Rosa Luxemburg


Die Theorie und die Praxis


II

Und nun zum Massenstreik. Um seine unerwartete Stellungnahme gegen die Losung des Massenstreiks in der jüngsten preußischen Wahlrechtskampagne zu erklären, hatte Genosse Kautsky eine ganze Theorie von den zwei Strategien, der „Niederwerfungs-“ und der „Ermattungsstrategie“, geschaffen. Jetzt geht Genosse Kautsky noch weiter und baut ad hoc wieder eine ganz neue Theorie über die Bedingungen des politischen Massenstreiks in Rußland und in Deutschland. Wir hören da zunächst allgemeine Betrachtungen darüber, wie verfänglich geschichtliche Beispiele seien, wie man bei mangelnder Vorsicht aus der Geschichte so ziemlich für alle Strategien, Methoden, Richtungen, Institutionen und Dinge der Welt treffende Belege finden könne – Betrachtungen, die in ihrer Allgemeinheit und Breite eher harmloser Natur sind, deren weniger harmlose Tendenz und Spitze aber dahin formuliert ist, daß es „besonders gefährlich“ sei, „sich auf revolutionäre Vorbilder zu berufen“. [1] Diese Warnungen, die ihrem Geiste nach etwa wie väterliche Ermahnungen des Genossen Frohme anmuten, richten sich namentlich gegen die russische Revolution. Darauf folgt eine Theorie, die uns den völligen Gegensatz zwischen Rußland und Deutschland aufzeigen und dartun soll, daß die Bedingungen für den Massenstreik wohl in Rußland, nicht aber in Deutschland gegeben seien.

In Rußland hätten wir die schwächste Regierung der Welt, in Preußen die stärkste; in Rußland einen unglücklichen Krieg gegen ein kleines asiatisches Land [2], in Deutschland den „Glanz bald eines Jahrhunderts beständiger Siege über die stärksten Großmächte der Welt“ [3]; in Rußland ökonomische Rückständigkeit und ein Bauerntum, das bis zum Jahre 1905 an den Zaren wie an einen Gott glaubte, in Deutschland die stärkste ökonomische Entwicklung, bei der die konzentrierte Macht der Unternehmerverbände die Arbeitermasse durch äußersten Terrorismus niederhält; in Rußland gänzlicher Mangel an politischen Freiheiten, in Deutschland politische Freiheit, die den Arbeitern vielerlei Formen für ihren Protest und ihren Kampf „ohne Risiko“ verschafft, so daß sie „Vereine, Versammlungen, Presse, Wahlen aller Art vollauf beschäftigen“. [4] Und das Ergebnis dieser Kontraste ist: in Rußland war das Streiken die einzig mögliche Form des proletarischen Kampfes, deshalb war das Streiken an sich schon ein Sieg, wenn es auch planlos und ergebnislos war, ferner war jeder Streik an sich schon politische Tat, weil die Streiks verboten waren, in Westeuropa hingegen – hier erweitert sich das Schema Deutschlands auf ganz Westeuropa – sind solche „amorphen, primitiven Streiks“ [5] eine längst überwundene Sache, hier streike man nur noch, wenn ein positiver Erfolg zu erwarten sei. Die Moral aus alledem ist die, daß die lange revolutionäre Periode der Massenstreiks, in denen die ökonomische und politische Aktion, die Demonstrations- und die Kampfstreiks beständig einander ablösten und ineinanderspielten, ein spezifisches Produkt der russischen Rückständigkeit darstellt. In Westeuropa und speziell in Deutschland sei sogar ein Demonstrationsmassenstreik nach der Art der russischen äußerst schwierig, fast unmöglich, „nicht trotz, sondern wegen des halben Jahrhunderts sozialistischer Bewegung“ [6], der politische Massenstreik als Kampfmittel könne hier nur als ein einmaliger, letzter Kampf auf Leben und Tod“ in Anwendung kommen, wo es sich nur noch darum für das Proletariat handeln könne, zu siegen oder zugrunde zu gehen.

