Rosa Luxemburg


Ermattung oder Kampf?


IV

Andererseits kommt der Protest des Genossen Kautsky im Namen der „Ermattungsstrategie“, die alle ihre Hoffnungen auf die kommenden Reichstagswahlen setzt, reichlich spät. Nicht erst gegen die jetzige Erörterung des Massenstreiks hätte er seinen Mahnruf richten sollen, sondern bereits gegen die Straßendemonstrationen, ja gegen den ganzen Zuschnitt der Wahlrechtsbewegung in Preußen, wie sie durch den preußischen Parteitag [1] im Januar eingeleitet worden ist. Auf diesem Parteitag schon ist der leitende Gesichtspunkt der ganzen Wahlrechtskampagne mit Nachdruck formuliert worden, nämlich, daß die preußische Wahlreform nicht durch parlamentarische Mittel – also weder durch die Tätigkeit innerhalb des Parlaments, noch durch noch so glänzende Parlamentswahlen – erreicht werden könne, sondern einzig und allein durch eine scharfe Massenaktion draußen im Lande. „Es gilt eine Volksbewegung größten Stiles auf den Plan zu rufen“, erklärte dort der Referent unter lebhaftem Beifall, „sonst werden die Entrechteten kläglich geäfft und betrogen werden. Und was noch schlimmer ist, wir selbst würden uns die Schuld daran zuzuschreiben haben, daß das Volk so betrogen wird.“ [2]

Dem Parteitag lagen bereits fünf Anträge – aus Breslau, Berlin, Spandau-Osthavelland, Frankfurt a. M. und Magdeburg – vor, die die Anwendung schärferer Mittel, der Straßendemonstrationen und des Massenstreiks, forderten. Die Resolution, die dann einstimmige Annahme fand, stellt die Anwendung im Wahlrechtskampf „aller zu Gebote stehenden Mittel“ in Aussicht, und der Referent gab ihr folgenden Kommentar in seiner Rede: „Meine Resolution hat ausdrücklich davon Abstand genommen, Straßendemonstrationen oder den politischen Massenstreik zu erwähnen. Aber diese Resolution soll bedeuten – ich wünsche, daß der Parteitag sie auch so auffaßt –, daß wir entschlossen sind, alle uns zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden.“ Wann diese Mittel zur Anwendung kämen, das hängt immer ab, „von dem Grade der Entflammung, der durch unsere Aufklärung und Aufrüttelung in den Massen hervorgerufen wird. Wir müssen das Hauptgewicht darauf legen, daß wir vor allem für diese Entflammung der Massen im Wahlrechtskampf zu arbeiten haben.“ [3]

Die Demonstrationen, die seit dem preußischen Parteitag einsetzten, waren somit von vornherein im Zusammenhang mit der Losung eines eventuellen Massenstreiks gedacht, als Mittel, jenen Grad der „Entflammung der Massen“ zu erreichen, bei dem die schärfsten Mittel zur Anwendung kämen. Diese Demonstrationen fielen also bereits bedenklich aus dem Rahmen der „Ermattungsstrategie“ ins Gebiet der „Niederwerfungsstrategie“ heraus und leiteten zu dieser letzteren Direkt hinüber.

Dies auch noch aus einem weiteren Grunde. Gehört es zur „Ermattungsstrategie“, daß man im Sinne des Engelsschen Testaments vom Jahre 1895 jede Eventualität eines Zusammenstoßes mit der Militärmacht vermeidet, dann sind die Straßendemonstrationen allein und mehr noch als der Massenstreik bereits ein Bruch mit jener „Strategie“. Um so seltsamer erscheint nun, daß Genosse Kautsky seinerseits doch Demonstrationen befürwortet, ja er gibt zu, daß es notwendig sei, „vor allem die Straßendemonstration weiter zur Anwendung zu bringen, darin nicht zu erlahmen, sie im Gegenteil immer machtvoller zu gestalten“. [4] Aber er will Demonstrationen ohne Steigerung, ohne Zuspitzung. Die Demonstrationen sollen „immer machtvoller“ sein, sie sollen aber nicht „um jeden Preis vorwärts“ gehen, sie sollen „nicht erlahmen“, sich aber nicht zuspitzen. Mit einem Worte: die Demonstrationen sollen nicht vorwärts und nicht rückwärts gehen.

