Rosa Luxemburg

 

Die Russische Revolution 1905

Rede, nach einem Spitzelbericht

(16. November 1905)


Quelle: UTOPIE kreativ, H. 171 (Januar 2005), S. 57–/> Die polizeiliche Aufzeichnung der Rede Rosa Luxemburgs in: Staatsarchiv Hamburg, Bestand Politische Polizei/331–60;328: Sozialdemokratischer Verein für den II. Hamburger Wahlkreis, Bd. 8: April 1905 bis September 1906, Bl. 6– Für die Entzifferung der handschriftlichen Aufzeichnungen des Polizeiwachtmeisters Zufall gebührt der Dank Evamaria Adolphi, Leuna.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das Dokument [1]:

Die polizeiliche Aufzeichnung der Rede

Überwachungsbericht des Wachtm. Zufall über die Mitgliederversammlung des Sozialdemokratischen Vereins f. d. II. Hambg. Wahlkreis,
abgehalten am 14. November 1905 im Lokale von Tütge,
eröffnet 9 Uhr abends, geschlossen 10.30 abends.
Anwesend 2.000 Personen, darunter 3-400 Frauen.

Auszug gefertigt (von) Zufall.
Hamburg, den 16. Nov. 1905

Die Versammlung wurde durch den 1. Hoffmann eröffnet und geleitet.

Hoffmann: Ich habe heute wiederum die traurige Pflicht, das Ableben eines unserer Genossen bekannt zu geben. Es ist Genosse Bahlberg, der unter dem Sozialistengesetz trotz aller Verfolgungen und Chikanen die Fahne des Sozialismus mit hochgehalten hat.

Das Andenken wurde in der üblichen Weise geehrt.

Punkt l: Abrechnung
    Einnahmen: M 9.962,48
    Ausgaben:    M 5.380,87
Punkt 2: Der Generalstreik
Referentin: Dr. Rosalie Lübeck, geb. Luxemburg,
geb. am 25.12.1870 (richtig ist: 5.3.1871)
zu Zamost in Russland (richtig ist: Zamość)

Auf Antrag Hoffmann wurde beschlossen, M 3.000 an die Parteikasse in Berlin abzuführen.

Referentin Rosa Luxemburg, Berlin-Friedenau:

Werte Anwesende, Genossinnen und Genossen!

Wir finden in der letzten Zeit eine eigenartige Erscheinung in unserem Parteileben, eine Erscheinung, von der man sagen könnte, sie ist über Nacht, ganz plötzlich gekommen. Es ist eine neue Frage in der deutschen klassenbewußten Arbeiterschaft wach geworden, die bis dato durchaus nicht das Interesse der deutschen Sozialdemokraten erregen konnte. Ich meine damit die Frage, die heute von uns behandelt werden soll.

Die Frage des politischen Massenstreiks ist durchaus nicht neu, denn bereits vor 15 Jahren schon war sie ein Gegenstand lebhafter Erörterung auf dem internationalen Sozialistenkongreß. Desgleichen hat man sich in den romanischen Ländern Frankreich, Spanien, Italien usw. vor einem Jahre mit dieser Frage beschäftigt, und zwar außerordentlich lebhaft beschäftigt, ja sogar noch vor wenigen Jahren in Belgien die praktische Lösung dieser Frage erlebt. [2] Noch vor wenigen Monaten hat man in Deutschland die Beobachtung machen können, daß man die Frage des politischen Massenstreiks als etwas gänzlich Unhaltbares für die deutsche Sozialdemokratie betrachtete, als etwas, was vielleicht in den romanischen Ländern am Platze sei, aber nicht für Deutschland passe. Die Frage wurde als wesenlos betrachtet und behandelt, nicht einmal eine Erörterung dieser Frage, sei es in historischer oder praktischer Hinsicht, sollte geschehen. Erst vor ganz kurzer Zeit beobachtete man ein lebhaftes Interesse für diese Frage bei den klassenbewußten Arbeitern. In Versammlungen, in der Presse fanden Erörterungen statt, ja diese Frage ist zum Teil Gegenstand einer Beschlußfassung in unserer obersten Parteiinstanz geworden. Eine solche Erscheinung, ein solcher plötzlicher Umschwung in der Bewertung, in der politischen Bewertung, in der historischen und praktischen Lösung dieser Frage ist wohl zu beachten.

