Rosa Luxemburg


Die Theorie und die Praxis


V

Was bleibt eigentlich von der Massenstreiktheorie des Genossen Kautsky übrig, nachdem er alle die „Unmöglichkeiten“ nachgewiesen hat? Der eine „letzte“, rein politische Massenstreik, der nur ein einziges Mal, losgelöst von ökonomischen Streiks, aber ganz zum Schluß wie ein Donner aus heiterem Himmel einschlägt.

Hier, in dieser Auffassung, – sagt Genosse Kautsky – liegt der tiefste Grund der Differenzen über den Massenstreik, die zwischen meinen Freunden und mir bestehen. Sie erwarten eine Periode der Massenstreiks, ich vermag mir unter Verhältnissen, wie sie in Deutschland bestehen, einen politischen Massenstreik nur als ein einmaliges Ereignis vorzustellen [Hervorhebung – R.L.], in den das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht eintritt, als einen Kampf auf Leben und Tod, als einen Kampf, der unsere Gegner niederringt oder die Gesamtheit unserer Organisationen und unsere ganze Macht für Jahre hinaus zerschmettert oder mindestens lähmt. [1]

Zu diesem Bilde des „letzten Massenstreiks“, wie es dem Genossen Kautsky vorschwebt, ist nun vor allem zu sagen, daß es jedenfalls eine ganz neue Schöpfung ist, die nicht nach der Wirklichkeit, sondern aus reiner „Vorstellung“ gezeichnet ist. Denn es paßt nicht nur zu keinem russischen Vorbild; auch nicht ein Massenstreik unter den vielen, die in „Westeuropa“ oder den Vereinigten Staaten stattgefunden haben, ähnelt annähernd dem vom Genossen Kautsky für Deutschland erfundenen Exemplar. Keiner von den bisher bekannten Massenstreiks war ein „letzter“ Kampf „auf Leben und Tod“, keiner hat zum völligen Siege der Arbeiter geführt, keiner aber auch „die Gesamtheit der Organisationen“ und „die ganze Macht“ des Proletariats „auf Jahre hinaus zerschmettert“. Der Erfolg war meist nur ein teilweiser und ein mittelbarer. Die Riesenstreiks der Bergarbeiter endeten gewöhnlich unmittelbar mit einer Niederlage, im weiteren Gefolge hatten sie aber wichtige soziale Reformen durch ihren Druck erzielt: in Österreich den Neunstundentag, in Frankreich den Achtstundentag. Der belgische Massenstreik im Jahre 1893 [2] hat als hochwichtiges Ergebnis die Eroberung des allgemeinen, ungleichen Wahlrechts gehabt. Der schwedische Massenstreik des vorigen Jahres [3] hat formal mit einem Kompromiß abgeschlossen, im Grunde genommen eine Generalattacke des koalierten Unternehmertums auf die schwedischen Gewerkschaften abgewehrt. Die österreichischen Demonstrationsstreiks [4] haben die Wahlreform mächtig gefördert. Die Massenstreiks der Landarbeiter haben, bei ihrer formalen teilweisen Ergebnislosigkeit, die Organisation unter den Landarbeitern in Italien und Galizien gestärkt. Alle Massen streiks, ob ökonomische oder politische, demonstrative oder Kampfstreiks, haben das gehalten, was die Genossin Oda Olberg so treffend in ihrer Bilanz des italienischen Eisenbahnerstreiks seinerzeit in der Neuen Zeit schrieb:

Die Errungenschaften des politischen Streiks sind nicht einzuschätzen: je nach dem Grade des proletarischen Klassenbewußtseins wechselt ihr Wert. Ein mit Kraft und Solidarität durchgeführter politischer Streik ist immer unverloren, weil er das ist, was er bezweckt, eine Machtentfaltung des Proletariats, bei der die Kämpfenden ihre Kraft und ihr Verantwortungsgefühl stählen und die herrschenden Klassen der Stärke der Gegner bewußt werden. [1*]