Ich will nur im Vorbeigehen darauf hinweisen, daß die Schilderung, die Genosse Kautsky von den russischen Verhältnissen gibt, in den wichtigsten Punkten fast total verkehrt ist. Das russische Bauerntum zum Beispiel fing nicht erst 1905 plötzlich an zu rebellieren, sondern seine Aufstände ziehen sich seit der sogenannten Bauernbefreiung im Jahre 1861 [7] – mit alleiniger Ruhepause zwischen 1885 und 1895 – wie ein roter Faden durch die innere Geschichte Rußlands, und zwar sowohl Aufstände gegen die Gutsbesitzer wie tätlicher Widerstand gegen die Regierungsorgane; ist doch dadurch das bekannte Rundschreiben des Ministers des Innern vom Jahre 1898 [8] veranlaßt worden, das die gesamte russische Bauernschaft unter Belagerungszustand gestellt hat. Das Neue und Besondere des Jahres 1905 war nur, daß die chronische Rebellion der Bauernmasse zum ersten Male eine politische und revolutionäre Bedeutung erlangte, als Begleiterscheinung und Ergänzung einer zielklaren revolutionären Klassenaktion des städtischen Proletariats. Noch verkehrter aber ist womöglich die Auffassung des Genossen Kautsky von dem Hauptpunkt der Frage – von der Streik- und Massenstreikaktion des russischen Proletariats. Das Bild von den chaotischen „amorphen, primitiven Streiks“ der russischen Arbeiter, welche einfach vor Verzweiflung streikten, nur um überhaupt zu streiken, ohne Ziel und Plan, ohne Forderungen und „bestimmte Erfolge“, ist eine blühende Phantasie. Die russischen Streiks der revolutionären Periode, die eine sehr beträchtliche Erhöhung der Löhne, vor allem aber eine fast allgemeine Verkürzung der Arbeitszeit auf 10, vielfach auf 9 Stunden durchgesetzt haben, die in Petersburg mehrere Wochen hindurch in zähestem Kampfe den Achtstundentag aufrechtzuerhalten vermochten, die das Koalitionsrecht nicht nur der Arbeiter, sondern auch der Staats- angestellten bei den Eisenbahnen und Posten erkämpft und – solange die Konterrevolution nicht Oberhand gewonnen hatte – gegen alle Angriffe verteidigt haben, die es fertiggebracht haben, das Herrenrecht des Unternehmers zu brechen und in vielen größeren Unternehmungen Arbeiterausschüsse zur Regelung aller Arbeitsbedingungen zu schaffen, die sich die Abschaffung der Akkordarbeit, der Heimarbeit, der Nachtarbeit, der Fabrikstrafen, die strikte Durchführung der Sonntagsruhe zur Aufgabe stellten, diese Streiks, aus denen in kurzer Frist hoffnungsvolle Gewerkschaftsorganisationen fast in allen Gewerben aufkeimten, mit regstem Leben, mit strammer Leitung, Kassen, Statuten und einer ansehnlichen Gewerkschaftspresse, diese Streiks, aus denen eine so kühne Schöpfung wie der berühmte Petersburger Rat der Arbeiterdelegierten [9] geboren wurde zur einheitlichen Leitung der ganzen Bewegung in dem Riesenreich – diese russischen Streiks und Massenstreiks waren so wenig „amorph“ und „primitiv“, daß sie vielmehr an Kühnheit, Kraft, Klassensolidarität, Zähigkeit, materiellen Errungenschaften, fortschrittlichen Zielen und organisatorischen Erfolgen jeder „westeuropäischen“ Gewerkschaftsbewegung ruhig an die Seite gestellt werden dürfen. Freilich ist der größte Teil der ökonomischen Errungenschaften nach der Niederlage der Revolution zusammen mit den politischen nach und nach wieder verlorengegangen. Aber das ändert offenbar nichts an dem Charakter der Streiks, solange die Revolution dauerte.

Nicht „gemacht“ und deshalb „planlos“, „von selbst“ wuchsen sich diese ökonomischen, partiellen und lokalen Konflikte alle Augenblicke zu allgemeinen politischen und revolutionären Massenstreiks aus, wie sie aus diesen wieder aufsprossen dank der revolutionären Situation und der hohen Spannung der Klassensolidarität in den proletarischen Massen. Nicht „gemacht“ und elementar war auch der Verlauf und der jeweilige Ausgang einer solchen allgemeinen politisch-revolutionären Aktion, wie er es in Massenbewegungen und in stürmischen Zeiten allezeit und überall bleiben wird. Will man aber den fortschrittlichen Charakter der Streiks und die „rationelle Streikführung“ an ihren unmittelbaren Erfolgen messen, wie dies Genosse Kautsky tut, dann hat die große Streikperiode in Rußland in den paar Jahren der Revolution an wirtschaftlichen und sozialpolitischen Erfolgen verhältnismäßig mehr durchgesetzt als die deutsche Gewerkschaftsbewegung in den vier Jahrzehnten ihrer Existenz. All dies ist freilich weder einem besonderen Heldentum noch einer besonderen Kunst des russischen Proletariats zu danken, sondern einfach den Vorteilen des Sturmschritts einer revolutionären Periode im Vergleich mit dem langsamen Gange der ruhigen Entwicklung im Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus.

