Rosa Luxemburg


Zur Frage des Terrorismus in Rußland

(August 1902)


Leipziger Volkszeitung, I: Nr. 197 vom 27. August 1902; II: Nr, 201 vom 1. September 1902. [1]
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1 2. Halbbd., S. 275–280.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I

Leipzig, 27. August

Die Leipziger Volkszeitung hat in ihrer Montagsnummer das von der russischen Terroristengruppe aus Anlaß des Attentats auf den Charkower Gouverneur, Fürsten Obolenski, veröffentlichte Dokument zur Information der Leser mitgeteilt [2], wir können aber nicht umhin, zu bemerken, daß dieses Dokument sowie das bereits vor einiger Zeit gleichfalls von uns abgedruckte Manifest über die Konstituierung der terroristischen Organisation in uns mancherlei Bedenken hervorgerufen hat.

Sowenig es uns möglich ist, von Deutschland aus über die Einzelheiten der Parteitaktik unserer russischen Genossen mit voller Sicherheit ein Urteil zu fällen, sosehr liegt es andererseits in unserem Interesse, die Bahnen, welche die nun erwachte revolutionäre Bewegung im Zarenreiche wandelt, aufmerksam zu beobachten und uns über ihre jeweiligen Aussichten klare Rechenschaft abzulegen. Seit in letzten Jahren aus dem politischen „Ewigschneefeld“ des Zarenreiches ein warmer Frühlingswind zu wehen begann, seit das scheinbar Undenkbare zur Wirklichkeit geworden und eine revolutionäre Massenerhebung [3] des arbeitenden Volkes die jahrhundertalte schwere Eisdecke des Absolutismus von unten aus zu sprengen unternahm, belebten sich von neuem die Hoffnungen aller Freiheitsfreunde in Westeuropa, d. h., genauer gesprochen, aller sozialistischen Parteien. Man faßte wieder Mut und Glauben, daß die bis dahin unlösbare Aufgabe der Stürzung der russischen Despotie doch noch in absehbarer Zeit ihrer Lösung entgegengeführt werden könnte, und daraus erklärt sich die warme Teilnahme und das gespannte Interesse, mit denen man die ungewohnten Nachrichten von den Arbeiterdemonstrationen, von den Massenaufzügen in den großen Städten Rußlands aufnahm. Aus allen diesen Einzelnachrichten mußte man den Eindruck eines tiefernsten, achtunggebietenden Kampfes zwischen dem russischen Proletariat und dem Absolutismus gewinnen. Nun will es uns aber scheinen, daß die letzten Nachrichten, die in der deutschen Presse von der terroristischen Partei erscheinen, eher geeignet sind, diesen Eindruck zu erschüttern, als zu befestigen.

Die Frage des Terrorismus in Rußland als einer Waffe im Kampfe mit der zarischen Übermacht kann von verschiedenen Gesichtspunkten angefaßt werden. Handelt es sich um individuelle Akte der Verzweiflung und des Opfermutes einzelner Freiheitskämpfer, um elementare Ausbrüche des zum äußersten getriebenen Volkszornes, dann gehört nur das echte Scharfmachergemüt einer „Post“ oder eine echt deutsche freisinnige Seele à la Tante Voß dazu, um solche reinen Abwehrakte als „Propaganda der Tat“, als Fürstenmord etc. zu verdammen. Jeder rechtlich denkende, politisch anständige Mensch muß den Verzweiflungsakten der von russischen Satrapen mit unmenschlicher Grausamkeit und mit Raffinement niedergetretenen Pioniere der Volksbefreiung seine tiefste Teilnahme, Achtung und Bewunderung zollen. Und da das Gefühl der Rechtlichkeit und der politische Anstand im besseren Sinne heutzutage in Deutschland so ziemlich in der klassenbewußten Arbeiterschaft ihre einzige Vertretung finden, so zeigte sich auch aus Anlaß der Diskussion über das Attentat auf den Wilnaer Gouverneur, v. Wal [4], daß die gesamte sozialdemokratische Fresse mit der Leipziger Volkszeitung einig war, als uns die freisinnige Vossische Zeitung wegen der „Verherrlichung“ des Attentäters mit freisinnigem Mut vor Fürsten thronen zu denunzieren versuchte.