Hat aber bis jetzt noch jeder Massenstreik ohne Ausnahme, in „Westeuropa“ wie in Rußland, im strikten Gegensatz zum neuesten Schema des Genossen Kautsky weder völligen Sieg noch die Zerschmetterung des Proletariats gebracht, sondern umgekehrt fast immer eine Stärkung der Organisationen, des Klassenbewußtseins und des Machtgefühls der Arbeiter, so entsteht auf der anderen Seite die Frage: Wie kann in Deutschland jener große und „letzte“, jener apokalyptische Massenstreik, bei dem die stärksten Eichen krachen, die Erde berstet und die Gräber sich öffnen, überhaupt zustande kommen, wenn die Masse des Proletariats nicht vorher durch eine ganze lange Periode von Massenstreiks, von ökonomischen oder politischen Massenkämpfen dazu vorbereitet, geschult, aufgerüttelt wird? In diesen „letzten“ Massenstreik soll sich ja nach dem Genossen Kautsky „das ganze Proletariat des Reichs“ und noch dazu „mit seiner ganzen Macht“ stürzen. Wie sollen aber plötzlich die preußisch-deutschen Staatsarbeiter, die Eisenbahner, Postbeamten usw., die heute im „Kadavergehorsam“ erstarrt sind, die Landarbeiter, die kein Koalitionsrecht und keine Organisation haben, die breiten Schichten der Arbeiter, die noch in gegnerischen Organisationen, in christlichen, in Hirsch-Dunckerschen, gelben Gewerkschaften stecken, kurz, die ganze große Masse des deutschen Proletariats, die bis jetzt weder unserer gewerkschaftlichen Organisation noch der sozialdemokratischen Agitation zugänglich war, mit einem Sprunge für einen „letzten“ Massenstreik „auf Leben und Tod“ reif sein, wenn sie nicht durch eine vorhergehende Periode stürmischer Massenkampfe, Demonstrationsstreiks, partieller Massenstreiks, wirtschaftlicher Riesenkämpfe usw. nach und nach aus ihrer Starrheit, ihrem Kadaver- gehorsam, ihrer Zersplitterung losgelöst und der Gefolgschaft der Sozialdemokratie angegliedert wird?

Das muß wohl auch Genosse Kautsky einsehen. „Natürlich“, sagt er, „stelle ich mir dies einmalige Ereignis nicht als einen ‚aus der Pistole geschossenen‘ isolierten Akt vor. Auch ich erwarte eine Ära erbitterter Massenkampfe und Massenaktionen, aber den Massenstreik als die letzte Waffe.“ [5] Allein, welche „Massenkämpfe und Massenaktionen“ hat denn Genosse Kautsky im Sinne, die jenem „letzten“ Massenstreik vorausgehen und die selbst nicht aus Massenstreik bestehen sollen? Sollen es Straßendemonstrationen sein? Aber man kann nicht jahrzehntelang bloße Straßendemonstrationen machen. Und allgemeine, eindrucksvolle Demonstrationsstreiks sollen ja nach dem Genossen Kautsky in Deutschland eben ausgeschlossen sein; es sei ja „gar nicht daran zu denken, daß bei uns in einem Demonstrationsstreik gegen die Regierung Stadtbahnen, Straßenbahnen, Gaswerke zum Stillstand kommen“. Wirtschaftliche Massenstreiks können gleichfalls jene Vorbereitungsarbeit für den politischen Massen- streik nicht verrichten, sie sind ja nach dem Genossen Kautsky vom politischen Massenstreik streng fernzuhalten, sie seien ihm gar nicht förderlich, sondern geradezu schädlich. Worin sollen also schließlich jene „erbitterten“ Massenkampfe und Massenaktionen der Vorbereitungsära bestehen? Etwa in „erbitterten“ Reichstagswahlen oder in Versammlungen mit Protestresolutionen? Aber jene gewaltigen Schichten des nichtorganisierten oder gegnerisch organisierten Proletariats, auf die es beim „letzten“ Massenstreik ankommt, bleiben ja leider unseren Versammlungen fern. Und so ist es schlechterdings nicht abzusehen, wie wir eigentlich das „ganze Proletariat des Reiches“ für den letzten Kampf „auf Leben und Tod“ gewinnen, aufrütteln und schulen werden. Ob Genosse Kautsky es will oder nicht, sein letzter Massenstreik kommt eben, da er eine Periode von Massenstreiks wirtschaftlichen und politischen Charakters ausschließt, einfach aus der Pistole geschossen.