Wie sagte doch Genosse Kautsky in seiner Sozialen Revolution, 2. Auflage, S. 63:

Gegen diese „Revolutionsromantik“ gibt es nur noch einen Einwand, der freilich um so häufiger vorgebracht wird, nämlich den, daß die Verhältnisse in Rußland nichts für uns in Westeuropa bewiesen, da sie von diesen grundverschieden seien.

Die Verschiedenheit der Verhältnisse ist mir natürlich nicht unbekannt, wenn man sie auch nicht übertreiben darf. Die jüngste Broschüre unserer Genossin Luxemburg beweist klar, daß die russische Arbeiterklasse nicht so tief steht und so wenig erreicht hat, als man gewöhnlich annimmt. Wie die englischen Arbeiter es sich abgewöhnen müssen, auf das deutsche Proletariat als ein rückständiges Geschlecht herabzusehen, so müssen wir in Deutschland uns das gleiche gegenüber dem russischen abgewöhnen.

Und noch weiter:

Die englischen Arbeiter stehen als politischer Faktor heute noch tiefer als die Arbeiter des ökonomisch rückständigsten, politisch unfreiesten europäischen Staates: Rußland. Es ist ihr lebendiges revolutionäres Bewußtsein, was diesen ihre große praktische Kraft gibt; es war der Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die Interessen des Augenblicks, die sogenannte Realpolitik, was jene zu einer Null in der wirklichen Politik machte. [10]

Doch lassen wir vorläufig die russischen Verhältnisse beiseite und wenden uns der Schilderung zu, die Genosse Kautsky von den preußisch-deutschen Verhältnissen gibt. Merkwürdigerweise vernehmen wir auch hier Erstaunliches. Bis jetzt ist es züm Beispiel das Vorrecht des ostelbischen Junkertums gewesen, dem erhebenden Bewußtsein zu leben, daß Preußen „die stärkste Regierung der Gegenwart“ besitze. Wie hingegen die Sozialdemokratie dazu kommen sollte, eine Regierung in allem Ernst als „die stärkste“ anzuerkennen, die „nichts andres als ein mit parlamentarischen Formen verbrämter, mit feudalem Beisatz vermischter, schon von der Bourgeoisie beeinflußter, bürokratisch gezimmerter, polizeilich gehüteter Militärdespotismus ist“, das zu begreifen fällt mir etwas schwer. Das läppische Jammerbild des Bethmann Hollwegschen „Kabinetts“, eine Regierung, die reaktionär bis auf die Knochen, dabei ohne Plan, ohne jede Richtlinie der Politik, mit Lakaien und Bürokraten statt Staatsmännern, mit einem schrullenhaften Zickzackkurs, im Innern der Spielball einer ordinären Junkerclique und eines frechen Intrigenspiels des höfischen Gesindels, in der auswärtigen Politik der Spielball eines unzurechnungsfähigen persönlichen Regiments, vor wenigen Jahren verächtlicher Stiefelputzer der „schwächsten Regierung der Welt“, des russischen Zarismus, gestützt auf eine Armee, die zu einem enormen Teil aus Sozialdemokraten besteht, mit dem stupidesten Drill, den infamsten Soldatenmißhandlungen der Welt – dies die „stärkste Regierung der Gegenwart“! Jedenfalls ein eigentümlicher Beitrag zur materialistischen Geschichtsauffassung, die bis jetzt die „Stärke“ einer Regierung nicht aus ihrer Rückständigkeit, Kulturfeindlichkeit, dem „Kadavergehorsam“ und dem Polizeigeist ableitete. Nebenbei hat Genosse Kautsky für diese „stärkste Regierung“ noch ein übriges getan und sie sogar mit dem „Glanz bald eines Jahrhunderts beständiger Siege über die stärksten Großmächte der Welt“ umwoben. In den Kriegervereinen hat man bis jetzt nur von dem „glorreichen Feldzug“ von 1870 gezehrt. Um sein „Jahrhundert“ des preußischen Glanzes zu konstruieren, hat Genosse Kautsky offenbar auch schon die Schlacht bei Jena mitgenommen sowie den Hunnenfeldzug nach China [11] mit unserem Waldersee an der Spitze und den Sieg Trothas über die Hottentottenweiber und Kinder in der Kalahari. [12]