In Rußland erleben wir augenblicklich eine andere Lösung der Frage des Kampfes. Das Wort Revolution war vor wenigen Jahren in Rußland, noch vor einem Jahre, trotz der dort herrschenden grauenhaften Zustände, genauso ein wesenloses Faktum, wie vor kurzer Zeit in Deutschland das Wort Massenstreik. Trotzdem in Rußland sich die grauenhaften Zustände auf sozialem und politischem Gebiete furchtbar zuspitzten, war das Wort Revolution für unsere Sozialdemokraten, die dazu berufen und gezwungen sind, das Wort zu predigen und in die Massen zu schleudern, unbekannt, ich will sagen ein hohler Ton. Solche Erscheinungen beweisen, daß in den sozialen Verhältnissen selbst ein plötzlicher gewaltiger Umschwung, eine Verschiebung in Klassenverhältnissen, eine Verschiebung der sozialen Gegensätze stattgefunden haben, und das soll man wohl beachten.

Wenn wir heute in Deutschland eine analoge Erscheinung sehen, wie dieselben Massen, die noch vor wenigen Monaten das Wort politischer Massenstreik an sich vorbeigehen ließen, sich absolut uninteressiert, passiv verhielten, wenn dieselben Massen jetzt mit Feuer und Flamme sich der Lösung dieser Frage zuwenden, ob für oder gegen die Frage ist gleich, das Interesse selbst für die Diskussion, für die Aufklärung des Wesens dieses Problems ist vorhanden. Die Arbeitermassen fühlen instinktiv den Boden unter ihren Füßen wackeln, sie fühlen eine gewaltige Verschiebung mit einem Ruck vor sich, daß wir großen, kolossalen, neuen Kämpfen, gefährlichen Situationen entgegengehen, und sie suchen, nach neuen gewaltigen Mitteln zu tasten und zu greifen.

Wenn man das alles von verschiedenen Gesichtspunkten beobachtet, so wird ein solcher sozialer Beobachter Ihnen sagen, daß es nichts als eine lächerliche Vertuschung, eine Selbstüberhebung ist, wenn sich Genossen, sogar große Parteigrößen, auf dem letzten Gewerkschaftskongreß in Köln gefunden haben, die glaubten, durch eine Resolution von zehn Zeilen ein solch gewaltiges neues Problem des politischen Lebens hinweg diktieren zu können. Ist es nicht eine klägliche Überschätzung des sog. Teilwillens, des Verfügungsrechts eines Menschen, auch wenn er Sozialdemokrat ist? Also wenn einer glaubt, durch Annahme einer Resolution ein neu auftauchendes Problem hinwegbringen zu können, der irrt sich gewaltig. Durch eine Resolution den Arbeitern zu verbieten, sich mit solch wichtiger Frage zu befassen, die Köpfe einer Dreimillionen-Partei zu verwirren, wenn sie sich mit neuen Problemen beschäftigen, da muß man ein Bedauern für haben. Aber hier hat sich so viel erwiesen, daß die klassenbewußten Arbeiter in ihrem gesunden Instinkt viel sicherer sind als ihre Führer. (Sehr richtig!) Sie wenden sich doch der Aufklärung dieser Frage zu. [3]

Das Interesse an dieser Frage ist nicht durch künstliche Mittel hervorgerufen, und das beweist, wie notwendig es ist, daß in eine Prüfung und Diskussion eingetreten werden muß. Wir haben augenblicklich Erscheinungen in unserem politischen und öffentlichen Leben, daß jeder, der an der Oberfläche des politischen Lebens steht, diese Erscheinungen fühlen muß. Mit Gewalt wird man mit der Nase darauf gestoßen, daß unsere bisherigen Kampfmittel sich als unzulänglich erweisen werden.

Die deutsche Sozialdemokratie steht heute an der Spitze der internationalen Sozialdemokratie, der internationalen Arbeiterbewegung. Sie ist bis jetzt die Schule, das Muster für das Weltproletariat, das sich aus der Sklaverei des Kapitalismus befreien will. Aber täuschen wir uns nicht, die großen Erfolge, die wir erkämpft haben, die Gediegenheit unserer Arbeiter, die Vortrefflichkeit unserer Organisationen, das alles ist groß geworden auf dem Boden des parlamentarischen Kampfes. Ich sage das nicht als Vorwurf Ihnen gegenüber, daß Sie sich in jeder Weise dem historischen Boden anpaßten, auf den Sie gestellt worden sind. Wir haben bis jetzt in Deutschland eine große Periode des Parlamentarismus gehabt, und die Sozialdemokratie hat vor aller Welt gezeigt, was eine klassenbewußte Arbeiterschaft auf dem Boden des Parlamentarismus erreichen und erzielen kann. Aber was erleben wir in den jüngsten Tagen? Wir erleben, daß hier und da gerade der Parlamentarismus der Bourgeoisie unter den Füßen wie eine große dünne Eisschicht zusammenbricht, und das beweist, daß es eine dünne oberflächliche Schicht war. Nach wie vor finden wir die gewaltigen sozialen Kämpfe, wie sie auf der Erde brodeln und lodern.