Schließlich muß man sich aber fragen: Was ist das eigentlich für ein „letzter“ Massenstreik, der nur einmal kommt und in dem das ganze Proletariat des Reiches mit seiner ganzen Macht auf Leben und Tod ringt? Soll darunter ein periodischer „letzter“ Massenstreik verstanden sein, der in jeder großen politischen Kampagne, also etwa um das preußische Wahlrecht, um das Reichstagswahlrecht, zur Verhinderung eines verbrecherischen Krieges usw., zum Schluß die Entscheidung gibt? Aber man kann nicht periodisch und mehrmals „auf Leben und Tod“ kämpfen. Ein so ausgemalter Massenstreik, in dem „das ganze Proletariat“ und obendrein „mit ganzer Macht“ „auf Leben und Tod“ ringt, kann nur jener Kampf sein, wo es sich um die ganze politische Macht im Staate handelt, das kann offenbar nur jener „letzte“ Kampf „auf Leben und Tod“ sein, in dem das Proletariat um seine Diktatur ringt, um dem bürgerlichen Klassen- staat den Garaus zu machen. Der politische Massenstreik für Deutschland verschiebt sich auf diese Weise immer weiter; erst wurde er durch die „Ermattungsstrategie“ nach den Reichstagswahlen im nächsten Jahr erwartet, jetzt entschwindet er als der „letzte“, der einzige Massenstreik unseren Blicken und neckt uns gar aus bläulicher Ferne der – sozialen Revolution.

Erinnern wir uns jetzt noch an die Bedingungen, die Genosse Kautsky in seinem ersten Artikel Was nun? an die Ausführung des politischen Massenstreiks knüpfte: die strengste Geheimhaltung der Vorbereitungen vor dem Feinde, Beschlußfassung durch den obersten „Kriegsrat“ der Partei, möglichste Überrumpelung der Gegner – und wir bekommen unversehens ein Gedankenbild, das eine starke Ähnlichkeit mit dem „letzten, großen Tag“, dem Generalstreik nach anarchistischem Rezept hat. Die Idee des Massenstreiks verwandelt sich aus einem geschichtlichen Prozeß der modernen proletarischen Klassenkämpfe in ihrer jahrzehntelangen Schlußperiode in einen Kladderadatsch, in dem das „ganze Proletariat des Reichs“ plötzlich mit einem Ruck der bürgerlichen Gesellschaftsordnung den Garaus macht.

Wie schrieb doch Genosse Kautsky 1907 in seiner Sozialen Revolution, 2. Auflage, Seite 54:

Das ist unsinnig. Ein Generalstreik in dem Sinne, daß alle Arbeiter eines Landes auf ein gegebenes Zeichen die Arbeit niederlegen, setzt eine Einmütigkeit und eine Organisation der Arbeiter voraus, die in der heutigen Gesellschaft kaum je erreicht werden kann, und die, wenn einmal erreicht, so unwiderstehlich wäre, daß sie des Generalstreiks nicht erst bedürfte. Ein solcher Streik würde aber mit einem Ruck nicht bloß die bestehende Gesellschaft, sondern überhaupt jede Existenz unmöglich machen, die der Proletarier noch eher al die der Kapitalisten, er müßte also unfehlbar gerade in dem Moment usammenbrechen, in dem er seine revolutionäre Wirksamkeit zu entfalten begänne.

Der Streik als politisches Kampfmittel wird kaum je, sicher nicht in absehbarer Zeit, die Form eines Streikes aller Arbeiter eines Landes annehmen ... Wir gehen einer Zeit entgegen, wo gegenüber der Übermacht der Unternehmerorganisationen der isolierte, unpolitische Streik ebenso aussichtslos sein wird, wie gegenüber dem Druck der von den Kapitalisten abhängigen Staatsgewalt die isolierte parlamentarische Aktion der Arbeiterparteien. Es wird immer notwendiger werden, daß beide sich ergänzen und aus ihrem Zusammenwirken neue Kräfte saugen.

