Rosa Luxemburg


Die Lösung der Frage

(November 1905)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 29. November 1905.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, 2. Hbd., S. 629–622.
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Die Sache der Revolution marschiert im Zarenreich mit eherner Logik vorwärts. In diesem Moment beginnt die Phase der Bauernunruhen [1*], die Revolution pflanzt also ihr Panier auf dem platten Lande auf. Bis jetzt, seit Beginn der revolutionären Periode, schwiegen die russischen Bauern. Das industrielle, von der Sozialdemokratie seit anderthalb Jahrzehnten in unermüdlicher Aufklärungsarbeit beeinflußte städtische Proletariat war zuerst auf dem Platze erschienen, es blieb bis jetzt der alleinige Träger der gewaltigen Revolution, und es ist dazu berufen, dank seiner Klassenlage, der klarste, entschiedenste, am weitesten gehende und deshalb der führende Teil des immer mehr wachsenden revolutionären Heeres in Rußland zu bleiben. Zur Sache des städtischen Proletariats hat sich bereits, und zwar noch vor der Bauernmasse, das Militär zu Lande und zu Wasser geschlagen. Die denkwürdige Rebellion des Potjomkin [2*] im Schwarzen Meere, dann die Erhebung der Matrosen in Kronstadt [3*], an der Pforte selbst der zarischen Residenz, gleich darauf der Aufstand der Mannschaften im fernen Wladiwostok [4*], in Charbin [5*], das ist eine Reihe von Explosionen, welche die ganze russische Marine – im Süden, im Norden wie im Osten – in heftiger Gärung zeigen. Und überall ist es nicht etwa ein tobender Ausbruch wilder unklarer Leidenschaften eines betrunkenen „Mobs“, wie die offiziösen russischen Telegraphenagenturen vorzulügen pflegen, um natürlich bei unserer bürgerlichen Presse, allen voran bei den „liberalen“ Blättern, frommen und willigen Glauben zu finden. Nein, es ist der Geist der politischen Aufklärung, des proletarischen Bewußtseins, das Werk der sozialdemokratischen Erziehung, was in allen bisherigen sogenannten „Meutereien“ der russischen Marine zum Ausdruck kam. Auf dem Potjomkin wie in Kronstadt waren es organisierte Sozialdemokraten, die der Bewegung voranmarschierten; die klar und deutlich formulierten Forderungen von ausgesproden politischem und zugleich proletarischem Charakter gaben der Rebellion in allen Fällen das Gepräge einer durch und durch klassenbewußten, revolutionären Aktion. Und wenn Brandstiftung, Mord, Suff und Plünderung alle diese Erhebungen wie dunkle Schatten begleiteten, so ist es bereits vor aller Welt offen erwiesen, daß es die Schurkenbande des Zarismus war, die durch die systematische Aufstachelung des Lumpenproletariats unter Anführung der Pfaffen und der Polizei die revolutionäre Erhebung der Marinemannschaften, wie auch der Industriearbeiter in den Städten, in einer Schmutzwelle des Verbrechens zu ersticken suchte. Mord, Brandstiftung und Plünderung waren nicht von den „meuternden“ Matrosen, sondern von den gedungenen „Ordnungsstützen“ des Absolutismus als Kampfmittel gegen die Matrosen ins Werk gesetzt.

Aber nicht nur in der Marine, auch unter den Landtruppen des letzten Nikolaus reift der Same der Revolution mit jeder Stunde. Bereits bei den Versuchen des Absolutismus, die Matrosenrebellion mit blanker Waffe niederzumachen, versagte das Militär mehrmals. Zweimal ergaben sich in Kronstadt die zur Abschlachtung der Marinemannschaften abgesandten Regimenter. Mehrmals verweigerten die Soldaten in den Städten bei Rencontres mit demonstrierenden Proletariern den Gehorsam. In Moskau, bei dem denkwürdigen grandiosen Begräbnis des von den Zarenschurken ermordeten Sozialdemokraten Baumann [6*], waren unter den etwa 200.000 Menschen, die den Demonstrationszug bildeten, massenhaft Militärs vertreten; um das an der Spitze des Zuges getragene riesige Banner der Sozialdemokratie bildete eine Gruppe höherer Offiziere mit blankgezogenem Säbel die Ehrenwache; in der lebendigen Kette, die den ganzen Riesenzug entlang von beiden Seiten Spalier bildete, reichten sich in bunter Abwechslung Arbeiter, Studenten, Frauen, Soldaten und Offiziere die Hand. Nicht bloß in den Reihen der „Gemeinen“, auch in Offizierskreisen erhebt der fortschrittliche revolutionäre Teil immer kühner die Stimme gegen die willigen Mordbuben des Zarismus. Das Militär im ganzen, von einer fieberhaften Agitation der Sozialdemokratie in Atem gehalten, wird mit jedem Tage unzuverlässiger, untauglicher als Stütze der zusammenbrechenden Alleinherrschaft.

