Rosa Luxemburg


Das Offiziösentum der Theorie

 

IV

Seit Jahren haben wir in unseren Reihen kein so allgemeines lebhaftes Bedürfnis verspürt, vorwärtszukommen, unserer Taktik eine größere Wucht und Schlagfertigkeit, unserem Organisationsapparat eine größere Beweglichkeit zu verleihen, wie jetzt. Die Kritik an den eigenen Mängeln im Parteileben und in den Kampfmethoden, wie stets die erste Vorbedingung jedes inneren Fortschritts in den Reihen der Sozialdemokratie, ist diesmal aus dem Schoße der Organisationen selbst herausgekommen, sie hat in den weitesten Kreisen der Partei ein kräftiges Echo gefunden. Und es sollte scheinen, daß zu einer solchen Selbstkritik Anlaß genug vorhanden ist. Der preußische Wahlrechtskampf ist nach dein glänzenden Anlauf im Jahre 1910 in völlige Stagnation geraten. Die Aktion der Partei wie der Fraktion im Kampfe gegen die Militärvorlage war nach allgemeinem Empfinden nicht auf der Höhe; speziell die Taktik der Fraktion gegenüber der Deckungsvorlage [1] hat eine tiefe Beunruhigung in den Parteikreisen hervorgerufen. Der Stand der Organisation und der Abonnenten unserer Presse weist den minimalsten Fortschritt, den wir seit dem Bestehen der Partei zu verzeichnen haben, stellenweise sogar einen Rückgang auf. Geben alle diese Erscheinungen auch gar keinen Grund zu Bußtagspredigten über unsere hoffnungslose „Verbürgerlichung“, so sind sie für eine Kampfpartei, namentlich für eine Partei der Selbstkritik wie die unsere, Grund zur ernsten Prüfung der eigenen Kräfte und Kampfmethoden. Wie die Parteipresse und der Verlauf der Parteiversammlungen von allen Seiten dartun, empfinden die weitesten Kreise der Genossen das ernste Bedürfnis, sich mit all den auftauchenden Fragen, Zweifeln und Problemen auseinanderzusetzen.

Nur Kautsky, derselbe Kautsky, der bei mir „mangelnde Vertrautheit mit dem Fühlen und den Lebensbedingungen des Proletariats“ [2] bemängelt, hat von diesem Drängen und von dieser Unruhe unserer Massen nicht das geringste verspürt. Er seinerseits findet an unserem Parteileben gar nichts auszusetzen. Ist auch die Fortsetzung der Wahlrechtsdemonstrationen, die Kautsky selbst im Mai 1910 für notwendig erklärte, ausgeblieben und ist der Wahlrechtskampf seit drei Jahren eingeschlafen, Kautsky findet alles in Ordnung und erklärt, daß nur Most und Hasselmann sich nach etwas anderem sehnen könnten. Kritisiert man unser Verhalten bei der Militärvorlage als mangelhaft, dann fordert Kautsky, man solle ihm doch zeigen die Massenaktionen gegen solche Vorlagen in Frankreich, Italien, Österreich, ja er hat sogar den grimmigen Humor, vom heutigen Rußland das Vorbild der Aktion gegen den Militarismus für die deutsche Sozialdemokratie mit ihrer Million Organisierter zu fordern.

Wenn die Parteigenossen draußen im Lande die flaue Stimmung der Massen im Kampfe gegen die Militärvorlage als eine bittere und, beschämende Enttäuschung empfinden, findet Kautsky diese Flauheit ganz begreiflich und ruft kühl bis ans Herz hinan: Weshalb sollten sich denn die Massen erregen? Handelte es sich doch nach ihm um nichts als um die Ausdehnung der allgemeinen Wehrpflicht auf alle wehrhaften Männer, wonach die ungeheuerlichste aller Militärvorlagen beinahe so harmlos aussieht wie die Verleihung eines Ordens vierter Güte an einen fortschrittlichen Führer.