Dies ist nun eine rein theoretische Auffassung der Demonstrationen, der Massenktion überhaupt, die mit den wirklichen praktischen Bedingungen, mit der lebendigen Wirklichkeit nicht viel rechnet. Wenn wir große proletarische Massen auf die Straße zur Demonstration rufen; wenn wir ihnen erklären, die Situation sei eine derartige, daß einzig und allein durch ihre eigene Massenaktion, nicht durch parlamentarische Aktionen, der Zweck erreicht werden könne; wenn es uns gelingt, immer mehr die Massen zu entflammen; wenn die Straßendemonstrationen immer mächtiger und der Elan, die Kampfstimmung, immer größer, zugleich die unvermeidliche Verschärfung der Verhältnisse mit der Staatsmacht, die Möglichkeit der Zusammenstöße mit der Polizei und dem Militär immer größer wird, dann ersteht in den Massen von selbst die Frage: Was weiter? Die Demonstrationen bringen ja die Lösung nicht; sie sind der Anfang, nicht das Ende der Massenaktion; sie schaffen zugleich von selbst eine Zuspitzung der Lage. Und wenn die von uns entfachte Massenbewegung nach weiteren Direktiven, weiteren Aussichten ruft, so müssen wir ihr diese weiteren Aussichten zeigen, oder – wenn wir dazu aus diesem oder jenem Grunde nicht imstande sind – dann bricht auch die Demonstrationsbewegung über kurz oder lang zusammen, sie muß zusammenbrechen.

Genosse Kautsky bestreitet dies. Er beruft sich auf Österreich: „Über ein Dutzend Jahre hat dort der Wahlrechtskampf gedauert; schon 1894 wurde die Anwendung des Massenstreiks von den österreichischen Genossen erwogen, und doch vermochten sie bis 1905 ihre glänzende Massenbewegung ohne jede Steigerung und Zuspitzung im Gange zu halten ... Nie sind die Genossen Osterreichs in ihrem Wahlrechtskampf über Straßendemonstrationen hinausgegangen, und doch verschwand nicht ihr Elan, brach ihre Aktion nicht zusammen.“ [5]

Genosse Kautsky irrt sich in bezug auf die Tatsachen in Österreich, wie er sich in bezug auf die Tatsachen des belgischen Wahlrechtskampfes geirrt hat.

