlichen mit der der Erwachsenen – eine sozialpolitische Monstrosität. Da das Heruntergehen unter die zehnstündige gesetzliche Arbeitsdauer für Erwachsene in absehbarer Zeit in Frankreich wie anderwärts nicht zu erwarten ist, so bedeutet die Neuerung praktisch nichts anderes als die Verurteilung 12- bis 16jähriger Proletarierkinder für Jahrzehnte hinaus zu einer zehnstündigen Zwangsarbeit im Dienste der kapitalistischen Ausbeutung.

Die Geopferten sind aber außer den Kindern auch noch die Erwachsenen. Nicht nur bildet der besondere Schutz der Kinderarbeit in Wirklichkeit bei einigermaßen brauchbarer Inspektion kein Hindernis zur Ausführung der gesetzlichen Bestimmungen über die Arbeitszeit. In allen Ländern werden diese Bestimmungen trotz der überall kürzeren Arbeitszeit der Kinder ausgeführt, und nur in der französischen Kammer durfte ein Minister das Gegenteil behaupten, ohne allgemeines Hohngelächter zur Antwort zu bekommen. Der besondere Kinderschutz spielt obendrein eine äußerst wichtige Rolle für den Schutz der Erwachsenen. Die Verkürzung der Kinderarbeit zieht nämlich, wie die Geschichte aller Industrieländer, vor allem Englands, zeigt, mechanisch auch die Beschränkung der Arbeit der Erwachsenen nach sich. Der vorausschreitende Kinderschutz funktioniert als Triebfeder der Entwicklung und des Fortschritts des Arbeiterschutzes im ganzen.

Indem Millerand also die Arbeitszeit der Kinder an die der Erwachsenen kettet und alle natürlichen Kategorien der Arbeiter mit einem kühnen bürokratischen Federstrich nivelliert, hat er die französische Arbeiterschutzgesetzgebung nicht nur sozialpolitisch hinter die aller anderen Länder geschoben, sondern sie gleich in den ersten Stadien ihrer Entwicklung in den Zustand der Starrheit versetzt. Ob und wie der allgemeine Minimalarbeitstag angewendet wird, die gleiche Arbeitsdauer für alle Kategorien der Arbeiter ist nun zur Regel für die französischen Industriebetriebe geworden. Der bevorstehende zehnstündige Arbeitstag für Erwachsene ist in seiner Ausführung das Ungewisse, mit der Richtung der jeweiligen Regierung und ihrer Organe Wechselnde, die Ausgleichung der Arbeit der Kinder mit der der Erwachsenen – das ist das Prinzipielle, das Bleibende der neuen Reform. [1*]

Schon die erste der wichtigsten Millerandschen Maßnahmen zeigt uns also die Zwieschlächtigkeit seiner Reformarbeit in besonderem Lichte: Während er der Arbeiterschaft zweifelhafte und illusorische Errungenschaften gewährt, legt er ihr ganz zweifellose, handgreifliche Opfer auf. Und dasselbe finden wir auch in der zweiten wichtigen Vorlage Millerands, betreffend die Gewerkschaften, bestätigt.

Das im Jahre 1884 den Arbeitern gewährte Koalitionsrecht bleibt bis heute ohne jeden gesetzlichen Schutz. Der Willkür des Unternehmertums ausgeliefert, sind die organisierten Arbeiter gezwungen, durch verzweifelten Kampf ihr elementarstes Recht zu verteidigen. Die größten französischen Streiks, wie der im Departement du Nord 1885, in Carmaux, der Streik der Omnibusangestellten in Paris, endlich der neuliche in Creusot, waren durch Maßregelungen von Arbeitern hervorgerufen.

Die Vorlage Millerands schafft für das Koalitionsrecht eine rechtliche Garantie, indem sie für den wegen seiner Zugehörigkeit zur Gewerkschaft gemaßregelten Arbeiter ein Klagerecht auf Entschädigung gegen den Unternehmer statuiert und den letzteren, im Falle der Anwendung von Drohungen oder Gewalttätigkeiten, strafrechtlich bedroht. Aber nicht genug. Das projektierte Gesetz stattet die Gewerkschaften wie ihre Verbindungen obendrein mit dem vollen Rechte der juristischen Persönlichkeit aus, das heißt, es erlaubt ihnen, in unbeschränktem Masse Vermögen zu besitzen und geschäftliche Transaktionen zu unternehmen.

Auf den ersten Blick haben wir wieder eine kühne, die Gesetzgebung anderer Länder weit überragende sozialpolitische Reform. Aber es steckt ein Wurm auch in dieser herrlichen Blüte.