Wie hieß es doch in dem schönen Artikel des Genossen Kautsky Die Situation des Reiches im Dezember 1906 zum Schluß einer langen und detaillierten Schilderung:

Man vergleiche die glänzende äußere Lage des Reiches bei seinem Beginn mit der heutigen Situation und man wird zugeben, daß nie ein glänzendes Erbe an Macht und Prestige rascher vertan ward ..., niemals seit seinem Bestand war des Deutschen Reiches Stellung in der Welt schwächer und nie hat eine deutsche Regierung gedankenloser und launenhafter mit dem Feuer gespielt wie in der jüngsten Zeit. [1*]

Damals galt es allerdings den glänzenden Wahlsieg auszumalen, der uns bei den Wahlen 1907 [13] erwartete, und die gewaltigen Katastrophen, die sich daraus nach Genossen Kautsky mit derselben Notwendigkeit ergeben sollten, mit der er sie jetzt auf die nächste Reichstagswahl folgen läßt.

Auf der anderen Seite konstruiert Genosse Kautsky auf Grund seiner Schilderung der ökonomischen und politischen Verhältnisse Deutschlands und Westeuropas eine Streikpolitik, die – an der Wirklichkeit gemessen – eine geradezu erstaunliche Phantasie ist. „Zum Streik“, versichert uns Genosse Kautsky, „greift der Arbeiter in Deutschland – und in Westeuropa überhaupt – nur als Kampfesmittel, wenn er die Aussicht hat, dadurch bestimmte Erfolge zu erzielen. Bleiben diese Erfolge aus, dann hat der Streik seinen Zweck verfehlt.“ [14] Genosse Kautsky hat mit dieser Entdeckung ein hartes Urteil über die Praxis der deutschen und „westeuropäischen“ Gewerkschaften gesprochen. Denn was zeigt uns zum Beispiel die Statistik der Streiks in Deutschland? Von den 19.766 Streiks und Aussperrungen, die wir insgesamt seit 1890 bis 1908 hatten, sind ein ganzes Viertel (25,2 Prozent) völlig erfolglos, fast ein weiteres Viertel (22,5 Prozent) nur teilweise erfolgreich und weniger als die Hälfte (49,5 Prozent) ganz erfolgreich gewesen. [2*] Ebenso kraß widerspricht diese Statistik der Theorie des Genossen Kautsky, wonach infolge der machtvollen Entwicklung der Arbeiterorganisationen wie der Unternehmerorganisationen „die Kämpfe zwischen diesen Organisationen ebenfalls immer mehr zentralisiert und konzentriert“ und deshalb „immer seltener[15] werden. In dem Jahrzehnt 1890 bis 1899 hatten wir in Deutschland insgesamt an Streiks und Aussperrungen 3.772, in den neun Jahren aber 1900 bis 1908, in der Zeit des größten Wachstums der Unternehmerverbände wie der Gewerkschaften, 15.994. Die Streiks werden so wenig „immer seltener“, daß sie vielmehr im letzten Jahrzehnt viermal zahlreicher geworden sind, wobei im ganzen in dem vorhergehenden Jahrzehnt 425.142 Arbeiter an den Streiks beteiligt waren, in den letzten neun Jahren 1.709.415, wiederum viermal soviel, also im Durchschnitt pro Streik ungefähr die gleiche Zahl.