Die Genossen in Österreich vermochten so wenig über ein Dutzend Jahre „ihre glänzende Massenbewegung“ im Gange zu halten, daß diese Massenbewegung vielmehr von 1897 bis 1905, also etwa acht Jahre lang, vollständig darniederlag. Darüber haben wir ein zuverlässiges Zeugnis – in der Gestalt sämtlicher Parteitage der österreichischen Genossen für diese Zeit. Seit 1898 bis 1905 bilden nämlich die Klagen über den Zusammenbruch der Massenaktion, über das Darniederliegen des Wahlrechtskampfes eine ständige herrschende Note aller Parteitage. Schon auf dem Parteitag in Linz im Jahre 1898 bemängelt Genosse Winarsky, daß im Referat über die Parteitaktik „über das allgemeine Wahlrecht fast gar nichts gesprochen“ wurde und erklärt: „es müsse wieder ein Sturm auf diese Bastion unternommen werden“. [6] Dieselben Forderungen und Klagen wurden laut auf dem Parteitag in Brünn 1899. [7] Auf dem Parteitag in Graz im Jahre 1900 konstatiert Emmerling: „Seit dem Jahre 1897 haben wir den Kampf für das allgemeine Wahlrecht vollständig eingestellt.“ [8] Skaret meint, „daß es heute an uns sein wird, aus dem Parteitag heraus eine Wahlrechtsbewegung zu machen“. [9] Pölzer teilt mit: „Die Genossen sagen: seitdem wir die fünfte Kurie [10] haben, ist es so, als ob die Generäle hypnotisiert wären, es rührt sich nichts mehr. Ich meine also, es müssen überall Demonstrationsversammlungen für das allgemeine Wahlrecht abgehalten werden.“ [11] Bartel erklärt: „In dem Manifest der Parteivertretung und des Verbandes wurde ein schüchterner Aufruf zum Wahlkampf erlassen. Wir haben in der Provinz aufgeatmet, weil wir meinten, endlich werde etwas geschehen. Es geschah aber nichts, und wir stehen dort, wo wir vor dem Manifest standen.“ [12] Sämtliche Redner äußerten sich in demselben Sinne. Dieselben Klagen wiederholen sich auf dem Parteitag in Wien 1901 [13], in Aussig 1902 [14] und wieder in Wien 1903. [15] Auf dem Parteitag in Salzburg im Jahre 1904 endlich gab es einen ganzen Sturm des Unwillens über den Stillstand in der Wahlrechtsbewegung. Pölzer rief: „Ja, was wird denn eigentlich geschehen? ... Genossen, das geht nicht weiter. Wenn wir Drohungen aussprechen, müssen wir sie verwirklichen ... Eingreifen gilt es mit aller Macht, denn lange genug haben wir bloß gedroht.“ [16] Schuhmeier konstatiert: „Es läßt sich nicht leugnen, daß in unseren Reihen die Stimmung abgeflaut ist, daß das Feuer der Kampfesbegeisterung nachgelassen hat.“ [17] So groß war die allgemeine Gedrücktheit, der Elan so gering, daß Schuhmeier in Salzburg – ein knappes Jahr vor dem siegreichen Sturm im November 1905 – erklären konnte: „Ich bin heute überzeugt, daß wir vom allgemeinen Wahlrecht weiter entfernt sind als je.“ [18] Freundlich stellt fest, „es herrsche in den Massen eine Hoffnungslosigkeit und Teilnahmslosigkeit gegenüber dem politischen Leben ..., wie sie in diesem Umfange noch nicht beobachtet worden sei“. [19] Pernerstorfer meinte, nicht einmal Straßendemonstrationen wären mehr zustande zu bringen: man fordere, „daß wir auf die Straße gehen, daß wir die Parteigenossen auffordern, eine Art Demonstration zu beginnen, wie sie ja auch schon einmal gemacht worden sind – nun meinen wir aber ganz ernstlich, daß wir mit einer solchen Aktion jetzt ein Fiasko erleben würden“. [20] Winarsky sagt ausdrücklich: „Wir haben sieben Jahre gewartet, und ich glaube, es ist endlich notwendig, daß diese Zeit des Wartens im Interesse der Partei ein Ende nehme.“ [21]

Mit der „glänzenden Massenbewegung“, die in Osterreich zwölf Jahre lang im Fluß erhalten wurde, und dem Elan, der nicht nachließ, sah es also ziemlich dürftig aus. Freilich lag die Schuld nicht an der Parteileitung. Die wirkliche Ursache hat Adler schon in Linz erschöpfend nachgewiesen – indem er sagte: „Sie verlangen ..., man möge eine Wahlrechtsbewegung ins Werk setzen ..., offenbar eine Bewegung, die mit derselben Entschiedenheit auftritt, wie die, die wir vor mehreren Jahren hatten. Demgegenüber erkläre ich Ihnen: Heute können wir das nicht tun, vielleicht müssen wir es morgen tun, ich weiß es nicht. Daß wir es aber heute nicht tun können, das ist klar. Solche Bewegungen werden nicht ins Werk gesetzt, weil man sie machen will, solche Bewegungen müssen sich als innere Notwendigkeit aus den Verhältnissen ergeben.“ [22] Und seitdem mußte dasselbe auf jedem Parteitag wiederholt werden, denn das „Morgen“, an dem eine Massenbewegung für das Wahlrecht in Österreich wieder möglich wurde, ergab sich erst – im Jahre 1905 [23], als unter dem unmittelbaren Eindruck des siegreichen Massenstreiks in Rußland, der das Verfassungsmanifest des 30. Oktober [24] erzwungen hatte, die auf dem Parteitag [25] versammelten Genossen die Verhandlungen abbrachen, um auf die Straße zu steigen, entschlossen, „russisch zu reden“, wie sie zehn Jahre früher entschlossen waren, „belgisch“ zu reden.

