Rosa Luxemburg


Die Revolution in Russland

(8. Februar 1905)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Nr. 3, Stuttgart, 8. Februar 1905.
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Die erste revolutionäre Massenerhebung des russischen Proletariats gegen den Absolutismus, am 22. Januar in Petersburg, ist von der Knutenregierung „siegreich“ niedergeworfen, das heißt im Blute Tausender wehrloser Arbeiter, im Blute der hingemordeten Männer, Frauen und Kinder des Volkes erstickt worden. Es ist sehr wohl möglich, dass – wenigstens in Petersburg selbst – für den Augenblick eine düstere Ruhepause in der revolutionären Bewegung eintritt. Die Sturmwelle flutet nun von Petersburg, vom Norden, über das ganze Riesenreich herunter und erfasst nacheinander alle größeren Industriestädte Russlands. Wer einen Sieg der Revolution auf einen Schlag erwartete, wer sich jetzt, nach dem „Siege“ der Blut- und Eisenpolitik, in Petersburg je nach der Parteistellung einer pessimistischen Niedergeschlagenheit oder einem vorzeitigen Jubel über die Wiederherstellung der „Ordnung“ hingeben wollte, der würde nur beweisen, dass die Geschichte der Revolutionen mit ihren inneren ehernen Gesetzen für ihn ein Buch mit sieben Siegeln geblieben ist.

Es dauerte eine Ewigkeit – wenigstens gemessen an der revolutionären Ungeduld und an den Qualen des russischen Volkes – , bis unter der jahrhundertealten Eisdecke des Absolutismus das Feuer der Revolution zur hellen Lohe entfacht wurde. Es mag und wird sicher eine ganze lange Periode furchtbarer Kämpfe dauern, mit abwechselnden Siegen und Niederlagen des Volkes, die unzählige Opfer kosten, bis die mordlustige, noch in ihrem Verenden schreckliche Bestie des Absolutismus endgültig niedergeschlagen wird. Wir müssen uns auf eine nach Jahren, nicht nach Tagen und Monaten zählende Revolutionsepoche in Russland gefaßt machen, ähnlich der großen französischen Revolution.

Und doch – alle Freunde der Zivilisation und der Freiheit, das heißt die internationale Arbeiterklasse, kann jetzt schon jubeln aus vollem Herzen. Die Sache der Freiheit ist jetzt schon in Russland gewonnen, die Sache der internationalen Reaktion hat jetzt schon am 22. Januar auf den Straßen Petersburgs ihr blutiges Jena erlebt. Denn an diesem Tage hat zum ersten Mal das russische Proletariat als Klasse die politische Bühne betreten, zum ersten Mal ist endlich auf dem Kampfplatz diejenige Macht erschienen, die allein geschichtlich berufen und imstande ist, den Zarismus in den Staub zu werfen und in Russland, wie überall, das Banner der Zivilisation aufzupflanzen.

Der Kleinkrieg gegen die russische Alleinherrschaft dauert schon fast ein Jahrhundert. Bereits 1825 gab es in Petersburg eine Revolte, getragen von der Jugend der höchsten Aristokratie, von Offizieren, die an den Ketten des Despotismus zu rütteln versuchten. Die Denkmäler dieser fehlgeschlagenen, grausam niedergeworfenen Erhebung sind heute noch zu finden in den Schneefeldern Sibiriens, wo Dutzende edelster Opfer auf ewig begraben wurden. Geheime Verschwörungsgesellschaften und Anschläge erneuerten sich in den fünfziger Jahren, und wieder triumphierte die „Ordnung“ und Knute über die Schar der verzweifelten Kämpfer. In den siebziger Jahren bildete sich eine starke Partei der revolutionären Intelligenz, die auf die Bauernmasse gestützt, vermittels systematischer terroristischer Anschläge auf die Zaren einen politischen Umsturz herbeiführen wollte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass die damalige Bauernmasse ein träges, ganz ungeeignetes Element für revolutionäre Bewegungen war. Ebenso erwies sich die Beseitigung der Zaren als eine ganz ohnmächtige Waffe, um den Zarismus als Regierungssystem zu beseitigen.

Nach dem Niedergang der terroristischen Bewegung in Russland in den achtziger Jahren bemächtigte sich der russischen Gesellschaft, wie der Freunde der Freiheit in Westeuropa, für eine Weile eine tiefe Niedergeschlagenheit. Der Eisblock des Absolutismus schien unerschütterlich, die sozialen Zustände in Russland schienen hoffnungslose zu sein. Und doch setzte gerade in diesem Augenblick in Russland diejenige Bewegung ein, deren Ergebnis der 22. Januar dieses Jahres werden sollte – die sozialdemokratische.

Es war ein ganz verzweifelter Gedanke des russischen Zarismus nach der schweren Niederlage im Krimkrieg, seit den sechziger Jahren den westeuropäischen Kapitalismus nach Russland zu verpflanzen. Der bankrotte Absolutismus brauchte jedoch zu fiskalischen und militärischen Zwecken Eisenbahnen und Telegraphen, Eisen und Kohle, Maschinen, Baumwolle und Tuch im Lande. Er zog den Kapitalismus mit allen Mitteln der Volksplünderung und der rücksichtslosen Schutzzollpolitik groß und – grub sich damit unbewusst mit eigenen Händen das Grab. Er pflegte liebevoll die Kapitalistenklasse und ihre Ausbeutung – und züchtete damit Proletarier und ihre Empörung gegen die Ausbeutung und Unterdrückung.

Die Rolle, zu der sich das Bauerntum untauglich erwies, wurde zur historischen Aufgabe der städtischen, industriellen Arbeiterklasse in Russland: diese Klasse wurde zum Träger der freiheitlichen und revolutionären Bewegung. Die unermüdliche unterirdische Aufklärungsarbeit der russischen Sozialdemokratie hat in Russland in wenigen Jahren fertig gebracht, was ein Jahrhundert heldenmütigster Revolten der Intelligenz nicht vermocht hatte, die alte Zwingburg des Despotismus in ihren Grundfesten zu erschüttern.

Nun können alle oppositionellen und revolutionären Kräfte der russischen Gesellschafe in Wirkung treten: die elementare, unklare Bauernempörung, die liberale Unzufriedenheit des fortschrittlichen Adels, der Freiheitsdrang der gebildeten Intelligenz, der Professoren, Literaten, Advokaten. Sie alle können nun, gestützt auf die revolutionäre Massenbewegung des städtischen Proletariats und hinter ihm herschreitend, ein großes Heer Kämpfender, ein Volk gegen den Zarismus führen. Aber die Macht und die Zukunft der revolutionären Bewegung liegt einzig und allein im klassenbewussten russischen Proletariat, wie dieses allein es versteht, zu Tausenden auf dem Schlachtfelde der Freiheit das Leben zu opfern. Und mag im ersten Augenblick die Leitung der Erhebung in die Hände zufälliger Führer geraten, mag die Erhebung von allerlei Illusionen und Traditionen äußerlich getrübt sein – sie ist doch nur ein Ergebnis der enormen Summe der politischen Aufklärung, die in den letzten zwei Jahrzehnten durch die sozialdemokratische Agitation von Frauen und Männern unsichtbar in den Schichten der russischen Arbeiterklasse verbreitet worden ist.

In Russland, wie in aller Welt, liegt nun die Sache der Freiheit und des sozialen Fortschritts in den Händen des klassenbewussten Proletariats. Sie ist gut aufgehoben!


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012