Ein privatrechtliches Klagerecht gegen den Unternehmer besaß nämlich der gemaßregelte Gewerkschafter in Frankreich auch schon früher – einfach auf Grund des gemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs (Art. 1780 und 1382). Die privatrechtliche Garantie hat sich aber sowohl angesichts des Unvermögens der Arbeiter, kostspielige Prozesse zu führen, wie angesichts der Schwierigkeit, den Unternehmer vor Gericht der Absicht der Maßreglung zu überführen, wie endlich der Belanglosigkeit der Geldstrafen für die Kapitalisten als völlig unwirksam erwiesen. Worum es sich handelte, das war, die dem öffentlich-rechtlichen Charakter des Koalitionsrechtes einzig entsprechende strafrechtliche Garantie zu schaffen. Und die Kammer hatte auch bereits dreimal (1890, 1892 und 1895) ein dahingehendes Gesetz angenommen, das nur an dem Widerstand des Senats regelmäßig gescheitert war. Indem Millerand, statt den Wunsch der Arbeiterschaft im Senat durchzudrücken, sich vor dem Senat beugt und ein privatrechtliche Klagerecht als Garantie des Koalitionsrechtes einführt, bietet er dem Arbeiter unter der Form eines neuen Rechtsschutzes nur die alte Schutzlosigkeit gegen die Übergriffe des Unternehmertums.

Ebenso illusorisch ist das zweite Geschenk: das Recht des unbeschränkten Grundbesitzes und Geschäftsbetriebs. Auch bis jetzt besaßen die Gewerkschafter sowohl das Recht, im Rahmen der gewerkschaftlichen Funktionen Vermögen (bewegliches wie unbewegliches) zu besitzen, wie die Möglichkeit, Produktiv- und Konsumgenossenschaften, wenn auch unabhängig von der Gewerkschaft, zu gründen. Tatsächlich ist zirka ein Viertel der französischen Kooperationen aus den Gewerkschaften hervorgegangen. Die projektierte Reform besteht nur darin, daß den Gewerkschaften nun als solchen das Recht verliehen wird, Genossenschaften zu gründen. Eine solche unmittelbare Verquickung der gewerkschaftlichen mit der genossenschaftlichen Bewegung ums aber, wenn man die bisherigen Erfahrungen und die wechselseitigen Verhältnisse der beiden Organisationen kennt, als eine sehr zweifelhafte Wohltat erscheinen. Ohne einem reellen Bedürfnis, sei es der Gewerkschaft, sei es der Genossenschaft, zu entsprechen, ist die projektierte Neuerung höchstens geeignet, eine Quelle ständiger Konflikte und Reibereien zwischen beiden zu schaffen. [2*]

Den illusorischen Errungenschaften entsprechen aber sehr reelle und unzweifelhafte Verluste. Das projektierte Gesetz gewährt nämlich nicht bloß zugleich mit dem Klagerecht der gemaßregelten Arbeiter gegen den Unternehmer das Klagerecht des Unternehmers gegen die Arbeiter, die über sein Etablissement die Sperre verhängten. Es beläßt nicht nur den bestehenden verhaßten Artikel des Strafgesetzbuchs gegen „die Beeinträchtigung der Freiheit der Arbeit“ in voller Kraft. Es schafft auch noch einen besonderen strafrechtlichen Schutz für den Unternehmer und seine „Arbeitswilligen“ gegen „Drohungen oder Gewalttätigkeiten“ der Streikenden. Damit wird, einem von reaktionärer Seite im Mai 1890 in der Kammer gestellten Antrag entsprechend, eine 1884 bereits aufgehobene Maßregel gegen die Streikenden wieder ins Leben gerufen, und die ganze Reform verwandelt sich unversehens aus einer angeblichen Erweiterung und Sicherstellung in eine Beschränkung des Koalitionsrechtes der Arbeiter.

Endlich der am meisten Aufsehen erregende Gesetzentwurf über die obligatorischen Schiedsgerichte und den obligatorischen Streik. Wer noch den sozialistischen und epochemachenden Charakter der früheren Reformen Millerands nicht hat einsehen können, dem ums der genannte Entwurf jedenfalls die Augen öffnen. Denn bewegen sich die anderen Maßnahmen in den bekannten Bahnen der internationalen Arbeitergesetzgebung, so führt diese ein gänzlich neues Prinzip: den Streikzwang, ein. Weiter als hier kann offenbar eine Reform unmöglich gehen. Der Sprung von der „Zuchthausvorlage“ [1] zu der Millerandschen Streikvorlage ist ein so gewaltiger, daß man dabei schon einen ganzen Zipfel des Zukunftsstaats zu sehen bekommt. Und war jene ein Messer, mit dem man dem Arbeiter an die Gurgel wollte, so ist diese eine Waffe, mit der der wirtschaftlichen Allmacht des Kapitals der Garaus gemacht wird. „Der Unternehmer“ – das haben auch einige unserer Parteiblätter auf den ersten Blick erkannt – „hört auf, Herr im eigenen Hause zu sein.“