Ihnen hier in Hamburg der (unleserlich) Bourgeois, der berühmten Republik brauche ich nicht viel darüber zu sagen, was wir heutigen Tages von dem Wert des bürgerlichen Parlamentarismus zu halten haben. Als ich jüngst über den Vorwärtssturm der Bourgeoisie in dem Geldsack-Parlament der Hamburgischen Republik hörte, da erinnerte ich mich lebhaft an die Worte des großen deutschen Dichters Borne, wie er die Frage stellte: Wie kommt es, liebe Mitbürger usw., in Deutschland leben wir ja in einer ähnlich verkehrten Welt. Auch ein anderer deutscher Patriot, der Dichter Heinrich Heine, hat über die verkehrte Welt geschrieben, indem er sagte, heute leben wir in einer Welt, wo Gäule auf Menschen reiten. In Hamburg erleben wir schon die Rückwärts-Revision des Parlamentarismus, und andere Staaten werden nachfolgen; ich erinnere an das demokratische Lübeck. Wir Preußen sind so stolz, das einmal den Hamburgern nachzumachen, wir sind schon längst so weit.

Schon die jüngsten Erscheinungen, die jedem einfachem Beobachter sich gewaltsam aufdrängen, führten uns darauf, daß unsere ganzen Berechnungen und Spekulationen auf den Parlamentarismus einfach auf einem Sandhaufen errichtet sind. Wir haben nicht nur im politischen Leben, sondern auch im sozialökonomischen Leben in den jüngsten Tagen Ereignisse erlebt, die uns darauf hinweisen, daß man geradezu mit Blindheit geschlagen sein muß, um nicht zu fühlen, daß der Boden unter den Füßen nicht mehr feststeht, sondern zu wackeln beginnt. Im Ruhrgebiet und in der Textilindustrie im Vogtland hören die sozialen Kämpfe nicht mehr auf. Wir stehen auf dem Boden des Konflikts, und dieser Konflikt kann nicht durch das Mittel des Parlamentarismus, noch durch die Gewerkschaftskämpfe ausgeglichen werden. Gewaltige Kämpfe im Ruhrgebiet und anderswo werden beginnen, und diese unüberbrückbaren Schranken werden wir durch unsere Organisationen nicht fallen lassen können. Unsere Gewerkschaftsblätter sind es, die ihrer Pflicht folgend in der letzten Zeit die deutsche Arbeiterschaft mit Gewalt aufrütteln, ihnen die neuen Praktiken der Unternehmer betr. der Aussperrungen vor Augen führen. Die Aussperrungen sollen dazu angetan sein, die Gewerkschaften zu sprengen. Die Aussperrung ist ein gewaltiges Mittel, die Gewerkschaften niederzuschlagen, und dieses Mittel wenden die Herren nicht nur im eigenen Hause, sondern auch im Staate an. Da könne es kein anderes Mittel geben, sich gegen diese Herren zu wehren, als sie mitsamt dem Staate und Kapitalismus zum Teufel zu jagen.

Bernstein predigt ja die Tarifverträge. Rednerin erläutert die Tarifverträge in der Textilindustrie und ist auch damit nicht einverstanden. Die deutsche Arbeiterschaft muß sich nach neuen Kampfesmitteln umsehen und diesen sich zuwenden.

Wir gehen somit zu der Erörterung des politischen Massenstreiks über. Hier wie bei jeder Frage eines neuen Problems ist es wohl wichtig, wenn man sie wissenschaftlich behandelt. Es sind hier in der glorreichen Republik Hamburg ebenfalls schon Vorträge über Massenstreik gehalten worden.