Während Kautsky noch im Jahre 1909 das Verhalten der Fraktion bei der Finanzvorlage [3] scharf kritisierte, durchaus eine Obstruktion forderte, auf dem Leipziger Parteitag entschieden gegen die Abstimmung für direkte Steuern auftrat, weil sie mit indirekten verkoppelt waren, und erklärte: „Niemals dürfen wir dem heutigen System eine Steuer bewilligen zu Zwecken, die wir verwerfen[4] (Leipziger Parteitagsprotokoll, S. 349) [Hervorhebung – R.L.], findet er heute kein Wort gegen das Verhalten der Fraktionsmehrheit. Ja, er feiert es als einen herrlichen Sieg und den Beginn eines ganzen Frühlings „positiver Arbeit“ im Reichstag. Und selbst der Rückgang der Organisation und der Abonnenten vermag Kautsky nicht aus der beschaulichen Ruhe eines Philosophen herauszubringen:

Kein Zweifel – sagt er – es ist im Parteileben augenblicklich ein gewisser Stillstand zu verzeichnen, der an manchem Orte sogar zu einem Rückgang der Abonnentenzahlen der Parteipresse und der Mitgliederzahlen der Parteiorganisationen geführt hat. Das ist sicher nicht erfreulich, aber noch lange keine bedenkliche Erscheinung. [5] [Hervorhebung – R.L.]

Man denke: Derselbe Kautsky, der sich überhaupt nur auf Organisierte verlassen, nur mit ihnen alle Schlachten des Klassenkampfes schlagen will, der in der Organisation nicht bloß den bewußten Kern und die leitende Vorhut des Proletariats, sondern überhaupt das all und einzige des Klassenkampfes und der Geschichte sieht, derselbe Kautsky entwickelt plötzlich eine merkwürdige Gelassenheit, wenn man selbst einen Rückgang unserer Organisationen feststellt! Ja, er versteigt sich, um diesen Rückgang „unbedenklich“ erscheinen zu lassen, zu der höchst bedenklichen Theorie, daß man ja „an den Zielen unserer Bewegung dasselbe Interesse nehmen könne, ob man in der Organisation steht oder nicht“. [6] Ein Glück, daß die Neue Zeit keine allzu große Verbreitung in den Massen findet, sonst würden ja die Organisationsfaulen bei unserem Obertheoretiker die schönste Rechtfertigung ihres sträflichen Verhaltens finden. Wenn unsereiner zu behaupten wagt, daß die Unorganisierten in einzelnen stürmischen Momenten, in bestimmten historischen Situationen, beim Kampfe um große volkstümliche Ziele neben den Organisierten und unter ihrer Anführung mitmachen müssen, dann gerät Kautsky in die edelste Entrüstung ob solchem Blanquismus, Putschismus, Syndikalismus. Wenn es aber gilt, das Bestehende mit seinen Mängeln zu beschönigen und die Selbstkritik der Partei einzulullen, dann entdeckt Kautsky plötzlich, was keiner vor ihm wußte: daß man sogar an den Zielen unserer Bewegung „dasselbe Interesse“ nehmen könne, ob man organisiert sei oder nicht!

Das ist ein Offiziösentum, wie es reiner in unserer Partei und jedenfalls im Organ des geistigen und theoretischen Lebens der Sozialdemokratie nie vertreten worden ist. Und jedenfalls ist das ein Gebrauch der Theorie, der mit dem Geiste des Marxismus nichts gemein hat. In Marxens Geist ist die theoretische Erkenntnis nicht dazu da, um hinter der Aktion einherzugehen und für alles, was von den „obersten Behörden“ der Sozialdemokratie jeweilig getan oder gelassen wird, einen rechtfertigenden Beruhigungsschleim zu kochen, sondern umgekehrt, um der Aktion der Partei führend vorauszugehen, um die Partei zur ständigen Selbstkritik anzustacheln, um Mängel und Schwächen der Bewegung aufzudecken, um neue Bahnen und weitere Horizonte zu zeigen, die in den Niederungen der Kleinarbeit unsichtbar sind.

Kautsky hingegen bekämpft den Gedanken an eine Offensive in unserer Taktik, er bekämpft die Forderung der Initiative, er bekämpft die Losung des Massenstreiks. Was er aber zu bieten weiß, sind nur die gefährlichsten Illusionen in bezug auf den Parlamentarismus. Im Frühjahr 1910, als die Partei mitten in den preußischen Wahlrechtsdemonstrationen die Frage der weiteren Kampfmittel erörterte, trat Kautsky dazwischen, um zu der Abrüstung im Wahlrechtskampf die Theorie zu liefern und im Sinne der leitenden Parteikreise die ganze Aufmerksamkeit und Energie auf die bevorstehenden Reichstagswahlen zu lenken. Reichstagswahlen! Das war Kautskys einzige taktische Losung. Auf die Reichstagswahlen sollten alle Hoffnungen konzentriert werden. Nach den Reichstagswahlen versprach Kautsky „eine ganz neue Situation“ und stellte einen „neuen Liberalismus“ in Aussicht. Freilich, auch dieser „neue Liberalismus“ war, wie alle politischen Horoskope Kautskys, in lauter Wenn und Abers gewickelt, und jede positive Behauptung wurde nachträglich durch einschränkende Bedingungen wieder aufgehoben. Doch der einzige begreifliche Zweck und der Kern seiner Ausführungen sowie des Schlagwortes vom neuen Liberalismus war doch nur der, Hoffnungen auf den „neuen Mittelstand“ zu wecken und den Schwerpunkt des politischen Kampfes ins Parlament zu verlegen.