Wie der Gebrauch jeder neuen Waffe, so muß auch der des politischen Streiks erst gelernt werden. [6] [Hervorhebung – R.L.]

So hat Genosse Kautsky, je mehr er zur Rechtfertigung seiner Stellungnahme im preußischen Wahlrechtskampf zu breiten theoretischen Verallgemeinerungen ausholte, um so mehr die allgemeinen Perspektiven der Entwicklung des Klassenkampfes in Westeuropa und in Deutschland aus dem Auge verloren, die zu zeichnen er selbst in den letzten Jahren nicht müde wurde. Er hat wohl auch selbst das unbehagliche Gefühl der In- kongruenz seiner jetzigen mit seinen früheren Gesichtspunkten gehabt und war deshalb so zuvorkommend, im letzten, dritten Teil seiner Replik gegen mich seine Artikelserie aus dem Jahre 1904 Allerhand Revolutionäres ausführlich zu reproduzieren. Der krasse Widerspruch ist freilich dadurch nicht aus der Welt geschafft, er hat nur den chaotischen, schillernden Charakter jenes letzten Artikelteils verursacht, der den Genuß bei dessen Lektüre so ungemein beeinträchtigt.

Doch nicht jene Artikelserie allein bildet eine schrille Dissonanz mit dem, was Genosse Kautsky jetzt ausführt. In seiner Sozialen Revolution lesen wir von einer ganzen langen Periode revolutionärer Kämpfe, in die wir eintreten werden und in denen der politische Massenstreik „sicher eine große Rolle spielen“ wird (S.54). Die ganze Broschüre Der Weg zur Macht ist der Schilderung derselben Perspektiven gewidmet. Ja, hier sind wir bereits. in die revolutionäre Periode eingetreten. Hier revidiert Genosse Kautsky das „politische Testament“ von Friedrich Engels und erklärt, die Zeit der „Ermattungsstrategie“, die ja in der gesetzlichen Ausnutzung der gegebenen staatlichen Grundlage besteht, sei bereits vorüber:

Anfangs der neunziger Jahre – sagte er – habe ich anerkannt, daß eine ruhige Weiterentwicklung der proletarischen Organisationen und des proletarischen Klassenkampf es auf den gegebenen staatlichen Grundlagen das Proletariat in der Situation jener Zeit am weitesten vorwärtsbringe. Man wird mir also nicht vorwerfen können, es sei das Bedürfnis, mich in Rrrevolution und Rrradikalismus zu berauschen, wenn mich die Beobachtung der heutigen Situation zu der Anschauung führt, daß die Verhältnisse seit dem Anfang der neunziger Jahre gründlich geändert sind, daß wir alle Ursache haben, anzunehmen, wir seien jetzt in eine Periode von Kämpfen um die Staatseinrichtungen und die Staatsmacht eingetreten, Kämpfe, die sich unter mannigfachen Wechselfällen durch Jahrzehnte hinziehen können, deren Formen und Dauer vorläufig noch unabsehbar sind, die aber höchst wahrscheinlich bereits in absehbarer Zeit erhebliche Machtverschiebungen zugunsten des Proletariats, wenn nicht schon seine Alleinherrschaft in Westeuropa herbeiführen.

Und weiter:

In dieser allgemeinen Unsicherheit sind aber die nächsten Aufgaben des Proletariats klar gegeben. Wir haben sie bereits entwickelt. Es kommt nicht mehr vorwärts ohne Änderung der staatlichen Grundlagen, auf denen es seinen Kampf führt. Die Demokratie im Reich, aber auch in den Einzelstaaten, namentlich in Preußen und Sachsen, aufs energischste anzustreben, das ist seine nächste Aufgabe in Deutschland; seine nächste internationale Aufgabe der Kampf gegen Weltpolitik und Militarismus.