Es sind zwei Strömungen vorhanden: die eine für den Generalstreik (Friedeberg) und die andere Strömung sagt, Generalstreik sei Generalunsinn. Die berufenen Vertreter dieser letzten Auffassung werden Sie wohl auch kennen. Die Strömung für den Generalstreik glaubt, durch ihre Predigten die Arbeiterschaft von der Nützlichkeit und Notwendigkeit des Massenstreiks soweit zu überzeugen, daß die Arbeiterschaft erklärt, am nächsten Bußtag machen wir den Generalstreik und es ist fertig. Die andere Strömung glaubt, wenn sie heute in einer gut besuchten Versammlung erklären, Generalstreik ist Generalunsinn, dann ist die Frage verschwunden. Wieder andere stehen auf demselben Boden, sie sagen, die Beschlußfassung über die Anwendung des Generalstreiks soll von dem freien Willen der Arbeiterschaft abhängen. Die Breslauer Genossen machten den Vorschlag, am nächsten Bußtag auf die Straße zu gehen. Ob sie da hingehen, hängt von dem Beschluß der betr. Genossen ab, ob aber die Massen wirklich auf die Beine gebracht werden können, das wissen sie nicht. Unsere Grundprinzipien sind historisch abgeleitet, sie müssen heilig gehalten werden, aber unsere Taktik, die lautet, nicht nur danach zu fragen, was wir für gut und nützlich halten.

Der Massenstreik ist eine ebensolche Entwicklung wie der Parlamentarismus. Der Parlamentarismus widersprach erst auch unserem Prinzip. Aber wir stecken unsere Nase in alle Spalten des sozialen Lebens, deshalb sind wir auch ins Parlament eingetreten, und wir sind dadurch zu einer so großen Partei in Deutschland geworden. Wenn der Parlamentarismus uns bis zu einem gewissen Zeitpunkt dazu gedient hat, uns groß und stark zu machen, so versagt er nun immer mehr und mehr, und die historische Entwicklung wird neue Formen schaffen, die darauf gerichtet sind, daß die Massen selbst anfangen werden zu versuchen, direkt mit dem Feinde von Angesicht zu Angesicht zu kämpfen.

Wie Sie merken, ist schon die erste prinzipielle Frage bei dem Massenstreik eine ganz andere, d.h. wenn Sie sich auf den historischen Boden stellen.

Weiter müssen wir einen Blick auf die innere und auswärtige Politik werfen. Das ist eine große Frage, die wir zu berücksichtigen haben, und wir springen vom ersten Augenblick an mit beiden Füßen bei dieser Frage, wie bei allen anderen Fragen des Prinzips und der Taktik, auf den historischen Boden der Entwicklung. Tun wir also einen kurzen Blick auf den Gang der historischen Entwicklung in der letzten Zeit, und zwar die auswärtige Politik, die Weltpolitik.

Rednerin ging zunächst kurz auf den russisch-japanischen Krieg ein. Er sei nur ein Glied in der Kette von den Ereignissen der letzten 10 Jahre. Seit 1895 hätten wir im fernen Osten eine Reihe von blutigen Kriegen erlebt, sie erinnere an den Krieg mit China, wo Deutschland mit dem Stab in der Hand vorausgegangen sei. Seit den 90er Jahren drehe sich das Interesse um den Bosporus, Konstantinopel, China und Japan. Daß man ja nicht denke, uns in Deutschland gingen diese Dinge vorläufig noch nichts an; der irre sich, denn sie erinnere an die Pachtung in China. Wir seien nicht mehr nur Zuschauer. Aus allen diesen Dingen ergebe sich nichts anderes, als neue Flotten vorlagen, verbunden mit neuen Steuern und Abgaben, eine Mehrbelastung für die Arbeiterklasse. Die wirtschaftlichen Kämpfe würden nicht verringert, sondern vermehrt werden.

Rednerin kommt sodann auf die Revolution in Rußland zu sprechen. Es ist eine ständige und beliebte Redensart, leider Gottes auch in unseren Reihen, Rußland sei der Sarg der Revolution. Die russische Revolution ist als Fleisch von unserem Fleische zu betrachten, und ich vermisse in unserem Partei Verhältnis das Mitfühlen, das Mitdenken. Rednerin geht kurz auf die früheren politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands ein und vergleicht die ganze Bewegung immer mit der historischen Entwicklung. Gar mancher Genösse denkt sich, daß die Revolution als Sieger davon geht und, wie wir es in Deutschland erlebt haben, sie sich wie in Deutschland einen bürgerlichen Parlamentarismus schafft, an dem sie wohl teilnehmen, weil sie müssen, ohne zu vergessen, daß damit eine historische Tretmühle geschaffen wird. Nein, in Rußland kommt bereits die politische Freiheit zum Vorschein, allerdings heute oder morgen ist die Revolution noch nicht beendet, sie wird wohl noch recht lange dauern. Sie hat aber schon die Lehre gebracht, in welche Richtung wir gehen müssen, und die russische Revolution hat bereits ihren Feuerschein auf andere Länder geworfen.