Solchen spontanen individuellen Akten des Terrorismus gegenüber, wie im Falle des Studenten Karpowitsch, der den Minister Bogolepow getötet hat [5], oder des Wilnaer Arbeiters Leckert, ist auch die Frage von der Zweckmäßigkeit unangebracht. Sie wird erst berechtigt und notwendig, wenn wir die andere Art des Terrorismus vor uns haben, wie sie von der Gruppe der Sozialisten-Revolutionäre vertreten wird, den systematischen Terrorismus, den Terrorismus als zielbewußte Taktik einer bestimmten sozialistischen Organisation, angewendet zur Erzielung eines politischen Effekts. Vor einigen Monaten hatten wir nur mit der ersten Art der terroristischen Anschläge in Rußland zu tun und konnten lediglich unsere tiefe Sympathie für die heldenmütige Selbstaufopferung der Märtyrer des barbarischen Regimes aussprechen. In den letzten Monaten bekommen wir jedoch immer häufiger Nachrichten von einem speziellen terroristischen Komitee der Sozialisten-Revolutionäre, und da müssen wir uns fragen, ob dies auch in der heutigen Situation eine richtige Taktik unserer russischen Genossen ist.

Wir stehen nicht an, offenheraus zu sagen, daß wir dies bezweifeln. Der Terrorismus als System wird das absolute Regime in Rußland von selbst nicht stürzen. Das hat bereits das große Experiment der „Narodnaja Wolja“ bewiesen. Jeder weggeräumte Zar findet einen Nachfolger und jeder getötete Gouverneur desgleichen. Um das Regime zu fällen, muß an seine Wurzel die Axt gelegt werden, die Wurzel des Absolutismus aber, das ist der politische Stumpfsinn der Volksmasse. Abgesehen etwa von einer Kalamität der auswärtigen Politik, wie z. B. einem unglücklichen Krieg, der übrigens an sich nur die Mauern des Absolutismus erschüttern, aber nichts Positives zu erschaffen vermag, kann das Zarentum nur durch eine regelrechte zielbewußte Volkserhebung gestürzt werden, die aber ihrerseits nur durch eine dauernde aufklärende und organisatorische Arbeit vorbereitet werden kann. Die russische Sozialdemokratie hat diese Arbeit seit einigen Jahren unternommen, und die letzten Massendemonstrationen beweisen, wie fruchtbar der Boden und wie richtig die Taktik ist.

Ein systematischer Terrorismus kann nun, wie uns scheint, auf dieses schwierige und langwierige Werk der Organisation der Arbeitermassen störend wirken. Nicht deshalb etwa, weil er einen erwünschten Anlaß zu Repressalien und zur Reaktion bietet. Die Reaktion in Rußland kann nicht füglich ärger werden, und sie bemüht sich auch nicht darum, nach Anlässen zu suchen, weil sie eine ständige Einrichtung, weil sie die Norm im Zarenteiche ist. Aber der Terrorismus kann unseres Erachtens leicht die Massen verwirren und von der Bahn des langsamen alltäglichen politischen Kamp-Fes auf die leichtere Bahn der raschen gewaltsamen Einzelkämpfe drängen. Während ferner der Terrorismus naturgemäß den unmittelbaren Kampf in die Hände einer kleinen geschlossenen Gesellschaft von „Auserwählten" zu spielen bestrebt ist, ist es jetzt gerade eine Lebensfrage für die russische Revolution, der breiten Volksmasse klarzumachen, daß nur sie selbst, daß sie einzig und allein den Absolutismus zu besiegen imstande ist. Schließlich arbeitet der systematische Terrorismus auch darin dem organisatorischen Werk unter der Arbeiterklasse entgegen, daß er auch den Absolutismus durch Furcht vor einem geheimnisvollen, unsichtbaren und doch allmächtigen „Komitee“ zu Zugeständnissen zu zwingen sucht, während es gilt, dem Absolutismus, der diese „Komitee“schrecken bereits vor zwei Jahrzehnten glücklich überwunden hat, endlich einmal vor der Volksmasse als einem zielbewußten politischen Feinde Furcht einzuflößen.

