Rosa Luxemburg


Nach dem ersten Akt

(Februar 1905)


Die Neue Zeit, 23. Jg. 1904/1905, 1. Bd., Nr. 19, 1. Februar 1905, S. 610–614.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 485–490.
Kopiert von der Webseite Sozialistische Klassiker, die leider nicht mehr online ist.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Vor einer Woche schrieben wir über die Revolution in Petersburg, heute ist es die Revolution fast im ganzen Reiche. In allen größeren Städten – in Moskau, Riga, Wilna, in Mitau und Libau, in Jekaterinoslaw und Kiew, in Warschau und Lodz haben die Proletarier mit Massenstreiks – in Warschau mit einem Generalstreik im buchstäblichen Sinne – auf die Petersburger Schlächterei geantwortet und ihre politische Klassensolidarität mit dem Proletariat an der Newa tatkräftig bewiesen. Und mit der Masse, die in Aktion tritt, wächst, um mit Marx zu reden, auch „die Gründlichkeit“ der Masse, deren Aktion sie ist.

In Petersburg war die Erhebung des Proletariats spontan und das Signal dazu von einem zufälligen Führer gegeben, wenn auch die Ziele, das Programm und damit der politische Charakter der Erhebung, wie jetzt durch genaue Berichte festgestellt ist, direkt durch das Eingreifen sozialdemokratischer Arbeiter bestimmt wurden. Im übrigen Reiche und namentlich in Polen war die Urheberschaft und die Leitung der Bewegung von vornherein in den Händen der Sozialdemokratie. Freilich, auch hier nicht in dem Sinne, daß die Sozialdemokratie aus freien Stücken, nur nach eigenem Gutdünken die Massenstreiks aus dem Boden gestampfe hätte. Sie mußte sich vielmehr überall dem Drängen der Arbeiterschaft anpassen, die schon durch die ersten Nachrichten und Gerüchte von den Petersburger Ereignissen in Erregung kam und instinktiv zur solidarischen Aktion griff. Aber die Sozialdemokratie war es, die dem Stürmen der Masse sofort den nötigen Ausdruck, die politische Parole und die klare Richtung gab.

So hat die russische Revolution, im ganzen betrachtet, bereits am Tage nach dem Blutbad vom 22. Januar den ausgesprochenen Charakter einer politischen Klassenerhebung des Proletariats erhalten. Denn gerade das Echo, das die Petersburger Ereignisse sofort in anderen Industriestädten und Gegenden Rußlands gefunden, ist der beste Beweis, daß es sich in Petersburg nicht um eine isolierte blinde Verzweiflungsrevolte einer bestimmten Arbeiterschaft handelte, wie deren mehrere und blutige unter der russischen Bauernschaft von Zeit zu Zeit seit jeher vorkommen, sondern daß es ein Ausdruck derselben Gärung und derselben Bestrebungen war, die in den Industriearbeitern im ganzen Reiche lebendig sind. Eine derartige bewußte offene Solidaritätsaktion, und zwar politische Solidaritätsaktion, der Arbeiterstaft in den verschiedenen Städten und Gegenden Rußlands hat es noch nicht gegeben, seit das Zarenreich existiert. Auch nicht die Maifeier, deren Idee in Rußland mächtig gewirkt, hat es je vermocht, eine annähernd zusammenhängende Massenkundgebung hervorzurufen. Erst der unmittelbare Kampf hat sie plötzlich zur Tat werden lassen und zum erstenmal bewiesen, daß die Arbeiterklasse im Zarenreich nunmehr nicht bloß ein abstrakter Begriff oder ein mechanisches Aggregat isolierter Proletariergruppen mit gleichartigen Interessen und parallelen Bestrebungen ist, sondern ein organisches, aktionsfähiges Ganzes, eine politische Klasse mit gemeinsamem Willen und gemeinsamem Klassenbewußtsein. Seit den Kämpfen der letzten Woche gibt es im Zarenreich nicht mehr zersprengte russische Arbeiter im Norden, im Süden, im Osten, lettische, jüdische, polnische Proletarier, die, jeder Trupp für sich, an den Ketten der gemeinsamen Sklaverei rütteln. Dem Zarentum gegenüber steht heute eine geschlossene proletarische Phalanx, die durch die ungeheuren Opfer im Kampfe bewiesen hat, daß sie das uralte Losungswort der Regierungsweisheit jedes Despotismus: divide et impera [teile und herrsche], gründlich zu durchkreuzen verstanden hat und die durch das vergossene Blut viel wirksamer als durch alle papiernen „Verträge“ geheimer Parteikonventikel zu einer revolutionären Klasse zusammengekittet worden ist.