Blicken wir zunächst auf Österreich, wie elektrisierend die bloße Kunde von politischen Reformen auf die Österreicher gewirkt hat, wie es dieses morsche alte Gebäude, diese baufällige Baracke des österreichischen Kaisers förmlich erschüttert hat. [4]

Alle diese Momente der künftigen Entwicklung zusammenfassend wird es so kommen, daß wir einer Periode von mehr oder weniger revolutionären Kämpfen entgegengehen, worin die russische Revolution nur ein Prolog sein wird. Wir müssen nach alledem, was uns in den letzten Tagen beschert worden ist, was in der auswärtigen Politik vor sich geht, zu der Erkenntnis gelangen, daß es mit dem alten Schlendrian, mit dem Ruhebedürfnis ein für allemal vorbei ist. Wir gehen einer Zeit entgegen, wo der historische Klepper einmal in einen frischen, fröhlichen Galopp übergeht. Wir sind die letzten, die dabei etwas zu verlieren haben; je frischer der Gang, um so schneller werden wir unser Ziel erreichen. Es bleibt bittere Wahrheit, was Marx und Engels im Jahre 1848 sagten: Das Proletariat hat nichts zu verlieren als seine Ketten, nur zu gewinnen hat es die ganze Welt.

Ein politischer Beobachter muß sich umschauen, um die kommende Entwicklung kennenzulernen, er muß sie kennen, damit er den Faden in der Hand hat, wonach er sich zu richten hat. In welcher Form, nach welcher Veranlassung der Generalstreik anzuwenden ist, kann man vorher nicht sagen. Ich könnte den Massenstreik als Abwehrmittel gegen die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts zum Reichstag prophezeien. Ich stehe auch hier wieder auf dem historischen Boden, wenn ich sage, die allgemeine revolutionäre Situation kann dazu beitragen, den Generalstreik als Abwehrmittel zu gebrauchen. Ob die Abschaffung des allgemeinen Wahlrechts zu einem solchen Massenstreik Anlaß geben wird, das kann ich nicht, das vermag niemand zu sagen.

Aber auch durch andere Anlässe kann man den Volkszorn hervorrufen. Wenn man, wie in ausländischen Blättern zu lesen ist, von einer gewissen Stelle die Plötzlichkeit bis zu einer solchen Unverantwortlichkeit steigern sollte, das Volk zum Äußersten zu provozieren, indem man hinterpommersche Grenadiere gebraucht, um die russische Revolution niederzuschlagen, dann glaube ich wohl, daß die Genossen mit einem Massenstreik antworten müssen, daß wir unser Blut verspritzen, um unsere russischen und polnischen Brüder zu schützen.

Ich habe diese Beispiele extra angeführt, damit Sie sich klar darüber werden können, in welchem Zusammenhang man den Generalstreik anwenden könnte. Wenn wir immer mehr verschärften politischen Kämpfen entgegengehen, so müssen wir bedenken – ich verweise jetzt wieder nach Russland –, daß die Industriearbeiter, überhaupt die Arbeiterklasse, bisher in keinem direkten revolutionären Kampf eine Rolle gespielt haben. Wären ein Bernstein und ein Friedeberg zur rechten Zeit in Rußland gewesen, dann würden die russischen Arbeiter eine andere Rolle spielen. Ich kenne die russischen Parteiverhältnisse sehr genau. Niemals vordem hat man über den Generalstreik diskutiert. Dort existiert kein Koalitionsrecht, kein Streikrecht, und die bewußten Führer der Bewegung haben nie daran gedacht. Wenn wir aber den Massenstreik als ein gewaltiges Kampfesmittel in Rußland gesehen und erlebt haben, bringt uns die Situation dazu, daß es eine historische Notwendigkeit war, den Kampf in dieser Form auszufechten. Noch in keiner Revolution war die Arbeiterklasse so ausschlaggebend wie jetzt in Rußland, wo der ganze Handel und die Industrie lahmgelegt werden. Damals in der Revolution (1848) stand das Kleinbürgertum an der Spitze, heute in Rußland steht das Industrieproletariat an der Spitze der Revolution, aus all den Gründen, die ich bereits angeführt habe. Und wenn wir uns auf den Boden der Notwendigkeiten stellen, so haben wir darin ohne weiteres die Antwort auf alles. [5]