Damit findet aber eine der wichtigsten taktischen Fragen ihre Lösung, die auch bei uns in Deutschland, wie überall, den opportunistischen Kalkulatoren des Klassenkampfes arges Kopfzerbrechen bereitet. Wie kann irgendeine Massenaktion der modernen Arbeiterklasse, sei es auch nur eine Reihe größerer Straßendemonstrationen, ein Massenstreik auf Erfolg rechnen, da wir doch auf die starre Wand des Militarismus, auf die stahlblinkenden Bajonette stoßen, gegen die wir, das wehrlose Proletariat, ganz ohnmächtig sind? So pflegen uns diejenigen zuzurufen, die sich eine Massenaktion der Proletarier nicht anders als in dem starren Milieu, in der kalten Atmosphäre des ruhigen parlamentaristen Alltags vorstellen können. Sie vergessen immer und immer wieder, daß eine ernste Massenaktion des Proletariats selbst nicht anders als in einer revolutionären Situation stattfinden kann, in einer Situation, die bereits die ganze Volksmasse, das ganze Land in Gärung gebracht hat. Ist dem aber so, dann erscheint auch die „starre Wand der Bajonette“ unter einem ganz anderen Gesichtswinkel, denn in den revolutionären Momenten, wo die Sache des kämpfenden Proletariats zur Sache des ganzen arbeitenden Volkes, zur Sache aller Ausgebeuteten und Unterdrückten wird, da erwacht auch im Soldaten der Bürger, der Sohn des Volkes, der Proletarier. Diejenigen, die das heutige Militär als eine unwandelbare feindliche Macht der Revolution des Volkes entgegenstellen, vergessen, daß die Revolution das Militär selbst in ihren Strudel zieht, sie vergessen hinter dem äußeren Kampflärm der Revolution ihre gewaltigste sozial und historisch wichtigste Seite: das politische Erziehungswerk der Revolution. Und dieses vollzieht sich nicht bloß an der Masse des Proletariats, an breiten Schichten des Bauerntums, des Kleinbürgertums, sondern auch an dem in den „Rock des Königs“ gesteckten Teil der Volksmasse.

Die russischen Ereignisse haben wieder einmal erwiesen, daß die Revolution, die neue politische und soziale Probleme aufwirft, auch selbst in ihrem Schoße die Lösung dieser Probleme bringt. Die russische Revolution ist also wieder einmal zugleich eine Mahnung an die Kleingläubigen und zaghaften Rechenmeister in unseren eigenen Reihen, wie eine Warnung an die herrschenden Klassen, die durch immer neue Militär- und Flottenvorlagen auch bei uns Geister auf die soziale Oberfläche rufen, die sie einst nicht zu bannen verstehen werden.

Anmerkungen

1*. Unter dem Einfluß des revolutionären Kampfes der Arbeiter in Rußland erreichte im Herbst 1905 auch die Bauernbewegung ein nie dagewesenes Ausmaß. Im Oktober kam es zu 219, im November zu 796 und im Dezember zu 575 Bauernerhebungen.

2*. Am 27. Juni 1905 war auf dem russischen Panzerkreuzer Potjomkin ein Matrosenaufstand ausgebrochen, der die erste Massenaktion in der zaristischen Armee und Flotte darstellte. Die Aufständischen begaben sich am 8. Juli in Rumänien in die politische Emigration, als die Lage für sie aussichtlos geworden war.

3*. Am 8. und 9. November 1905 hatten sich in Kronstadt Matrosen und Soldaten erhoben. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und 1.500 Matrosen sowie einige hundert Soldaten von einem Militärgericht zum Tode verurteilt. Ein Solidaritätsstreik der Petersburger Arbeiter rettete die Verurteilten vor dem Erschießen.

4*. Am 12. und 13. November war in Wladiwostok ein Matrosenaufstand ausgebrochen, der von der zaristischen Truppenführung leicht niedergeschlagen werden konnte, da sich unter den Teilnehmern nur wenig politisch bewußte Matrosen befanden.

5*. Eine Demonstration der Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten, der Angestellten und Soldaten am 5. November 1905 in Charbin hatte auch in den Armee-Einheiten eine revolutionäre Bewegung ausgelöst.

6*. Der Bolschewik N.E. Baumann war am 31. Oktober 1905 während einer von der SDAPR organisierten Demonstration von einem Agenten der Ochrana getötet worden. Sein Begräbnis gestaltete sich zu einer gewaltigen politischen Demonstration.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012