Darin liegt der bleibende Wert der letzten Januarwoche, die in der Geschichte des internationalen Proletariats und seines Emanzipationskampfes eine epochemachende ist. Das Proletariat Rußlands hat zum erstenmal die politische Bühne als selbständige Macht beschritten, hat in der Schlächterei des 22. Januar seine historische Bluttaufe erhalten, wie das Pariser Proletariat in der Junischlächterei [1*], und ist als neues aktives Glied in die internationale Familie des kämpfenden Proletariats eingetreten.

Daß diese gewaltige Tatsache für den bürgerlichen Literaten nicht existiert, der sich darauf beschränkt, das befürchtete Martyrium Maxim Gorkis [2*] schleunigst zur gemeinen Münze mossischer Reklamezwecke auszuprägen, ist nicht mehr wie in der Ordnung. Will man gar in reinster Form die grotesken Sprünge der bürgerlichen „Intelligenz“ vom heutigen Tage vor dem historischen Drama an der Newa Spaßes halber einmal betrachten, so braucht man nur die in allen Farben des „modernen“ Dekadenzspülichtes schillernde „Zukunft“ des Herrn Harden nehmen, der um die Wette mit Trepows Telegraphenagenturen schwarz auf weiß beweist, daß der jetzige politische Zustand Rußlands „dem Bedürfnis der russischen Masse genügt“, die „armen“, von Demagogen „mißbrauchten“ Petersburger Arbeiter als fromme und treuherzige Zarenlämmer vor der Welt rehabilitiert und den Todesmarsch der 2.000 um die Freiheit ringenden Proletarier für ein Kinderspiel gegen die Dekabristenrevolte [3*] vor achtzig Jahren erklärt, in der „sogar Gardeoffiziere“ schon einmal die Republik ausgerufen hätten. Bürgerliche Normalschädel waren in ihrer besten Zeit nicht dazu gemacht, die historische Größe proletarischer Kämpfe zu fassen. Es werden dazu am allerwenigsten die Zwergschädel der Verfallsbourgeoisie berufen sein.

Aber auch für die internationale Sozialdemokratie ist die Erhebung des russischen Proletariats ein neues Phänomen, das man sich erst geistig assimilieren muß. Wir sind alle, mögen wir noch so dialektisch denken, in unseren unmittelbaren Bewußtseinszuständen unverbesserliche Metaphysiker, die an der Unwandelbarkeit der Dinge kleben. Und obwohl wir die Partei des sozialen Fortschritts sind, so ist für uns selbst jede gesunde Portion Fortschritt, die unsichtbar vor sich gegangen und nun plötzlich im fertigen Resultat vor uns ersteht, eine Überraschung, an die wir erst hinterdrein unsere Vorstellungen anpassen müssen. In der Vorstellung gar manches Sozialdemokraten Westeuropas lebt der russische Proletarier immer noch als der Muschik, der Bauer, mit langem Flachshaar, Fußlappen und stupidem Gesichtsausdruck, der, erst gestern vom Lande gekommen, ein fremder Gast in der modern städtischen Kulturwelt ist. Man hat gar nicht bemerkt, wie sich die kulturelle und geistige Hebung des russischen Proletariats durch den Kapitalismus und sodann durch die sozialdemokratische Aufklärungsarbeit unter der Bleidecke des Absolutismus vollzogen, wie sich der Muschik von gestern in den intelligenten, wissensdurstigen, idealistischen, kampfbereiten, ehrgeizigen Großstadtproletarier von heute verwandelt hat. Und wenn man bedenkt, daß die eigentliche sozialdemokratische Agitation in Rußland kaum fünfzehn Jahre dauert, daß der erste Versuch eines gewerkschaftlichen Massenkampfes in Petersburg vom Jahre 1896 [4*] datiert, so muß das Tempo der inneren Minierarbeit des sozialen Fortschritts geradezu als ein rasendes erkannt werden. Alle schleppenden Nebel und brauenden Dämpfe der Stagnation sind vom proletarischen Gewitter plötzlich zerrissen und weggefegt worden, und wo gestern noch eine rätselhafte Zwingburg des starren, jahrhundertealten Stillstandes gespenstisch zu ragen schien, steht vor uns heute ein von modernsten Stürmen zerwühltes, durchbebtes Land, von dem ein gewaltiger Feuerschein auf die gesamte bürgerliche Welt ausgeht. Es ist eine gründliche Lektion revolutionären Optimismus, die uns durch die Petersburger Ereignisse erteilt wird. Durch tausend Hindernisse, durch alle mittelalterlichen Bollwerke, ohne alle modernen politischen und sozialen Lebensbedingungen setzt sich das eherne Gesetz der kapitalistischen Entwicklung in die Klassengeburt, das Wachstum und das Bewußtsein des Proletariats siegreich durch. Und erst in vulkanischen Ausbrüchen der Revolution zeigt sich, wie rasch und gründlich der junge Maulwurf gearbeitet hat. Wie lustig arbeitet er erst der westeuropäischen bürgerlichen Gesellschaft unter den Füßen! Die politische Reife und die latente revolutionäre Energie der Arbeiterklasse mit Wahlstatistiken oder Gewerkschafts- und Wahlvereinsziffern messen wollen, heißt an den Montblanc mit dem Schneiderzentimeter[maß] herantreten. Wir wissen gar nicht in den sogenannten Normalzeiten des bürgerlichen Alltags, wie mächtig unsere Ideen bereits Wurzel gefaßt, wie stark das Proletariat und wie innerlich morsch der Aufbau der herrschenden Gesellschaft bereits ist. Und alle Schwankungen und Verirrungen des Opportunismus laufen im letzten Grunde auf eine falsche Rechnung mit den Kräften der sozialistischen Bewegung, auf eine subjektive Illusion der Schwäche hinaus.