Freilich entstehen bei etwas aufmerksamem Betrachten der Vorlage verschiedene schwere Bedenken. Die Anwendung des projektierten Gesetzes ist nur in Staatsbetrieben gesichert, in den Privatbetrieben hängt sie jederzeit vom freien Ermessen des Unternehmers ab. Die tödliche Waffe gegen das Kapital wird also dem Kapitalisten in den Schrank gelegt. Die Minderheit der Arbeiterschaft soll sich ferner nach der ausdrücklichen Bestimmung des Gesetzes dem Streikbeschluß der Mehrheit fügen, aber das Gesetz kennt keine Strafen für den Fall, daß sie sich dem Beschluß nicht fügt, sondern weiterarbeitet. Das dem Unternehmer zum Zwecke des Selbstmordes eingehändigte scharfe Messer hat bei näherem Zusehen eigentlich keine Klinge. Endlich haben die Arbeiter allerdings das Recht, wenn sie das Einigungsverfahren erfolglos angerufen, mit Majorität den Streik zu beschließen, der Unternehmer hat aber nach wie vor die Möglichkeit, die Arbeiter allesamt und jeden besonders ohne alles vorhergehende Einigungszeremoniell mitten im Streik oder nach dem Streik zum Teufel zu jagen und durch andere zu ersetzen. Dem gefährlichen Messer fehlt also in letzter Linie außer der Klinge auch noch das Heft.

Aber diese wie die anderen Millerandschen Reformen gibt dem Arbeiter nicht nur mit der einen Hand Illusionen, sondern sie nimmt ihm auch mit der anderen faustdicke Realitäten.

Nach der Bestimmung des Gesetzentwurfes entscheiden jedesmal über den Streik, also auch über die zu formulierenden Forderungen, nur die in einem Betriebe oder in einer Werkstatt beschäftigten Arbeitet. Als Kontrahent bei der Arbeitsvertragsschließung tritt also dem Unternehmer nicht die Gewerkschaft, sondern die Arbeiterschaft der Werkstatt entgegen. Auf diese Weise werden aber sowohl die Hebung der einzelnen Arbeitsgruppen durch gewerkschaftliche Verallgemeinerung der weitestgehenden Errungenschaften und Forderungen wie eine allgemeine Streikaktion im Berufe und über dessen Grenzen hinaus, namentlich die in Frankreich so häufigen politischen und Solidaritätsstreiks, unmöglich. [3*] Indem zur Einheit im wirtschaftlichen Kampfe die Werkstatt an Stelle der Gewerkschaft gemacht wird, wird dem Kampfe zugleich der Rückhalt in der Solidarität des Berufs und der ganzen Arbeiterschaft wie die vorwärtstreibende Kraft, die in der Leitung der Einzelkämpfe durch die Gewerkschaft liegt, genommen.

Wie das Gesetz über die Arbeitszeit der normalen Entwicklung des Arbeitsschutzes, so läuft das projektierte Streikgesetz der normalen gewerkschaftlichen Entwicklung schnurstracks zuwider, und wie jenes die natürlichen Kategorien der schutzbedürftigen Arbeiterschaft mit bürokratischem Federstrich nivelliert, so durchkreuzt dieses mit künstlichen Richtungslinien die natürlichen Kristallisationsachsen der wirtschaftlichen Organisation der Arbeiterklasse. Die verhängnisvolle Wirkung auf die Entwicklung der Gewerkschaften war auch für das Urteil der berufensten Sachverständigen, der Gewerkschaftsführer, ausschlaggebend und hat sie in Frankreich wie in Deutschland wie in Österreich in den meisten bis jetzt bekannten Fällen zur prinzipiellen Verurteilung des Millerandschen Gesetzentwurfs geführt. [4*]

Allein ein anderer maßgebender Punkt liegt unseres Erachtens noch in der obligatorischen Kraft der Schiedssprüche. Da nach dem Entwurf die Eventualität ausgeschlossen zu sein scheint, daß das obligatorische Schiedsgericht zu keiner Einigung gelangt, da ferner die von der Arbeitskammer zu fällenden Urteilssprüche offenbar nicht vorbehaltlich der Zustimmung der streikenden Arbeiter, sondern ohne weiteres rechtlich bindende Kraft besitzen, so wird der Zweck des Streiks, insofern hier nicht bloß Unklarheit des Gesetzentwurfs vorliegt, einfach unverständlich. Die Arbeiter haben offenbar keine Möglichkeit, eventuell den Schiedsspruch abzulehnen und durch Fortsetzung des Streiks die Unternehmer direkt zum Nachgeben zu zwingen oder indirekt die Beeinflussung des schiedsgerichtlichen Urteils zu ihren Gunsten zu erzielen. Der Urteilsspruch des Schiedsgerichts ist also in diesem Falle nicht wie bei seiner freiwilligen Anerkennung in der bisherigen Praxis ein Ausdruck des tatsächlichen, im Kampfe an den Tag gelegten Machtverhältnisses der beiden Seiten. Der Verlauf des Streiks, die größere oder geringere Fähigkeit, ihn länger zu führen, üben auf das Resultat des Schiedsgerichts gar keinen Einfluß, denn dessen Entscheidung wird ohne weiteres bindend.