Während also das Proletariat in Österreich tatsächlich nur in den zwei stürmischen Anläufen der Massenbewegung die Wahlreform durchgesetzt hat, die es anfangs der neunziger Jahre unter dem Anstoß des belgischen Massenstreiks und 1905 unter dem Anstoß des russischen Massenstreiks genommen hatte, lehnt Genosse Kautsky sowohl das belgische wie das russische Beispiel für Preußen ab, um uns als Muster auf jene dazwischenliegende achtjährige Periode in Österreich zu verweisen, in der die Wahlrechtsbewegung als Massenaktion in Wirklichkeit völlig darniederlag. Und in beiden Fällen, sowohl bei der Erringung der Taaffeschen Kurie des allgemeinen Wahlrechts wie bei der Erringung der jüngsten Wahlreform, war die Massenbewegung in Osterreich mit der Entschlossenheit zum Massenstreik fest verknüpft. Im Jahre 1905 waren ja, wie Genosse Kautsky wohl weiß, sogar die Vorbereitungen zum Massenstreik in ernstester Weise getroffen. Es kam zum Massenstreik nur deshalb nicht, weil in beiden Fällen die der Wahlreform zugeneigte Regierung sehr bald die Konzession machte. Bezeichnenderweise tauchte auch in Österreich, als in der tristen Zwischenzeit nach Mitteln gesucht wurde, die Massenbewegung zu beleben, jedes Mal wieder – die Losung des Massenstreiks auf. In Graz wie in Salzburg verwandelte sich die Debatte über die Wahlrechtsbewegung in eine Debatte über den Massenstreik. Die Genossen fühlten nämlich alle, was Resel in Graz ausgesprochen hat: „eine Wahlrechtsbewegung könne man nur dann einleiten, wenn an sie bis zum Äußersten durchzuführen entschlossen“ sei. [26] Freilich genügt die Entschlossenheit allein nicht, denn weder Massenstreiks noch Massendemonstrationen lassen sich künstlich aus dem Boden stampfen, wenn die politische Situation einerseits und die Stimmung der Massen andererseits nicht eine entsprechende Steigerung erfahren haben. Man soll sich aber keinen Illusionen hingeben, daß man umgekehrt eine Massenbewegung, daß man Demonstrationen jahrelang ohne Steigerung und ohne die Entschlossenheit zum schärfsten Kampf aufrechterhalten könne.

Wie wenig dies möglich ist, beweist der bisherige Verlauf unserer eigenen Wahlrechtsbewegung in Preußen. Daß vor zwei Jahren die begonnene erste Demonstrationsbewegung nach kurzer Zeit eingestellt wurde, obwohl der Elan der proletarischen Masse durchaus nicht im Abflauen begriffen war, ist ja eine bekannte Tatsache. Aber auch in diesem Jahre verrät die Bewegung in gewisser Hinsicht dieselben Züge. Bei jeder großen Demonstration, die in Berlin veranstaltet wurde, hatte man das deutliche Gefühl, daß sie mit dem inneren Gedanken unternommen wurde: „Nun aber Schluß!“ Nach der großartigen Demonstration im Tiergarten am 6. März [27], die ein großer Schritt vorwärts war von der Demonstration des 13. Februar [28], war die Stimmung der Massen in Berlin so gehoben, daß sich für die Partei, wenn es ihr wirklich darum zu tun war, die Demonstrationen „immer mächtiger“ zu gestalten, die Pflicht ergab, eine nächste passende Gelegenheit zu ergreifen, um eine neue noch wirksamere Demonstration zu veranstalten. Eine solche Gelegenheit bot sich aber, und eine glänzende – am 18. März oder wenigstens am nächsten Sonntag nach dem 18. März. Anstatt dessen, und um dieser Demonstration aus dem Wege zu gehen, wurden am 15. März jene drei Dutzend Versammlungen in Berlin angeordnet, die angesichts der Stimmung der Massen und nach dem 6. März einen kläglichen Rückzug bedeuteten. Der 18. März aber – ein Datum, das in diesem Jahre für die Massenbewegung eine Bedeutung und Aktualität erlangt hatte, wie noch in keinem früheren Jahre, der Jahrestag der deutschen Revolution und der Pariser Kommune, der sich für die Aufrüttelung der Massen, für politische Rückblicke und geschichtliche Analyse, für unbarmherzige Kritik der bürgerlichen Parteien glänzend verwerten ließ – der 18. März wurde in Berlin überhaupt nicht gefeiert. Weder eine Demonstration noch auch nur Massenversammlungen, noch eine Gedenkschrift – ein matter Leitartikel im Vorwärts, und keine Zeile in der Neuen Zeit – das war die Art, wie man die ausgezeichnete Gelegenheit und die ausgezeichnete Stimmung der Massen zu „immer machtvolleren Demonstrationen“ wahrgenommen hat. Und dies ist ganz natürlich. Geht man nicht an die Demonstrationen mit der klaren Entschlossenheit heran, die Bewegung immer weiter zu treiben und vor ihren Konsequenzen nicht zurückzuschrecken, dann ergibt sich jene Zaghaftigkeit, die der Möglichkeit jeder stürmischeren Demonstration lieber aus dem Wege geht.