Mag deshalb platte Kleingeisterei, die nur den kupfernen Pfennig des sofortigen materiellen greifbaren Erfolges mit der Hand zu fassen versteht, über die „mißlungene Revolution“, über ergebnisloses „Strohfeuer“ der Petersburger Erhebung eifern, weil der Absolutismus formell noch existiert, die konstituierende Versammlung noch nicht einberufen ist und die heute noch streikenden Massen wahrscheinlich morgen äußerlich in den Alltag zurückkehren werden. Tatsächlich haben die Ereignisse der letzten Woche durch die Existenz der russischen Gesellschaft einen Riß gemacht, der nie mehr zugekittet werden kann. Es ist nicht mehr derselbe Zarismus; nicht mehr dieselbe Arbeiterklasse, nicht mehr dieselbe Gesellschaft, die aus dem revolutionären Strudel hervor gehen. Der Zarismus hat innerlich seinen Todesstoß bereits erhalten und seine Weiterexistenz, wie kurz oder lang sie auch sein mag, kann nur eine Agonie sein. Er hat zum erstenmal Auge in Auge mit derjenigen Volksklasse gestanden, die berufen ist, ihn zu stürzen. Er hat vor der ganzen Welt dargetan, daß er nicht mehr dank der Passivität, sondern nur noch gegen den positiven Willen derjenigen Volksschicht existiert, deren Wille politisch ausschlaggebend ist. Die Arbeiterklasse hat zum erstenmal als Ganzes offen gekämpft und die politische Führung der Gesellschaft gegen den Absolutismus an sich gerissen. Auch die letzte Waffe der brutalen Gewalt, mit der der Absolutismus heute noch knapp gesiegt hat, ist gerade durch diesen Gebrauch schartig geworden; das Militär ist sicher durch den Bürgerkrieg so stark demoralisiert und politisch aufgerüttelt worden, wie es Jahrzehnte geheimer Kasernenagitation nicht hätten tun können. Noch einmal darf der Zarismus eine militärische Kraftprobe mit dem eigenen Volke kaum riskieren.