Nach dem Schema des Genossen Kautsky hätten ein Viertel bis die Hälfte aller dieser gewerkschaftlichen Kämpfe in Deutschland „ihren Zweck verfehlt“. Allein jeder gewerkschaftliche Agitator weiß sehr wohl, daß der „bestimmte Erfolg“ in Gestalt von materiellen Errungenschaften durchaus nicht der einzige Zweck, nicht der einzige maßgebende Gesichtspunkt bei den wirtschaftlichen Kämpfen ist und sein darf, daß die Gewerkschaftsorganisationen „in Westeuropa“ vielmehr auf Schritt und Tritt in die Zwangslage kommen, den Kampf auch mit geringen Aussichten auf „bestimmten Erfolg“ aufzunehmen, wie dies namentlich die Statistik der reinen Abwehrstreiks zeigt, von denen in den letzten neunzehn Jahren in Deutschland ganze 32,5 Prozent völlig erfolglos verliefen. Daß solche „erfolglosen“ Streiks indes nicht bloß „ihren Zweck“ nicht „verfehlt“ haben, sondern daß sie zur Verteidigung der Lebenshaltung der Arbeiter, zur Aufrechterhaltung der Kampfenergie in der Arbeiterschaft, zur Erschwerung künftiger neuer Angriffe des Unternehmertums eine direkte Lebensbedingung sind, das gehört ja zu den elementarsten Grundsätzen der deutschen Gewerkschaftspraxis. Es ist ferner allgemein bekannt, daß außer dem „bestimmten Erfolg“ an materiellen Errungenschaften und auch ohne diesen Erfolg die Streiks „in Westeuropa“ das vielleicht wichtigste Ergebnis haben, als Ausgangspunkt der gewerkschaftlichen Organisation zu dienen, und daß es namentlich in zurückgebliebenen Orten und in schwer zu organisierenden Arbeitszweigen meist solche „erfolglosen“ und „unüberlegten“ Streiks sind, aus denen immer wieder die Fundamente der Gewerkschaftsorganisation entstehen. Die Kampf- und Leidensgeschichte der Textilarbeiter im Vogtland, deren berühmtestes Kapitel der große Crimmitschauer Streik [16] bildet, ist ein einziger Beleg dafür. Mit der „Strategie“, die sich Genosse Kautsky jetzt zurechtgelegt hat, läßt sich nicht bloß keine große politische Massenaktion führen, sondern nicht einmal eine gewöhnliche Gewerkschaftsbewegung.

Aber das obige Schema für die „westeuropäischen“ Streiks hat noch eine andere klaffende Lücke, und zwar gerade in dem Punkte, auf dem der wirtschaftliche Kampf für die Frage der Massenstreiks, also für unser eigentliches Thema, in Betracht kommt. Dieses Schema schließt nämlich ganz die Tatsache aus, daß gerade „in Westeuropa“ je länger, je mehr gewaltige Streiks ohne viel „Plan“ wie ein Elementargewitter auf solchen Gebieten ausbrechen, wo eine große ausgebeutete Masse von Proletariern der konzentrierten Übermacht des Kapitals oder des kapitalistischen Staates gegenübersteht, Streiks, die nicht „immer seltener“, sondern immer häufiger werden, die meist ganz ohne „bestimmte Erfolge“ verlaufen, trotzdem aber oder vielmehr gerade deshalb von größter Bedeutung sind als Explosionen eines tiefen inneren Gegensatzes, der direkt auf das politische Gebiet hinüberspielt. Hierher gehören die periodischen Riesenstreiks der Bergarbeiter in Deutschland, in England, in Frankreich, in Amerika, hierher gehören die spontanen Massenstreiks der Landarbeiter, wie sie in Italien, in Galizien stattgefunden haben, ferner die Massenstreiks der Eisenbabnarbeiter, die bald in diesem, bald in jenem Staate ausbrechen. Wie hieß es doch in dem trefflichen Artikel des Genossen Kautsky über Die Lehren des Bergarbeiterstreiks im Ruhrrevier im Jahre 1905:

Nur auf diesem Wege lassen sich noch erhebliche Fortschritte für die Bergarbeiterschaft erzielen. Der Streik gegen die Grubenbesitzer ist aussichtslos geworden; der Streik muß von vornherein als politischer auftreten, seine Forderungen, seine Taktik müssen darauf berechnet sein, die Gesetzgebung in Bewegung zu setzen ... Diese neue gewerkschaftliche Taktik – fährt Genosse Kautsky fort –, die des politischen Streiks, der Verbindung von gewerkschaftlicher und politischer Aktion, ist die einzige, die den Bergarbeitern noch möglich bleibt, sie ist überhaupt diejenige, die bestimmt ist, die gewerkschaftliche wie die parlamentarische Aktion neu zu beleben und der einen wie der anderen erhöhte Aggressivkraft zu geben.