Die Gunst der heutigen Situation – schrieb Kautsky am 25. Februar 1912 im Vorwärts – liegt nicht darin, daß in den Liberalen plötzlich entschlossene Kämpfer für eine demokratische Revolution auf den Plan getreten sind, sondern darin, daß die Haltung der Liberalen uns Gegenüber alle Pläne der Reaktionäre zuschanden macht. Unser Wahlsieg hat diese nicht überrascht, mit dem rechnete alle Welt. Aber sie erwarteten, daß unter dem Eindruck des proletarischen Wahlsiegs die Liberalen, von panischem Schrecken ergriffen, in hellen Haufen ins reaktionäre Lager abschwenken, das Wort von der reaktionären Masse zur Wahrheit machen würden ...

Und das wäre sicher auch geschehen ohne den neuen Mittelstand. So ist aber nicht bloß die starke Sozialdemokratie gekommen, sondern neben ihr auch ein Liberalismus, der zum Kampfe gegen die Rechte bereit ist – ihnen Gegenüber diese in der Minderheit. [7] [Hervorhebungen – R.L.]

Und gegen Schluß:

Die Machtverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen, wie sie der jüngste Wahlkampf nicht geschaffen, wohl aber enthüllt hat, sie haben eine politische Situation hervorgerufen, die ihres gleichen in der bisherigen Geschichte Deutschland nicht findet. Man braucht nicht parlamentarischem Kretinismus verfallen zu sein, noch die Macht des Reichstages und die Kraft des Liberalismus zu überschätzen, um zu der Anschauung zu kommen, daß der Schwerpunkt unserer politischen Entwicklung wieder einmal im Reichstag ruht und die parlamentarischen Kämpfe uns in der gegebenen Situation ein erhebliches Stück vorwärts bringen können – natürlich nicht durch sich selbst allein, sondern durch ihre Rückwirkung auf die Massen, die die feste Grundlage unserer Kraft bleiben, wie immer sich die parlamentarischen Konstellationen gestalten mögen. [8] [Hervorhebungen – R.L.]

Die Reichstagswahlen sind längst vorüber, die „ganz neue Situation“ ist nicht eingetreten, vielmehr wird der alte reaktionäre Kurs ruhig fortgesetzt. Unsere Fraktion von 110 hat sich gegen diese Reaktion, wie nicht anders zu erwarten war, im großen und ganzen ebenso machtlos erwiesen wie die frühere von 53. Der „neue Liberalismus“ hat sich trotz „neuen Mittelstandes“ als der älteste, greisenhafteste herausgestellt. Der preußische Wahlrechtskampf hat sich von der Erstarrung seit dem Frühjahr 1910 immer noch nicht erholt. Und die neue politische Situation, „die ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht findet“, kulminierte in einem Stillstand der Sozialreform und in der glatten Annahme einer Militärvorlage, die „ihresgleichen in der bisherigen Geschichte Deutschlands nicht finden“.

Was ist nun heute die Losung Kautskys? Wieder Reichstagswahlen und nichts als Reichstagswahlen! „Das Wachstum der Bedeutung des Reichstags im Bewußtsein der Volksmassen“ – das ist nach Kautsky auch heute noch der einzige Weg, wie wir vorwärtskommen! Wie seine Theorie auf eine offiziöse Beruhigung aller Skrupel und Rechtfertigung alles Bestehenden in der Partei hinausläuft, so seine Taktik auf das Bremsen der Bewegung auf dem alten ausgefahrenen Geleise des reinen Parlamentarismus, im übrigen auf die Hoffnung, daß die Geschichte schon die revolutionäre Entwicklung besorgen wird und daß, wenn die Zeit reif ist, die Massen über die bremsenden Führer hinwegstürmen werden. Oder wie Kautskys Gesinnungsgenosse, der Vorwärts, so schön formuliert hat: „Wenn die Massen in stürmischer Erregung sind, wenn sie vorwärtsdrängen, wenn sie um bremsende Führer sich nicht mehr bekümmern, dann ist der Augenblick, nicht wo der Massenstreik diskutiert und dann proklamiert ist, sondern wo er da ist, geboren aus der zwingenden unwiderstehlichen Gewalt der Massenbewegung.“