Tausend und drei Bedenken bei denjenigen, die heute Gegner des Massenstreiks sind. Sie werden gewiß die Ausführungen des Genossen Frohme im Hamburger Echo gelesen haben, sehr schwerwiegende Worte hat der Genosse dort in seinem Referat ausgesprochen. Er sagte, ihr habt drei Millionen Stimmen bei der Reichstagswahl erhalten, aber gehen diese drei Millionen Menschen alle mit in den Massenstreik? Nur 1½ Millionen Arbeiter sind politisch und gewerkschaftlich organisiert, verbleiben die weiteren 9 Millionen, die nicht organisiert sind. Eine solche Frage und Berechnung kann nur jemand anstellen, der von den Vorgängen in Rußland nicht einen blauen Dunst versteht.

In Rußland gab es vor der Revolution keine Gewerkschaftsorganisation. Man hat eben keinen Schimmer von der direkten Denkweise, wie Engels sagt, was hier und da Ursache ist usw. Die gewerkschaftlichen Organisationen können die Wirkung des Massenstreiks sein und umgekehrt. Wie stehen die englischen Gewerkschaften da? Nicht als Organisationen zum frischen fröhlichen Kampfe bereit, nein sie können die Massen nicht so leicht in Bewegung setzen. (Sehr richtig!) Diejenigen Gewerkschaftsführer, die in Köln der Arbeiterschaft zugerufen haben, sie könnte sich nicht auf den Massenstreik einlassen des Kostenpunktes wegen, und die Arbeiterorganisationen hätten vor allem Ruhe nötig, um sich weiter ausbauen zu lassen, diese Führer fahren auf sehr bedenklichem Wege, die deutsche Arbeiterschaft in allen ihren Hoffnungen niederzudrücken und in die Versumpfung zu bringen. (Sehr richtig!)

Man fragt, werden uns auch die unorganisierten Massen folgen? Ja, wenn Sie sich auf den Boden stellen, daß eine Massenstreikbewegung von heute in 14 Tagen ohne ... (unleserlich) vor sich gehen kann, wie aus der Pistole geschossen, daß man einen Bußtag dazu bestimmt, – ich bin sicher, daß die Massen uns auslachen würden. Aber andererseits werden Sie sich mit mir auf den Boden stellen, daß bei einer revolutionären Bewegung diese Massen uns folgen werden, weil wir die Veranlassung, die Situation zu der Revolution nicht schaffen; wir müssen diese Situation verstehen und ausnutzen. [6] Dann wird gefragt, wie wollen wir diese Massen ernähren und wie wollen wir sie im Zügel halten? Diesen Explosivstoff hat der Genosse Frohme gegen den Massenstreik in die Wagschale geworfen. Genossen, der Genosse, der Bedenken hegt, ob man bei einem Massenstreik die Massen im Zügel halten kann, der begeht eine Majestätsbeleidigung an der Arbeitermasse. In Frankreich, in Deutschland, in Russland, wo die Massen ... (unleserlich) auf dem Platze des politischen Lebens stritten, da hebt sich das moralische Niveau der Bevölkerung in erster Linie, da wird erst die wahre Sittlichkeit zur Wahrheit. Der Gedanke, den Frohme da ausgesprochen hat, das ist der richtige Gedankengang eines Staatsanwalts: Wer werde dafür sorgen, daß die Massen nicht verhungern bei einem Massenstreik? Ich muß wiederholt nach Russland verweisen, um beweisen zu können, wie die Massen zu hungern verstehen, wenn es sich darum handelt, Menschenrechte zu erringen. Ich hatte oft Gelegenheit, gerade das Schicksal der Arbeiterklasse meines engeren Vaterlandes in Russisch-Polen zu betrachten. Durch meine Zusammengehörigkeit mit der polnischen Sozialdemokratie erhielt ich Berichte aus Rußland, die, mit Blut und Tränen geschrieben, vom Kampfplatz stammen. Bereits im November 1904 herrschte in Warschau (?) Hungersnot. Hunderttausende von Menschen hatten nichts zu beißen. Das Proletariat will hungern, es will seine Ziele erreichen. Ein Heine [7], ein Frohme, sie werden es nicht begreifen, sie haben keine Ahnung von den sozialen Kämpfen. Sie haben die Geschichte vergessen, sie haben vergessen die mit Blut und Tränen geschriebenen Revolutionen in Frankreich und Deutschland.