Welche Rolle spielt demnach der Streik nach dem Millerandschen Gesetzentwurf? Lediglich den eines Signals für den Beginn eines Schiedsgerichts – ein Ergebnis, das ebenso erfolgreich z. B. durch das Heraushängen einer Fahne aus einem Fenster der Werkstatt erreicht werden könnte.

Jetzt erst, im Lichte des obligatorischen Schiedsspruchs, erscheint die epochemachende Wohltat der obligatorischen Streiks in vollem Glanze: Den Arbeitern wird der Schutz gegen die Streikbrecher gewährt, gleichzeitig aber dem Streik jeder Sinn und Zweck genommen. In diesem Lichte gewinnen auch die minutiösen und komplizierten Vorschriften über die Art und Weise der Abstimmung vor, während und nach dem Streik, über das Verhalten der Arbeiter vor und während der Abstimmung etc. ein eigentümliches Interesse. Den einzigen reellen Sinn in diesem chinesischen Zeremoniell behalten in letzter Linie nur die rigorosen Schutzbestimmungen gegen die „Beeinflussung“ der Streikenden durch „unbeteiligte Personen Bei der in Frankreich zur Regel gehörenden Leitung der größeren Streiks durch hervorragende Sozialisten, mit Vorliebe durch sozialistische Abgeordnete, bedeuten die erwähnten Vorsichtsmaßregeln des Entwurfs nichts anderes als die Beseitigung der sozialistischen „Hetzer und Aufwiegler“ vom wirtschaftlichen Kampfplatz.

In der Millerandschen Vorlage figuriert der Streik auch nur als eine leere Form, die, wie es in der ministeriellen Begründung offen gesagt wird, nur sozusagen aus Pietät für die Arbeiterklasse und Rücksicht auf ihre Vorurteile vorläufig erhalten bleibt. Die Tendenz und Vollendung des Gesetzes liegt in der endgültigen Abschaffung der Streiks, die in Neuseeland, dem Musterland des Millerandschen Entwurfs, bereits Tatsache ist.

Die neue Reform bedeutet also nicht nur die Sprengung der proletarischen Berufs- und Klasseneinheit im wirtschaftlichen Kampfe und ihre Pulverisierung in einzelne Werkstattzellen, sondern auch die Beseitigung des wirtschaftlichen Kampfes im Rahmen der Werkstattzelle selbst. Als die eigentliche Funktion der Gewerkschaft bleiben die Wahlen zu den Arbeitskammern, die einzige Funktion des Streiks, die Anrufung der Arbeitskammern zum Schiedsgericht. und der ganze wirtschaftliche Klassenkampf wird – in einen Zivilprozeß verwandelt.

Und nachdem Millerand den Gewerkschaften im Gesetzentwurf den Lebensnerv durchschnitten hat, predigt er den Arbeitern in der Begründung mit beredten Worten die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation.

Wenn sich die wichtigsten Reformen Millerands bei näherem Zusehen als klägliche Stümperei erweisen, so liegt das jedenfalls nicht an dem bösen Willen des sozialistischen Ministers. Im Gegenteil, der bestgemeinte Eifer ist in der Rührigkeit, in den im Schweiße des Angesichts an den Bürotischen des Ministeriums ausgetüftelten höchst komplizierten Projekten gar nicht zu verkennen. Er kommt am besten auf jenem Gebiete der Millerandschen Tätigkeit zum Vorschein, wo der Handelsminister nicht unmittelbar an die parlamentarische Gesetzgebung gebunden ist, das heißt in seinen Dekreten, z. B. in der Einführung des achtstündigen Arbeitstages für die Postangestellten. Die Mängel der ministeriellen Gesetze und Projekte sind aber trotzdem keine Zufälligkeit, sondern sie ziehen sich wie ein roter Faden durch das ganze sozialreformatorische Werk.