Ebenso klar wie diese Aufgaben liegen auch die Mittel zutage, die uns zu ihrer Lösung zu Gebote stehen. Zu den bisher schon angewandten ist noch der Massenstreik getreten, den wir theoretisch bereits anfangs der neunziger Jahre akzeptierten, dessen Anwendbarkeit unter günstigen Umständen seitdem wiederholt erprobt wurde. [2*] [Hervorhebungen – R.L.]

In seiner Sozialen Revolution, im Weg zur Macht, in der Neuen Zeit predigte Genosse Kautsky den deutschen Gewerkschaften den „politischen Streik“ als die „neue Taktik“, die immer mehr geboten sei angesichts der Tatsache, daß der rein gewerkschaftliche Streik durch die Unternehmerverbände immer mehr zur Erfolglosigkeit verurteilt werde. Diese Auffassung war es ja, die ihm im vergangenen Jahre die erbitterte Fehde mit dem Correspondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften [Deutschlands] eingetragen hat.

Jetzt will Genosse Kautsky ökonomische Streiks von politischer Aktion streng scheiden, jetzt erklärt er, daß alle Streiks in Westeuropa unbedingt „bestimmte Erfolge“ erreichen [müssen], sonst haben sie „ihren Zweck verfehlt“, und zu Mitteln, welche „das Proletariat organisieren, seine Einsicht und sein Kraftgefühl heben und das Zutrauen der Volksmasse zu seinen Organisationen mehren“, zählt er nur „glücklich ausgefochtene Lohnbewegungen“. Jetzt brauchen wir überhaupt nichts dringender als „sichtbare Erfolge“, um den Massen zu imponieren. „Es gibt aber wenig Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere steigende Kraft dokumentieren wie Wahlsiege, wie die Eroberung neuer Mandate.“ [7] Also Reichstagswahlen und Mandate – das ist Moses und die Propheten!

Jetzt hören wir, daß der deutsche Arbeiter nur für Kundgebungen „ohne Risiko“ zu haben ist, daß „ein bloßer Demonstrationsstreik nicht einmal die eindrucksvollste“ Form des politischen Protestes ist, „eine siegreiche Reichstagswahl macht weit größeren Eindruck“! Und endlich „eine wirkliche Massendemonstration“, die einer Sache gelten soll, „die nicht sofortige Abwehr erheischt, sondern bloßen Protest gegen ein Unrecht bekunden soll, das schon mehr als ein halbes Jahrhundert besteht“, ein solcher Demonstrationsstreik sei in Deutschland o“hne einen gewaltigen Anlaß“ kaum möglich. [8] Genosse Kautsky hat bloß nicht bemerkt, daß er mit dieser Argumentation im Vorbeigehen die schönste theoretische Begründung für – die Abschaffung der Maifeier geliefert hat.