Und nun beginnt erst die eigentliche Aufgabe der Sozialdemokratie, um den revolutionären Zustand in Permanenz zu erhalten. Ihre Pflicht ergibt sich von selbst aus der Neigung der politischen Kurzsichtigkeit, den Mißerfolg und das Ende des Kampfes dort zu erblicken, wo erst der Anfang der Revolution ist. Der pessimistischen Niedergeschlagenheit der Arbeitermasse entgegenzuwirken, auf die die Reaktion spekuliert, den inneren Sinn in die enormen Ergebnisse der ersten Attacke dem Proletariat klarzumachen, dem Katzenjammer vorzubeugen, der sich gewöhnlich der Masse in bürgerlichen Revolutionen zu bemächtigen pflegt, sobald der Zweck der Revolution nicht sofort sichtbar erreicht ist, und der sich ganz zweifellos der liberalen Helden in Rußland schon morgen bemächtigen wird, dies ist die reichliche Arbeit, die sich zunächst für die Sozialdemokratie eröffnet. Die Sozialdemokratie vermag weder in Rußland noch sonst in der Welt historische Momente und Situationen künstlich zu schaffen, wie sich jugendliches Maulheldentum vielleicht einbilden mag. Aber was sie kann und muß, ist, die jeweilige Situation ausnützen, indem sie ihren historischen Sinn und ihre Konsequenzen dem Proletariat zum Bewußtsein bringt und es so zu weiteren Momenten des Kampfes hinüberleitet.

Im gegebenen Moment in Rußland ergibt sich die wichtigste Notwendigkeit, der Masse nach dem ersten Kampfe aufklärend, anfeuernd, ermutigend beizustehen. Und diese Aufgabe werden weder die Gapons[5*] , die gewöhnlich wie Meteore in der Revolution aufzublitzen und dann für immer unterzutauchen pflegen, noch die Liberalen, die nach jedem Anlauf seit jeher wie Taschenmesser zusammenklappen, noch auch die allerlei revolutionären Abenteurer ausführen, die bei einer großen Attacke stets mitzuknallen bereit sind. Diese Funktion kann auch in Rußland nur die Sozialdemokratie erfüllen, die jedem Einzelmoment des Kampfes überlegen ist, weil sie ein über alle Einzelmomente hinausführendes Endziel hat, die deshalb nicht im unmittelbaren Erfolg oder Mißerfolg des Momentes das Ende der Welt erblickt, kurz, die Sozialdemokratie, für die die Arbeiterklasse nicht Mittel zum Zwecke der politischen Freiheit ist, sondern die politische Freiheit Mittel zum Zwecke der Emanzipation der Arbeiterklasse.

Anmerkungen

1*. Im Juni 1848 hatte sich das Pariser Proletariat gegen die französisiche Bourgeoisie erhoben, die die Nationalwerkwtätten schließen ließ. Etwa 133.000 Arbeiter blieben dadurch ohne Arbeit und Eionkommen. Bourgeoisie, Kleinbürger und Monarchisten standen geschlossen gegen den Aufstand, der nach drei Tagen von der militätischen Übermacht blutig niedergeschlagen wurde.

2*. Maxim Gorki, wegen seiner Teilnahme am Kampf des revolutionären Proletariats schon mehrfach den Repressalien der zaristischen Behörden ausgesetzt, war nach der demonstration der Arbeiter in Petersburg am 22. Januar 1905 verhaftet worden. Am 27. Februar wurde er gegen Kaution freigelassen.

3*. Die Dekabristen, „adlige Revolutionäre“ (Lenin), die aus Furcht vor der Aktivität der Volksmassen isoliert vom volk handelten, hatten am 14. Dezember 1835 in Petersburg einen Militätaufstand gegen den zaristischen Absolutismus und die Feudalherrschaft organisiert, der noch am gleichen Tage von zaristischen Truppen niedergeschlagen wurde.

4*. Unter der Führung des Kampfbundes zur Befreiung der Arbeiterklasse hatten im sommer 1896 etwa 30.000 Textilarbeiter in Petersburg gestreikt. Sie forderten Bezahlung des Arbeitsausfalls an den Krönungsfeiertagen und Verkürzung der Arbeitszeit. Um die Ausweitung des Streiks zu einem Generalstreimk zu verhindern, wurden die Forderungen der Arbeiter teilweise erfüllt und der Streik nach drei Wochen beendet.

5*. G.A. Gapon hatte 1903/1904 im auftrag und unter dem Schutz der Polizei in PÜetersburg „Arbeiterorganisationen“ geschaffen, um die Arbeiter von der sozialdemokratischen Bewegung fernbzuhalten. er war der Initiator der Petersburger Demonstration am 22. Januar 1905.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012