Wir haben als den markantesten Zug dieses letzteren das Einerseits und Anderseits, das Geben mit der einen und Nehmen mit der anderen Hand, kurz die Verkoppelung der Konzessionen an die Arbeiter mit solchen an die Unternehmer festgestellt. Es ist dies genau dasselbe Schaukelsystem, das für alle politischen Maßnahmen des Kabinetts kennzeichnend ist. Hier wie dort liegt der Schaukelpolitik die Bestrebung zugrunde, die vorgefundenen Gegensätze nicht zum Austrag zu bringen, sondern sie abzustumpfen, und als Mittel hierfür erscheint die äußere Regelung der tief in dem sozialen Boden wurzelnden Gegensätze durch ihre Festlegung in juristischen Normen, in denen beiden widerstreitenden Kräften scheinbar ein gewisser Raum gewährt wird, die aber schroffe Ausbrüche nach außen hin verhindern sollen. Das Amnestiegesetz war die juristische Entladung des Konfliktes zwischen der Zivilgesellschaft und der stehenden Armee, das Assoziationsgesetz ist ein Versuch, den Widerstreit zwischen der Republik und der Kirche zu vertuschen, die Sozialreformen sind die juristische Aufhebung des Kampfes zwischen Kapital und Arbeit.

Allein, die „republikanische Mehrheit“, auf die die Regierungspolitik notgedrungen zugeschnitten ist, vertritt ebensowenig die Interessen der Arbeit wie die der Demokratie. Und wie bei der scheinbar mit völliger Unparteilichkeit verfahrenden Amnestie in der Dreyfus-Sache tatsächlich die Opfer der militaristischen Reaktion ihren Vertretern ausgeliefert wurden, ebenso sind bei der in allen Punkten formell paritätischen Sozialreform im Grunde genommen die Arbeiter diejenigen, deren Interessen geopfert werden. Während Millerand die Arbeiter mit mannigfaltigen Repräsentationsrechten zu allerlei paritätischen beratenden Körperschaften (wie der Oberste Arbeitsrat, die Arbeitskammern) beschenkt, die an sich höchstens Hilfsmittel für den selbständigen Arbeiterkampf darstellen, sehen wir ihn zugleich die lebendigen Quellen dieses Kampfes: die Entwicklung der Arbeiterschutzgesetzgebung, die Sicherstellung des Koalitionsrechtes, die freie Entfaltung der gewerkschaftlichen Aktion, unterbinden. Und wenn man von dem sozialpolitischen Werke des Kabinetts sagen kann, daß es, wie dessen politisches Werk, einzig und allein die Abstumpfung der Gegensätze und die Milderung ihrer äußeren Erscheinungsformen anstrebt, so muß man hinzufügen, daß es diesen Zweck hier auf Kosten der Arbeiterinteressen wie dort auf Kosten der Demokratie erreicht.

Daher ist es auch ferner weder Zufall noch Monstrosität, wenn wir zugleich mit der Ausarbeitung von Gesetzen „zum Schutze der Streikenden“ Niedermetzelungen streikender Arbeiter (in Chalon und auf der Insel Martinique), zugleich mit offizieller Ermunterung der Arbeiter, sich zu organisieren, die Verwendung von Soldaten als Streikbrecher sehen (gegenwärtig in Montceau-les-Mines [2], siehe Petite République vom 7. Februar 1901). Es ist dies nicht ein Widerspruch mit der sozialreformatorischen Tätigkeit Millerands, sondern bloß eine logische Ergänzung dazu. Der Grundgedanke dieser Tätigkeit, der gleichzeitige Schutz der Interessen der Arbeiter und der Unternehmer, der ersteren durch illusorische, der letzteren durch materielle Konzessionen, findet seinen handgreiflichen Ausdruck in der gleichzeitigen Ausarbeitung papierener Beglückungsmaßregeln für Arbeiter und der Beschirmung des Kapitals mit der eisernen Realität des Bajonetts.

Die Mängel der Millerandschen Sozialreformen finden also darin ihre erschöpfende Erklärung, daß diese Reformen nur eine getreue Übertragung der allgemeinen leitenden Prinzipien der politischen Aktion der Regierung auf das Gebiet der Sozialpolitik darstellen, mit anderen Worten, daß Millerand tatsächlich nicht als sozialistischer, sondern als radikaler Minister funktioniert.

Und darin liegt der Schwerpunkt der Frage. Der Eintritt Millerands in das Ministerium wird unter anderem durch den Hinweis auf seine sozialreformatorische Tätigkeit gerechtfertigt. Millerand ist aber tatsächlich nicht nur nicht der Urheber des sozialreformatorischen Werkes des Kabinetts – dieses ergab sich, wie wir gesehen, als eine Existenzbedingung für das radikale Ministerium selbst. Er hat auch den Charakter der Sozialreform nicht bestimmt. Die Verhältnisse haben sich stärker als die Einzelpersonen erwiesen, und der Sozialist, der in eine bürgerliche Regierung eingetreten ist, hat nicht die Sozialpolitik der Regierung zum Werkzeug der sozialistischen Bestrebungen gemacht, sondern ist umgekehrt in seiner Sozialpolitik zum Werkzeug der bürgerlichen Regierung geworden.