Die Versammlungen des 15. März in Berlin, die den 18. März totgeschlagen haben, waren ein direkter Schritt zurück, gemessen an der Stimmung der Massen in Berlin und – der Parteigenossen in der Provinz. Wäre hier, wo die Genossen auch den 18. März nach Möglichkeit ausgenutzt haben und wo die Losung des Massenstreiks immer lauter wurde, die Kampfstimmung und die Entschlossenheit nicht so groß gewesen, so hätten wir sicher nicht die Demonstration des 10. April bekommen. [29] Wie sehr dies zutrifft, beweist ein weiterer Umstand. Kaum hatten wir in Berlin am 10. April den großen Sieg über die Reaktion, das Recht auf Straßendemonstrationen durchgedrückt [30], was wieder einen Schritt vorwärts über den 6. März hinaus bedeutete, wie es zweifellos die Frucht des 6. März war, so ergab sich für die Partei die klare Pflicht, falls sie überhaupt die Demonstrationen weiterführen und sie „immer machtvoller“ gestalten wollte, das neuerrungene Recht auf die Straße aufs Äußerste auszunutzen. Die nächste Gelegenheit dazu war – der 1. Mai. Hier erlebten wir aber die befremdende Tatsache: während im ganzen Lande auch die kleinsten Orte am 1. Mai in dieser oder jener Weise Straßendemonstrationen veranstaltet haben, während in größeren Zentren – in Dortmund, in Köln, in Magdeburg, in Frankfurt am Main, in Solingen, in Kiel, Stettin, Hamburg, Lübeck – die Straßendemonstrationen des 1. Mai an Umfang und Stimmung alle vorhergehenden übertroffen haben und ein wirklicher Schritt vorwärts waren, sowohl in der Wahlrechtsbewegung wie in der Maifeier, hat in Berlin gar keine Straßendemonstration stattgefunden – weder eine erlaubte noch eine unerlaubte, noch auch ein Versuch zu einer solchen. Ein Schock Versammlungen war alles, worin man wieder die prächtige Kampfstimmung der Berliner Arbeiterschaft zersplittert hat.