Wir möchten noch die Bemerkung hinzufügen, daß ein an steh nebensächlicher äußerer Umstand uns die oben dargelegte Auffassung zu bestätigen scheint. Es ist dies das Brimborium, womit das russische Terroristenkomitee seine Tätigkeit umgibt, der Tamtam, die bereits fertigen Todesurteile, die den lebendig gebliebenen Verurteilten eingehändigt werden, die Pistolen mit eingravierten schrecklichen Worten, der schleunige detaillierte Bericht der Partei über das Verhalten des so schwer zugänglichen Eingekerkerten, ein Bericht, der den Eindruck erweckt, als ob er einfach auf Grund im voraus mit dem Attentäter verabredeter Erklärungen und Gesten abgefaßt wäre etc. Wir wollen den persönlichen Mut, die Überzeugungstreue, die Opferfreudigkeit des betreffenden russischen Revolutionärs, der das Attentat auf den Fürsten Obolenski versucht hat, deshalb gar nicht geringer einschätzen. Aber dies Drum und Dran des Attentats, besonders die Kommuniques des Terroristenkomitees machen unwillkürlich ein wenig den Eindruck einer terroristischen Spielerei, und die Spielerei gleich im Anfang der terroristischen Praxis wäre ein feines, aber sicheres psychologisches Symptom der Verkehrtheit der Taktik selbst.

Noch ein wichtiger Nebenumstand macht uns die politische Reife der russischen Terroristengruppe etwas verdächtig. In demselben Dokument in Sachen des Attentats auf Obolenski, das wir in unserer Montagsnummer abgedruckt haben, teilt die genannte Organisation mit, der eingekerkerte Attentäter hätte in seiner schriftlichen Aussage (die offenbar mit dem Komitee verabredet war) erklärt, daß die revoltierenden Bauern von der Terroristenpartei zum Kampfe aufgefordert worden wären. Nun mag es sicher stimmen, daß u. a. auch Flugblätter revolutionären Inhalts unter den Bauern verbreitet waren. Soviel man aber von den jüngsten ländlichen Revolten gehört hat und soviel uns die Verhältnisse dort überhaupt bekannt sind, waren die russischen Bauernaufstände reine Elementarbewegungen, durch äußerste Not und Hunger hervorgerufen, ohne jeden bestimmten politischen Charakter und vollends ohne bestimmten politischen Zweck. Die Sozialisten-Revolutionäre dürften also hier die eigene Rolle etwas übertrieben haben. Sind sie aber tatsächlich für die letzten Bauernrevolten, wenn auch zum kleinen Teil, mitverantwortlich, dann stellen sie sich selbst ein sehr ungünstiges politisches Zeugnis aus. Denn der Zweck so chaotischer und unorganisierter Revolten in einem so wenig vorbereiteten und entsprechenden Moment ist als bewußte politische Taktik einfach unverständlich. Und dieser Umstand muß im Verein mit der Art und Weise, wie der Terrorismus von dieser Gruppe praktiziert wird, ihre ganze Taktik des Leichtsinns verdächtig machen.

Wir versprechen uns selbstverständlich nicht, durch vorstehende Bemerkungen die Taktik der russischen Sozialisten zu beeinflussen, glauben aber, daß es heilsam wäre, wenn die deutsche Parteipresse, der ja Nachrichten von den russischen Genossen mitgeteilt werden, diesen kritisch gegenüberstehen würde, um sich über die Schicksale der russischen revolutionären Sache, die auch unsere Sache ist, klarzuwerden.

Zum Schluß möchten wir noch bei dieser Gelegenheit eine interessante Tatsache hervorheben. Während man bei uns daheim bekanntlich den „orthodoxen“ Marxismus der blanquistischen Neigungen verdächtigt und bekanntlich bei Marx selbst den Bazillus des Blanquismus entdeckt hat, sind in dem einzigen Lande, wo die blanquistische Taktik praktische Anwendung finden kann, in Rußland, es nicht „orthodoxe Marxisten“, die ihr das Wort reden. Im Gegenteil, die russische Sozialdemokratie, die von Wera Sassulitsch und anderen vertreten wird, verwirft den systematischen Terrorismus für den gegenwärtigen Augenblick mit aller Entschiedenheit. Ausgeübt und verfochten wird diese jedenfalls stark mit dem Blanquismus verwandte Taktik von derjenigen Gruppe der russischen Sozialisten, die gleich unseren deutschen Revisionisten einen Befreiungskrieg gegen das „marxistische Dogma“ führt.