Die Sozialreform im bürgerlichen Staate ist, wenn sie auch nicht notwendig so kläglich zu sein braucht, wie es gerade diejenige Millerands trotz seiner besten Absichten ist, von vornherein eine Halbheit, ein Flickwerk. Und es ist dies sehr natürlich. Abgesehen von den ersten Anfängen der Arbeiterschutzgesetzgebung, die überall durch Rücksichten auf die nationale Selbsterhaltung erzwungen werden, ist die Sozialreform in allen kapitalistischen Ländern nur ein Produkt des hartnäckigen und beharrlichen Kampfes zwischen der Arbeiterschaft und den herrschenden Klassen. Nur insofern es aus politischen Rücksichten, zur Befriedigung der durch die sozialistische Partei angestachelten Arbeiterschaft absolut notwendig ist, werden Konzessionen gemacht. Die Anwesenheit eines Sozialisten in der Regierung ändert an dieser Sachlage nicht das geringste. Denn auch ein sozialistischer Minister ist, solange er im bürgerlichen Ministerium figuriert, das heißt solange nicht Interessen der Arbeiterklasse, sondern die des Kapitals im Staate herrschen, an die Zustimmung der bürgerlichen Majorität der Regierung und der Volksvertretung gebunden.

Die Hoffnung also, mit Hilfe des sozialistischen Ministers einen ungeahnten Aufschwung der Sozialreform herbeizuführen, war von vornherein eine die konkreten Verhältnisse ganz außer acht lassende Utopie. Ja umgekehrt, der sozialistische Minister kann dadurch, daß er unbegründete Illusionen und Hoffnungen hervorruft, ein Hindernis für die normale Entwicklung der Sozialreform werden.

Das Hauptmittel, die Sozialpolitik der herrschenden Klassen vorwärtszutreiben, die rücksichtslose Kritik an ihr seitens der sozialistischen Partei wird, sobald ein Sozialist als Vertreter der offiziellen Sozialpolitik auftritt, noch weniger möglich als die Kritik an der Gesamtpolitik der Regierung. Erstreckt sich diese auf Handlungen, an denen der Sozialist wenigstens nicht unmittelbar teilzunehmen braucht, so richtet sich diese direkt gegen den sozialistischen Minister und sein eigenes Werk.

Tatsächlich wird durch die Anhänger Millerands in Frankreich ein Zustand der Verblendung und der Hypnose herbeigeführt, in dem jede sozialpolitische Maßnahme der Regierung von vornherein als ein epochemachendes sozialistisches Werk aufgenommen wird.

Das Gesetz über die Arbeitszeit, das einzige in der Welt, das prinzipiell zwölfjährige Kinder ebenso lange arbeiten läßt wie Erwachsene, dieses Gesetz ist nach Jaurès „einer der größten Fortschritte, die die Arbeitermasse genießen kann, einer der größten Erfolge des Proletariats“ (Petite République vom 16. Januar 1900), ja „die gesetzliche Wiederherstellung der Einigkeit der Arbeiterklasse!“ [5*] (Petite République vom 20. Januar 1900.)

Das Rundschreiben des Handelsministers an die Fabrikinspektoren, worin sie aufgefordert werden, sich mit den Gewerkschaften ins Einvernehmen zu setzen, ist „das kühnste Werk“, „ein denkwürdiges Datum in den Annalen des organisierten Proletariats“. (Gérault-Richard, Petite République vom 21. Januar 1900)

Das bescheidene Dekret, wonach ortsübliche Arbeitsbedingungen bei den öffentlichen Arbeiten verpflichten sollen, ist ein „sozialistisches Werk Millerands“. (Petite République vom 7. August 1899)

Das partielle Wahlrecht der Gewerkschaften zu dem Obersten Arbeitsrat – einer von Napoleon III. geschaffenen Institution, die nach der Reform Millerands durch acht verschiedene Wahlmodi zusammengestellt wird, deren Ergründung für einen gewöhnlichen Sterblichen mindestens vier Wochen erfordert, während die Funktion der ganzen Körperschaft in einer Beratung durch fünfzehn Tage im Jahre besteht –, das Wahlrecht eines Drittels der Mitglieder zu diesen bahnbrechenden Institution bildet zusammen mit dem vorhin erwähnten Dekret „sozialistische Setzlinge, gepflanzt in kapitalistischen Boden, die wunderbare Früchte tragen werden“. (Petite République vom 21. Januar 1900)