Das ist eine Anweisung für unsere Führer, die an die Regierungsmaximen des seligen Kaisers Ferdinand vor der Märzrevolution erinnert: „Mich und den Metternich hält“s noch aus.“ Solange es „aushält“, sollen sich die Führer der Sozialdemokratie an die heilige Routine, an den Nurparlamentarismus halten und den neuen Aufgaben der Zeit mit Gewalt entgegenstemmen. Erst wenn alles Bremsen nichts hilft, soll der Beweis erbracht sein, daß „die Zeit erfüllet sei“.

Sicher werden bremsende Führer schließlich von den stürmenden Massen auf die Seite geschoben werden. Allein, dieses erfreuliche Ergebnis als ein sicheres Symptom der „reifen Zeit“ ruhig erst abzuwarten mag für einen einsamen Philosophen angemessen sein. Für die politische Leitung einer revolutionären Partei wäre es Armutszeugnis, moralischer Bankrott. Die Aufgabe der Sozialdemokratie und ihrer Führer ist nicht, von den Ereignissen geschleift zu werden, sondern ihnen bewußt vorauszugehen, die Richtlinien der Entwicklung zu überblicken und die Entwicklung durch bewußte Aktion abzukürzen, ihren Gang zu beschleunigen.

Nichts ist auch rascher und gründlicher von der wirklichen Entwicklung begraben worden als die taktischen Weisungen Kautskys in den letzten drei Jahren: wie seine „Ermattungsstrategie“, die auf den Nurparlamentarismus hinausläuft und von der jetzt die Mehrheit der Partei nichts wissen will, wie seine „Abrüstung“, die im Orkus verschwunden ist, wie sein „neuer Liberalismus“, wie seine „ganz neue Situation“ nach den Reichstagswahlen, wie die unter seinem theoretischen Segen ausgeführte Dämpfungstaktik bei den Wahlen. So wird es auch in Zukunft gehen. Eine Theorie, die nicht dem Vorwärtsstreben der Massen, sondern dem Bremsen dient, kann selbst nur erleben, daß sie von der Praxis überrannt, achtlos auf die Seite geschoben wird.

Anmerkungen

1. Die Militärvorlage vom März 1913 brachte die größten Rüstungssteigerungen der deutschen Geschichte. Da ein Teil der Kosten durch Vermögenssteuern aufgebracht werden sollte, wollten Teile der SPD diesen Steuererhöhungen trotz ihres Zwecks zustimmen. Durch Anwendung der Fraktionsdisziplin unterdrückten diese Revisionisten den Widerstand von 37 Abgeordneten und die Fraktion stimmte für das neue Gesetz. Dadurch wurde das sozialdemokratische Grundsatz – „Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!“ – aufgegeben.

2. Siehe Karl Kautsky, Nachgedanken zu den nachdenklichen Betrachtungen, in Die Neue Zeit (Stuttgart), 31. Jg. 1912/13, 2. Bd., S. 536.

3. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hatte 1909 der Einführung einer Erbschaftssteuer zugestimmt, obwohl sie nicht mit Steuersenkungen für die Massen verbunden war, sondern weitere Aufrüstung finanzieren sollte. Diese Haltung, die die Opportunisten auf dem Leipziger Parteitag 1909 mit demagogischer Berufung auf das sozialdemokratische Parteiprogramm zu rechtfertigen suchten, führte in der Sozialdemokratie zu heftigen Auseinandersetzungen über die prinzipielle Haltung der Partei zu direkten Steuern im kapitalistischen Klassenstaat.

4. Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Abgehalten zu Leipzig vom 12. bis 18. September 1909, Berlin 1909, S. 349.

5. Karl Kautsky, a.a.O., S. 533

6. ebenda, S. 534.

7. Karl Kautsky, Der neue Liberalismus und der neue Mittelstand, in Vorwärts (Berlin), Nr. 47 vom 25. Februar 1912.

8. ebenda.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012