Während die parlamentarische Behandlung der Wahlrechtsvorlage – das Hin-und-her zwischen dem Herrenhaus und dem Abgeordnetenhaus – noch eine monatelange Frist und Gelegenheit zu Demonstrationen bietet, und während die Stimmung der Massen nicht das geringste Abflauen zeigt, hat es gar sehr den Anschein, als gingen wir einer schönen „Sommerpause“ entgegen, in der uns schon andere Sorgen plagen – Genosse Kautsky weist uns ja auf die kommenden Reichstagswahlen hin –, und in der die Demonstrationsbewegung ruhig aber sicher zum Schlaf gebettet wird. Das ist die unvermeidliche Logik der Dinge. Nicht durch meine sträfliche Agitation wird die Partei vor ein Dilemma gestellt, wie Genosse Kautsky meint, sondern durch die objektive Sachlage. Entweder will man „eine Volksbewegung größten Stils“ hervorrufen, die Losung „keine Ruhe in Preußen“ wahr machen, die Demonstrationen immer mächtiger ausgestalten, dann muß man mit der Entschlossenheit an die Sache herantreten, bis zum Äußersten zu gehen, der Zuspitzung der Situation, die sich ergeben kann, nicht ausweichen, alle großen wirtschaftlichen Konflikte für die politische Bewegung ausnutzen, und dann muß man auch die Losung des Massenstreiks auf die Tagesordnung stellen, sie in den Massen populär machen, denn nur auf diese Weise wird die Sicherheit, die Kampffreude und der Mut der Massen auf die Dauer erhalten. Oder aber will man nur ein paar Demonstrationen als kurze Parade nach dem Schnürchen und nach dem Kommando ausführen, um dann vor einer Verschärfung des Kampfes zurückzuweichen und sich schließlich auf die altbewährte Vorbereitung zu den Reichstagswahlen über ein Jahr zurückzuziehen, dann sollte man lieber nicht von einer „Volksbewegung größten Stils“ reden, die Anwendung „aller zu Gebote stehenden Mittel“ auf dem Parteitag ankündigen, im „Vorwärts“ im Januar ein ohrenbetäubendes Säbelgerassel inszenieren und selbst im Parlament mit dem Massenstreik drohen. Dann darf man sich aber auch keiner Täuschung hingeben, daß wir die Demonstrationen auf die Dauer erhalten und immer mächtiger gestalten werden. Sonst kommen wir in die Gefahr, wiederum ein wenig an die Schilderung der französischen Demokratie im „Achtzehnten Brumaire“ zu erinnern, von der Marx sagt: „Die revolutionären Drohungen der Kleinbürger und ihrer demokratischen Vertreter sind bloße Einschüchterungsversuche des Gegners. Und wenn sie sich in eine Sackgasse verrannt, wenn sie sich hinlänglich kompromittiert haben, um zur Ausführung Ihrer Drohungen gezwungen zu sein, so geschieht es in einer Weise, die nichts mehr vermeidet als die Mittel zum Zweck und nach Vorwänden zum Unterliegen hascht. Die schmetternde Ouvertüre, die den Kampf verkündete, verliert sich in ein kleinlautes Knurren, sobald er beginnen soll ..., und die Handlung fällt platt zusammen, wie ein luftgefüllter Ballon, den man mit einer Nadel pickt.“ [31]

Anmerkungen

1. Der Parteitag der preußischen Sozialdemokratie fand vom 3. bis 5. Januar 1910 in Berlin statt.

2. Heinrich Ströbel zur Wahlrechtsfrage, in Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Preußens, abgehalten in Berlin vom 3. bis 5. Januar 1910, Berlin 1910, S. 224.

3. ebenda, S. 228.

4. K. Kautsky, Was nun?, in Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, 2. Bd., S. 71.

5. ebenda, S. 70.

6. Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, abgehalten zu Linz vom 29. Mai bis einschließlich 1. Juni 1898, Wien 1898, S. 62.

7. Der Gesamtparteitag der Deutschen Sozialdemokratie Österreichs vom 24. bis 29. September 1899 fand in Brünn statt.

8. Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, abgehalten zu Graz vom 2. bis einschließlich 6. September 1900, Wien 1900, S. 79.

9. ebenda, S. 74.

10. Auf Grund der Streiks und Demonstrationen des österreichischen Proletariats für das allgemeine Wahlrecht sah sich die österreichische Regierung zu Zugeständnissen gezwungen. 1896 trat ein Wahlrechtsreform in Kraft, die auf einem von Ministerpräsidenten Eduard Taaffe 1893 vorgelegten Gesetzentwurf basierte. Zu den vier bestehenden wurde eine fünfte, allgemeine Wählerklasse (Kurie) eingeführt. Da für diese der Wahlzensus wegfiel, wurde ein größerer Kreis von Wählern erfaßt. Die Sozialdemokratie hatte erstmalig Gelegenheit, ihr Vertreter ins Parlament zu schicken. Zu dieser Reform bemerkte Rosa Luxemburg folgendes:

Die fünfte Kurie wurde 1896 unter dem Druck der Wahlrechtsbewegung eingeführt. „In der ersten Kurie wählen 5.431 Großgrundbesitzer 85 Parlamentsabgeordnete, in der zweiten Kurie wählen 591 Kaufleute und Industrielle 21 Abgeordnete, in der dritten Kurie wählen 493.804 Wähler aus der Stadtbevölkerung 118 Abgeordnete, in der vierten Kurie wählen 1.595.406 Wähler der Landbevölkerung 129 Abgeordnete, doch in der fünften Kurie der allgemeinen Stimmabgabe wählen 5.004.222 Wähler 72 Abgeordnete. (Rosa Luxemburg, Was wollen wir? Kommentar zum Programm der Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens, in Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke, Bd. 2, S. 37–89, hier S. 59 Fußnote)

11. Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, abgehalten zu Graz vom 2. bis einschließlich 6. September 1900, Wien 1900, S. 75.