Die Verherrlichung jeder Tat Millerands geht bei seinen Anhängern direkt bis zur offenen Verleugnung der eigenen Ansichten. Nachdem Jaurès dem Generalstreik systematisch und bei jeder Gelegenheit das Wort geredet, erklärt er die Vorlage über den obligatorischen Streik, bei dem jede allgemeine Aktion, also erst recht der Generalstreik, ausgeschlossen wird, als die herrlichste „Anbahnung der Kollektivaktion des Proletariats“. (Petite République vom 20. Dezember 1900)

Ja sogar einzelne Worte und Gesten Millerands werden dem Arbeiterpublikum als höchste Triumphe des Sozialismus serviert. So ist zum Beispiel die Fahrt des Handelsministers zu einem Bankett der Industrieschule in Lille und seine Bankettrede daselbst „einer der größten und fruchtbarsten Momente, die die Geschichte des Sozialismus und der Republik zu verzeichnen hat“. (Jaurès, Petite République vom 18. Oktober 1899.) Dementsprechend ist die Ansicht zu korrigieren, wonach irrtümlich als der größte Moment in der Geschichte des französischen Sozialismus die Pariser Kommune aufgefaßt wurde.

Wenn die französische Sozialpolitik hinter der fast aller kapitalistischen Staaten steht, so trägt daran nicht nur die wirtschaftliche und politische Rückständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich, sondern auch die Gleichgültigkeit der Arbeiterklasse in hohem Masse die Schuld. Als Erbstück der zahlreichen Revolutionen ist dem französischen Proletariat der Hang zum Extrem nach zwei Seiten hin geblieben: einerseits zur einseitigen Überschätzung der politischen Aktion und der ausschließlichen Hoffnung auf politische Umwälzungen, andererseits zur einseitigen Unterschätzung der politischen Aktion und der ausschließlichen Hoffnung auf die „Selbsthilfe“. Aus beiden Extremen ergab sich aber gleichmäßig die Vernachlässigung des alltäglichen mit politischer Einwirkung auf die gesetzliche Reform gepaarten wirtschaftlichen Kampfes.

Die französischen Gewerkschaften stellen bis jetzt, trotzdem ihre Mitgliederzahl, wenigstens auf dem Papier, ziemlich achtunggebietend aussieht (493.000 im Jahre 1899), eine sehr geringe Macht dar. Zu der weitgehendsten Zersplitterung – fast jedes Gewerbe wird in jeder Ortschaft durch mehrere Organisationen vertreten – tritt noch die Mittellosigkeit der Kassen hinzu – das Komitee der Generalkonföderation der Arbeit zum Beispiel, eines über 100.000 Mitglieder umfassenden und weitverzweigten Bundes, weist für zwei Jahre (1898–1900) eine Einnahme von 2.100 Mark auf! –, endlich der überwiegend halbanarchistische Charakter der Gewerkschaften mit der Vorherrschaft der Idee des Generalstreiks.

Bei diesem Zustand der Arbeiterorganisationen würde auch die beste Sozialreform zum großen Teil auf dem Papier bleiben. In Frankreich kommt sie aber, da sich die Arbeiterschaft auch um ihre Entwicklung wenig kümmert, aus dem Rahmen der opportunistisch-radikalen Stümperei nicht heraus. Gerade in dem dominierenden Zug der bisherigen französischen Arbeiterschutzgesetzgebung, in dem dilettantischen, planlosen Experimentieren, kommt am augenscheinlichsten der Mangel an Kontakt dieser Reformtätigkeit mit einer zielsicheren und kräftigen Gewerkschaftsbewegung, mit der Praxis des alltäglichen Kampfes zum Vorschein.

Um hier Wandel zu schaffen, müßten vor allein die französischen Gewerkschaften zu einer selbständigen Aktion, zu einem kräftigen Kampfe um die Besserung der Arbeitsbedingungen auf gesetzlichem und wirtschaftlichem Wege angetrieben werden. Die Sozialreform Millerands wirkt aber nach gerade entgegengesetzter Richtung. Materiell ist sie bestrebt, den Gewerkschaften den Lebensinhalt, den ungehinderten wirtschaftlichen Kampf zu entziehen und sie aus Kampfesorganisationen zu einem Teile des künstlich erdachten Apparats für den sozialen Frieden zu verwandeln, formell macht sie obendrein die Kritik und die selbständige Angriffsaktion der Arbeiterschaft auf die offizielle Sozialpolitik unmöglich.

Die Ministerschaft Millerands bedeutet auf diese Weise, weit entfernt, eine neue Ära der Sozialreformen in Frankreich zu inaugurieren, das Aufhören des Kampfes der Arbeiterklasse um soziale Reformen, bevor er noch begonnen hatte, das heißt die Erstickung desjenigen Elements, das einzig der verknöcherten französischen Sozialpolitik ein gesundes modernes Leben einflößen könnte.