Die politischen und sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse in moderner Form sind keine Zivilprozesse, wo alle Kosten vom Rechtsanwalt vorgeschlagen werden. Nein, die revolutionäre Situation trägt ihre Ziele in sich. Man muß die Situation verstehen, die uns die Geschichte entgegenführt, wo die Massen berufen sein werden, ihre ganze politische Reife, ihre ganze Kraft, auch ihre ganzen Heldentaten wieder einmal der Welt in Erinnerung zu rufen. Was wir zu tun haben, welchen Kämpfen, welchen Aufgaben uns der allgemeine Gang entgegenführt, ist, daß wir in uns selbst und in der Masse den lebendigen Geist der Kampfesfreudigkeit wach halten, um ihn immer schüren zu können, groß und mächtig die Flamme emporsteigen zu lassen. Was wir weiter zu tun haben, besteht darin, daß wir den Massen das sagen, was wir selber wissen. Unsere Kampfesweise besteht darin, daß wir die Geschichte der historischen Bewegung klar machen und daß die geschichtliche Entwicklung uns Momente entgegenführt, wo die Massen selbst das Heft in Händen haben. Dazu die Massen zu erziehen, muß unsere Aufgabe besonders sein. Mit offenen Augen in die Situation schauen. Hier heißt es, nichts Künstliches zu machen, nichts Künstliches herbeizuführen.

Genossen und Genossinnen, auch hier heißt es: »Bereit sein, ist alles!“

Bravo!!!

Paul Hoffmann: Sie haben durch Ihr zahlreiches Erscheinen gezeigt, daß Sie für die Frage, die wir heute abend behandeln, ein reges Interesse zeigen. Aber, das wird von Ihnen jeder zugeben müssen, damit ist es nicht genüge getan. Es bedarf bei dieser Frage nicht des Aufflatterns des einmaligen Interesses, weil eine Erscheinung heute abend hier war, die Sie aus der Parteiliteratur kennen, von der wir wissen, daß sie eine Verteidigerin des Gedankens ist, daß das Proletariat sich sein Schicksal selbst schaffen muß. Wir müssen, und Sie mit, selbst dafür sorgen, daß auch zu anderen Zeiten, wenn wir unsere Versammlungen haben, wenn wir zusammentreten und über den Gedanken der Kämpfe beraten und beschließen werden, auch dann soll ein solches Interesse vorhanden sein.

Es bedarf der fortgesetzten Erkenntnis des Gedankens, der uns zum Siege führt, daß nicht nur das einmalige Erscheinen nützt, sondern zum Siegen gehört auch Handeln. Und, Parteigenossen, ich rufe Ihnen die traurige Erscheinung ins Gedächtnis zurück, die wir in Hamburg erlebt haben angesichts des Versuchs, das Bürgerschafts-wahlrecht zu beschränken; und das in ganz kurzer Zeit, vielleicht schon in wenigen Wochen. Dann wird die bürgerliche Kamarilla in Hamburg von diesem Versuch zur Tatsache übergegangen sein. Die Bevölkerung Hamburgs /war/ im Jahre 1892, als die Cholera in Hamburgs Mauern wütete, bereits in zwei Klassen geteilt: in die Klasse derjenigen, die damals den Staub Hamburgs von ihren Pantoffeln schüttelten, aber gute Profitpatrioten waren, und in die Klasse derjenigen, die damals in die Höhlen der Proletarier hineingingen, um dort das Erdenklichste zu leisten, das Elend, die Seuche zu beseitigen. Das wird man jetzt wieder zur Tatsache machen. Wenn nichts trügt, wird man die Hamburger Bevölkerung wieder in zwei Klassen teilen, und zwar die, die kein Einkommen von M 2.500 haben, werden nicht in die obere Klasse kommen, sondern nur denen, die über M 2.500 Einkommen haben, trägt man erst Rechnung. Parteigenossen, das wird die Folge sein, und da heißt es jetzt – aufpassen: Alle Mann am Platz sein, um die Macht der ganzen Arbeiterschaft zu zeigen. Heute ist die Situation so, wie sie meiner Auffassung nach uns der bekannte Dichter Freiligrath im Jahre 1848 in seinem Gedicht: Sei gedacht der Toten usw. schildert.