12. ebenda, S. 76.

13. Der Gesamtparteitag der Deutschen Sozialdemokratie Österreichs vom 2. bis 6. November 1901 fand in Wien statt.

14. Der Gesamtparteitag der Deutschen Sozialdemokratie Österreichs vom 15. bis 18. August 1902 fand in Aussig statt.

15. Der Gesamtparteitag der Deutschen Sozialdemokratie Österreichs vom 9. bis 13. November 1903 fand in Wien statt.

16. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich. Abgehalten zu Salzburg vom 26. bis 29. September 1904, Wien 1904, S. 101.

17. ebenda, S. 104.

18. ebenda, S. 105.

19. ebenda.

20. ebenda, S. 107.

21. ebenda, S. 112.

22. Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, abgehalten zu Linz vom 29. Mai bis einschließlich 1. Juni 1898, Wien 1898, S. 71.

23. Im September 1905 war es in Österreich-Ungarn zum ersten politischen Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen. Die fortgesetzten Protestbewegungen zwangen die österreichische Regierung, im Januar 1907 ein Gesetz über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts vorzulegen.

24. Unter dem Druck des gesamtrussischen politischen Generalstreiks im Oktober 1905, einem Höhepunkt der Revolution in Rußland, mußte der Zar im Manifest vom 30. Oktober 1905 die einberufung einer konstituierenden Versammlung, bürgerlichen Freiheiten und dem Wahlrecht für arbeiter, für die städtische Intelligenz und für Angehörige freier Berufe zustimmen. Vgl. W. Klein, Die Russische Revolution 1917, Köln 2000, S. 23, 30

25. Der Gesamtparteitag der Deutschen Sozialdemokratie Österreichs vom 30. Oktober bis 2. November 1905 fand in Wien statt.

26. Verhandlungen des Parteitages der deutschen Sozialdemokratie Österreichs, abgehalten zu Graz vom 2. bis einschließlich 6. September 1900, Wien 1900, S. 77.

27. Für den 6. März 1910 hatte die Berliner Sozialdemokratie zu einer Kampfaktion für das demokratische Wahlrecht im Treptower park aufgerufen, die durch das Eingreifen der polizei in den Tiergarten umgeleitet werden mußte. Trotz des polizeilichen Verbots vom 13. Februar 1910 gestaltete sich die Veranstaltung durch ihre mustergültige Organisation und Disziplin zu einer eindrucksvollen Kundgebung von etwa 150.000 demonstranten.

28. In der Quelle: 12. Februar. – Am 13. Februar 1910 fanden in Berlin und vielen Städten ganz Deutschlands mächtige Wahlrechtsdemonstrationen statt, die durch die provokatorische Bekanntmachung der Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow über das Verbot von Straßendemonstrationen unter Androhung der Waffengewalt ausgelöst worden waren.

Traugott von Jagow war von 1909 bis 1916 Polizeipräsident in Berlin. Berüchtigt und für sein brutales Vorgehen gegen die Arbeiterklasse kennzeichnend war seine „Bekanntmachung“ vom 13. Februar 1910 zur Unterdrückung der Wahlrechtsbewegung in Berlin: „Es wird das ‚Recht auf die Straße‘ verkündet. Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne neugierige.“ (Sozialdemokratische Partei-Correspondenz, 5. Jg. 1910, Berlin o. J., S. 74)

29. Am 10. April fanden in ganz Preußen und anderen Gebieten Deutschlands Massendemonstrationen für ein demokratisches Wahlrecht statt, nachdem sich die Arbeiter vielfach das Recht auf Versammlungen unter freiem Himmel wiedererkämpft hatten.

30. Die Arbeiterbewegung hatte durch die vorigen nichtgenehmigten Massendemonstrationen die Regierung gezwungen, die Demonstrationen vom 10. April zu genehmigen

31. Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in K. Marx u. F. Engels, Werke, Bd. 8, S. 144.


Zuletzt aktualisiert am 13.1.2012