Fußnoten

1*. Wir bekommen übrigens soeben einen neuen interessanten Beitrag zu dem besprochenen Gesetz. Die Petite République vom 9. Februar bringt den Entwurf eines Dekrets von Millerand, in dem eine ganze Reihe von ausnahmsweisen Verlängerungen der Arbeitszeit der Erwachsenen (um 1 bis 2 stunden) in gemischten Betrieben vorgesehen ist. Ausnahmen von der gesetzlichen Arbeitsdauer sind an sich eine ständige Erscheinung in der Praxis des Arbeiterschutzes. Wenn aber Millerand, nachdem er die gleiche Arbeitsdauer der Kinder und der Erwachsenen zur Grundlage seines Gesetzes gemacht hat, hinterdrein durch Dekrete die Arbeitszeit der Erwachsenen wieder verlängert, so beweist er, daß es ihm entweder mit der Ausführung seines Gesetzes oder mit der Begründung, die er dem Gesetz gab, nicht ernst ist. In beiden Fällen erscheinen die Opfer der Fabrikkinder als vergeblich.

2*. So haben sich denn auch die französische Generalkonföderation der Arbeit wie der 1900 in Paris abgehaltene Kongreß der französischen Arbeitsbörsen entschieden gegen die Reform ausgesprochen. – Für den juristischen der Vorlage siehe den vortrefflichen Artikel von Marius Moutet in Mouvement Socialiste, Nr. 30.

3*. Der Hinweis Herbsts (Deutsche Worte, Nr.1 d.J.), daß die Arbeitskonflikte in jedem Industrie Bezirk von der gleichen Arbeitskammer entschieden werden, in den Arbeitsbedingungen also auf die Weise eine Gleichmäßigkeit herbeigeführt wird, ist hinfällig. Die Arbeitskammern urteilen nur über die jedesmal von den Arbeitern einer Werkstatt gestellten Forderungen, ohne in ihrem Urteil über sie hinausgehen zu können. es kommt aber darauf an, die Gleichmäßigkeit in der Aufstellung der Forderung zu erzielen. und dies kann nur die Gewerkschaft.

4*. Siehe die ausgezeichnete Besprechung Legiens im Vorwärts vom 25. Dezember 1900, wie die Artikel im Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, Nr. 47 und 51 vorigen Jahres, ferner den Oestereichischen Metallarbeiter vom 29. November 1900 und die Voix du Peuple vom 3. bis 10. Februar. auf die entschieden ablehnende Haltung eines großen Teils der französischen Gewerkschafter ist unter anderem ihre bekannte Schwärmerei für den Generalstreik von Einfluß.

5*. Jaurès malt sogar ein farbenprächtiges Bild, wie alle Arbeiter auf einen Schlag aus der Werkstatt herausschwirren werden – die Mädchen, um sich ihrer wohlerhaltenen Schönheit zu erfreuen, die Mütter, um an die Wiege ihrer Säuglinge zu eilen, die Männer, um sich in ernstem Studium zu Arbeitern der Revolution heranzubilden, und Kinder, um sich an dem großen Licht und der Musik des Waldes zu berauschen. Jaurès hat nur vergessen, daß es um die Zeit, wo die Kinder nach dem Millerandschen Gesetz aus der Fabrik herausschwirren, im Walde bereits ganz dunkel ist und die Vöglein längst eingeschlafen sind.



Anmerkung

1. Am 20. Juni 1899 hatte die Regierung im Reichstag einen Gesetzentwurf „zum Schutz der gewerblichen Arbeitsverhältnisse“, die sogenannte Zuchthausvorlage, eingebracht, die sich gegen die zunehmende Streikbewegung richtete und die Beseitigung des Koalitions- und Streikrechts der Arbeiter bezweckte. Auf Grund gewaltiger Massenaktionen konnte diese Vorlage am 20. November 1899 im Reichstag gegen die Stimmen der Konservativen zu Fall gebracht werden. dieser Gesetzentwurf geht auf einen Geheimerlaß vom 11. Dezember 1897 zurück, den der Vorwärts am 15. Januar 1898 veröffentlicht hatte.

2. Im Februar 1901 waren in Montceau-les-Mines die Bergarbeiter für Lohnerhöhung und Verkürzung der Arbeitszeit in den Streik getreten. Kurz darauf wurden 3.000 Soldaten in der Stadt einquartiert, unter deren Schutz im März Mitglieder sogenannter gelber Gewerkschaften die Arbeit aufnahmen. Im Mai 1901 beendeten die Bergarbeiter den Streik, ohne eine Verbesserung ihrer Lage erreicht zu haben.


Zuletzt aktualisiert am 11.1.2012