Mit vollem Rechte verweist Genosse Kautsky darauf, daß er „schon vor der russischen Revolution“, in seinem Artikel Allerhand Revolutionäres, eine genaue Beschreibung der Wirkungen eines politischen Massenstreiks gegeben hatte. Doch kommt es, wie mir scheint, nicht bloß darauf an, revolutionäre Kämpfe und deren äußeren Verlauf in der theoretischen Abstraktion, sozusagen im Nirgendwo zu schildern, ihr allgemeines Schema zu entwerfen, sondern ebensosehr darauf, in der Praxis jeweilig diejenigen Losungen zu geben, die das Maximum an revolutionärer Energie des Proletariats auslösen, die Situation am meisten und am raschesten vorwärtstreiben können. Freilich hat Genosse Kautsky in seinen zahlreichen Artikeln, in seinen Broschüren das Bild der revolutionären Kämpfe der Zukunft mit zwingender Klarheit gegeben, bei der Beschreibung des Massenstreiks zum Beispiel schon 1904 geschildert, wie „jedes Herrenhaus, jede Scheune, jede Fabrik, jede Telegraphenleitung, jede Eisenbahnstrecke militärisch bewacht werden“, wie die Soldaten überall gegen die Menge hingeschickt werden und wie es doch nirgends zur Schlacht kommt, „denn wo sie hinkommen, zerstiebt die Menge, um sich überall zu sammeln, wo sie noch nicht hinkamen oder eben waren“, wie zuerst „Gas- und Elektrizitätswerke aufhören zu funktionieren, Straßenbahnen zu verkehren, schließlich werden selbst Post und Eisenbahn vom Streikfieber ergriffen; zunächst streiken die Werkstättenarbeiter, dann auch die jüngeren Betriebsbeamten“ – kurz, alles mit einer Plastik, Lebendigkeit und einem Realismus, die um so bewundernswerter sind, als es sich um Vorgänge in der blauen Luft handelt. Als aber die Frage aus dieser luftigen Höhe, wo die Theorie wie ein Aar ruhig ihre Kreise zog, zum ersten Male auf die platte Erde der preußischen Wahlrechtskampagne herniederstieg, da verwandelte sich plötzlich die kopflose und ratlose preußische Regierung in einen Rocher de bronze, die zur sozialen Revolution („Hurra! Marsch, marsch!“) fertigen deutschen Verhältnisse, wie sie der Weg zur Macht schildert, in ein starres Land, wo „gar nicht daran zu denken ist“, daß die staatlichen Werkstättenarbeiter und die Betriebsbeamten, seien es jüngere oder ältere, an einer Demonstration mittun, und die „revolutionäre Ära, die anhebt“, verwandelte sich in eine fleißige Vorbereitung zu den Reichstagswahlen, denn „es gibt wenige Erfolge, die so sinnenfällig der Masse unsere Kraft dokumentieren“ wie – Reichstagsmandate.

Himmelstürmende Theorie – und „Ermattung“ in der Praxis, revolutionärste Perspektiven in den Wolken – und Reichstagsmandate als einzige Perspektive in der Wirklichkeit. Genosse Kautsky hat seinen Feldzug gegen mich mit der dringenden Notwendigkeit erklärt, die Idee des Massenstreiks vor einer Kompromittierung zu retten. Ich fürchte beinahe, es wäre sowohl für die Idee des Massenstreiks wie für den Genossen Kautsky besser gewesen, wenn diese Rettungsaktion unterblieben wäre.

Fußnoten von Rosa Luxemburg

1*. Oda Olberg, Nachträgliches zum Eisenbahnerstreik, in: Neue Zeit, XXIII, 2. S. 385.

2*. Karl Kautsky, Der Weg zur Macht, Berlin 1909, S.  52/53 u. 101/102.



Anmerkungen

1. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 374.

2. Im April 1893 war es in Belgien zum ersten Mal in der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung zu einem politischen Generalstreik für das allgemeine Wahlrecht gekommen, an dem sich etwa 250.000 Arbeiter beteiligten. Als Ergebnis dieses Streiks mußte das belgische Wahlrecht wesentlich erweitert werden.

3. Vom 4. August bis 6. September 1909 war auf Beschluß der Landeszentrale der Gewerkschaften in Schweden von allen ihr angeschlossenen Organisationen ein allgemeiner Ausstand durchgeführt worden, an dem sich 75 Prozent der in Industrie, Handwerk und Verkehr beschäftigten Arbeiter beteiligten. Mit diesem Streik war der Versuch der Unternehmerverbände, durch großangelegte Aussperrungen während der Wirtschaftskrise die Zustimmung der Gewerkschaften zu Lohnreduzierungen zu erzwingen, abgewehrt worden.

4. Von Oktober bis Dezember 1905 fanden in Österreich-Ungarn auf Beschluß der Sozialdemokratischen Partei Österreichs Massenstreiks und Massendemonstrationen für das allgemeine wahlrecht statt.

5. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 374.

6. Karl Kautsky, Die Soziale Revolution. Teil 1: Sozialreform und soziale Revolution, S. 55.

7. K. Kautsky, Eine neue Strategie, in: Die Neue Zeit, 28. Jg. 1909/10, Zweiter Band, S. 419.

8. Siehe ebenda, S. 370.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012