Parteigenossen, sorgen Sie dafür, daß wir nicht die Sklaven der Bourgeoisie werden!

Wortmeldungen liegen nicht vor, ich schließe die Versammlung.

Schluß: 10.45 Uhr


Anmerkungen

1. Über den politischen Massenstreik sprach Rosa Luxemburg am 6. Dezember 1905 in Berlin. Diese Rede war in Inhalt und Aufbau der Hamburger Rede ähnlich. Ein Bericht darüber erschien am 8. Dezember im Vorwärts, abgedruckt in: Dokumente und Materialien ..., S. 139–>

2. Generalstreik der belgischen Arbeiter im April 1902 für ein demokratisches Wahlrecht. Rosa Luxemburg wertete die Lehren des Streiks in der Leipziger Volkszeitung und in der Neuen Zeit aus. – Vgl. Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 1/2, S. 192–>

3. „Zur hohen Ehre des deutschen bewußten Proletariats muß anerkannt werden, daß, obwohl bislang der äußerste Gegner des Generalstreiks, es jetzt als erstes auf die anschaulichen Lehren der russischen Befreiungsbewegung reagierte und sich mit Feuer, begeistert an die Seite der Idee stellte, die es mehr als 25 Jahre verspottet hatte. Die deutschen Arbeitermassen zeigten eine solche Flexibilität des Denkens, so viel revolutionären Spürsinn und politische Reife, daß sie sich einmal mehr auf eine höhere Stufe emporhoben als viele ihrer Führer.“ – Rosa Luxemburg: Vorwort zur russischen Ausgabe von Massenstreik, Partei und Gewerkschaften, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, H. 2002/III, September 2002, S. 141.

4. „Inzwischen kamen die Oktobertage in Rußland heran. Deren gewaltiger Einfluß zeigte sich sogleich in der stürmischen Bewegung des österreichischen Proletariats für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Demonstrationen und Massenstreiks in Wien, Prag, Graz beeinflußten ihrerseits die deutschen Arbeiter, vor allem im mit Österreich benachbarten Sachsen, wo gerade das Jahrzehnt nach dem reaktionären Umsturz zu Ende ging, der der Arbeiterklasse den Zugang zum hiesigen Landtag versperrt hatte.“ – Rosa Luxemburg: Vorwort ..., in: JahrBuch ..., S. 143. (In den Oktobertagen 1905 kam es zu politischen Massenstreiks in allen Industriezentren Rußlands unter der Losung: Sturz der Selbstherrschaft, Errichtung der demokratischen Republik. – d. Red.)

5. „So rückte das Massenstreikproblem nach und nach ins Zentrum des geistigen Lebens und des geistigen Interesses der deutschen Sozialdemokratie, und es wird aller Wahrscheinlichkeit nach diesen Platz noch eine längere Zeit einnehmen. In ihm kreuzen sich wie im Fokus alle strittigen Fragen der deutschen Arbeiterbewegung: über den Parlamentarismus und die unmittelbare Rolle der Massen; über den politischen und den ökonomischen Kampf des Proletariats; über Bedeutung und Rolle der Organisation; über die Planmäßigkeit und Spontanität der Arbeiterbewegung; über friedliche Taktik und Zusammenstöße mit der bewaffneten Macht der herrschenden Klassen; über allmähliches ‚Hineinwachsen‘ in eine sozialdemokratische Ordnung und revolutionäre ‚Sprünge‘ in der Entwicklung des Klassenkampfes ... Mit einem Wort, die Frage nach dem Massenstreik wurde zum Symbol einer ganzen Weltanschauung in der deutschen Arbeiterbewegung.“ – Rosa Luxemburg: Vorwort ..., in: JahrBuch ..., S. 145.

6. „Die Sozialdemokratie vermag weder in Rußland noch sonst in der Welt historische Momente und Situationen künstlich zu schaffen, wie sich jugendliches Maulheldentum vielleicht einbilden mag. Aber was sie kann und muß, ist, die jeweilige Situation ausnutzen, indem sie ihren historischen Sinn und ihre Konsequenzen dem Proletariat zum Bewußtsein bringt und es so zu weiteren Momenten des Kampfes hinüberleitet.“ – Rosa Luxemburg: Nach dem ersten Akt (Artikel vom l. Februar 1905 in der Neuen Zeit), in: Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 1/2, S. 489/490.

7. Wolfgang Heine, Mitarbeiter der rechtsgerichteten Sozialistischen Monatshefte, Mitglied des Reichstags.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012