II

Zur Frage des Terrorismus in Rußland haben wir in unserem Leitartikel vom 27. August einige Bemerkungen gemacht und die Parteipresse zur kritischen Beurteilung der betreffenden Nachrichten aus Rußland aufgefordert.

Der Vorwärts vom 30. August bringt nun zu derselben Frage die folgende Notiz:

„Über ein russisches Terroristenkomitee, auf dessen ‚Auftrag’ hin das Attentat auf den Gouverneur von Charkow unternommen worden sei, wurden in der Presse in den letzten Tagen eingehende Berichte verbreitet. Ein ‚Augenzeuge’ gab z. B. nicht nur eine ganz genaue Schilderung der Vorgänge des Attentates, sondern auch über das Verhör des Verhafteten, das doch sicher unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattgefunden hat, wurden bis ins kleinste detaillierte Angaben gemacht. Wir haben von diesen Berichten keine Notiz genommen, weil sie uns zu deutlich den Stempel der Unwahrscheinlichkeit zu tragen schienen. Wenn ein terroristisches Komitee existiert, in dessen Auftrag politische Attentate in Rußland vollführt werden, so wird dasselbe sorgfältig vermeiden, sich durch Verbreitung derartiger Sensationsberichte in ein äußerst zweifelhaftes Licht zu setzen.“

Wir fühlen uns verpflichtet, da wir zuerst Bedenken über die gegenwärtige terroristische Taktik der russischen Sozialisten-Revolutionäre geäußert haben, ausdrücklich zu bemerken, daß von der politischen Zweifelhaftigkeit des Terroristenkomitees in Rußland für diejenigen, die mit den Verhältnissen bekannt sind, gar nicht die Rede sein kann. Sowohl die Existenz der terroristischen Kampforganisation der Sozialisten-Revolutionäre wie die makellose politische Ehrenhaftigkeit ihrer Mitglieder wie endlich das tatsächlich in ihrem Auftrag ausgeübte Attentat in Charkow können nicht im geringsten in Zweifel gezogen werden.

Was einzig und allein zweifelhaft erscheint, ist der Wert, die Zweckmäßigkeit der terroristischen Taktik, und wenn wir auf die etwas kindische Art und Weise hingewiesen haben, wie die russischen Terroristen ihre Tätigkeit zur Schau tragen, so galten uns diese Äußerlichkeiten lediglich als ein Symptom der Verfehltheit der Taktik selbst. Daß diese Äußerlichkeiten tatsächlich kein Zufall, sondern in näherem Zusammenhang mit der Inopportunität des systematischen Terrorismus in der heutigen Lage Rußlands stehn, werden wir vielleicht ein andermal näher darlegen.


Fußnoten

1. Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Aus einem Brief Rosa Luxemburgs vom 27. April 1904 an Kurt Eisner geht hervor, daß sie die Verfasserin ist. (Siehe Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Zentrales Parteiarchiv, NL 60/66, Bl. 55/56.)

2. Am 11. August 1902 war auf den Gouverneur I. M. Obolenski ein Attentat verübt worden. Die Leipziger Volkszeitung veröffentlichte das Dokument der Terroristen am 25. August 1902 unter dem Titel Eine Urteilsvollstreckung des Terrorismus.

3. Seit der Gründung der SDAPR 1898 war die revolutionäre Bewegung in Rußland erstarkt. Die Arbeiter gingen von ökonomischen zu politischen Streiks und Demonstrationen über und bezogen auch andere Schichten des Volkes in den Kampf gegen den Zarismus mit ein.

4. Auf den Gouverneur von Wilna, W.W. von Wal, war im Zusammenhang mit seinem Befehl, die verhafteten Teilnehmer der Feier zum 1. Mai 1902 auszupeitschen, von G.D. Leckert ein Attentat verübt worden. Leckert wurde im Juni 1902 hingerichtet.

5. Der zaristische Volksbildungsminister, N.P. Bogolepow. war im Februar 1901 getötet worden.


Zuletzt aktualisiert am 1. Januar 2015