Es könnte scheinen, daß hier unter „politischer Aktion“ vielleicht nur die parlamentarische Aktion und nicht etwa politische Massenstreiks zu verstehen sind. Genosse Kautsky zerstreut jeden Zweifel, indem er klipp und klar erklärt:

Aber die großen entscheidenden Aktionen des kämpfenden Proletariats werden immer mehr durch die verschiedenen Arten des politischen Streiks auszufechten sein. Und die Praxis schreitet da schneller vorwärts wie die Theorie. Denn während wir über den politischen Streik diskutieren und nach seiner the0retischen Formulierung und Begründung suchen, entbrennt spontan, durch Selbstentzündung der Massen, ein gewaltiger politischer Massenstreik nach dem anderen – oder wird jeder Massenstreik zu einer politischen Aktion, gipfelt jede große politische Kraftprobe in einem Massenstreik, sei es bei den Bergarbeitern, sei es unter den Proletariern Rußlands, den Landarbeitern und Eisenbahnern Italiens usw. [3*]

So schrieb Genosse Kautsky am 11. März 1905.

Hier haben wir „die Selbstentzündung der Massen“ und die gewerkschaftliche Leitung, ökonomische Kämpfe und politische Kämpfe, Massen- streiks und Revolution, Rußland und Westeuropa im schönsten Durcheinander, alle Rubriken des Schemas in lebendigem Zusammenhang einer großen Periode heftiger sozialer Stürme verschmolzen.

Es scheint, daß „die Theorie“ nicht bloß langsamer „vorwärtsschreitet“ als die Praxis, sie macht leider zuweilen auch noch Purzelbäume nach rückwärts.

Fußnoten von Rosa Luxemburg

1*. Neue Zeit, XXV, 1, S. 427.

2*. Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, 1909, Nr. 7. Statistische Beilage.

3*. Neue Zeit, XXIII, 1, S. 780 u. 781.



Anmerkungen

1. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 365.

2. Vom Januar 1904 bis September 1905 hatte Japan einen imperialistischen Krieg gegen Rußland um die Vorherrschaft im Fernen Osten geführt. Die schwere Niederlage der russischen Truppen im Jahre 1905 schwächte den Zarismus und verschärfte die revolutionäre Krise in Rußland.

3. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 368.

4. Siehe ebenda, S. 369.

5. Ebenda.

6. Ebenda, S. 370.

7. Im Jahre 1861 wurde in Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben. doch blieben die sozialen Widersprüche trotz dieser und einiger anderer Reformen bestehen.

8. Das zaristische Innenministerium unter I.L. Goremykin hatte in einem Rundschreiben vom 17. Juli 1898 außerordentliche Maßnahmen zur Niederwerfung der Bauernerhebungen gefordert.

9. Im Verlauf der russischen Revolution 1905 waren in mehreren Städten Rußlands Sowjets der Arbeiterdeputierten als revolutionäre Machtorgane der Arbeiterklasse entstanden, unter denen der Petersburger Sowjet besonders herausragte.

10. Karl Kautsky, Die Soziale Revolution. Teil 1: Sozialreform und soziale Revolution, zweite, durchgesehene und vermehrte Auflage, Berlin 1907, S. 59 u. 63.

11. 1899 war in Nordchina der antiimperialistische Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee grausam niedergeworfen wurde. China wurde gezwungen, hohe Kontributionen zu zahlen und der Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen. Das Eingreifen der deutschen Truppen ist auch als sogenannter Hunnenfeldzug bekannt geworden.

12. Siehe Anm.11.

13. Die Wahlen zum Reichstag (bekannt geworden als Hottentottenwahlen) hatten am 25. Januar und 3. Februar stattgefunden. Die Sozialdemokratie konnte ihre absolute Stimmenzahl von 3 Millionen im Jahre 1903 auf fast 3,3 Millionen 1907 steigern. Auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie erhielt diese nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.

14. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band. S. 369.

15. Ebenda, S. 372.

16. Im August 1903 waren in Crimmitschau etwa 8.000 Textilarbeiter für Zehnstundentag und Lohnerhöhung in den Streik getreten. Das Eingreifen der Staatsgewalt und die Verhängung des Kleinen Belagerungszustandes über Crimmitschau verliehen dem Streik politischen Charakter. Alle Versuche der Unternehmer. den Streik beizulegen. scheiterten an der Kampfentschlossenheit der Arbeiter. die durch die Solidarität der deutschen und internationalen Arbeiterklasse gestärkt wurde. Erst das Eingreifen reformistischer Gewerkschaftsführer gegen den Willen der Streikenden zwang die Arbeiter. im Januar 1904 die Arbeit bedingungslos wiederaufzunehmen.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012