Rosa Luxemburg


Die andere Seite der Medaille

(2. April 1914)


Sozialdemokratische Korrespondenz (Berlin), Nr. 39 vom 2. April 1914.
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 3, S. 426–429.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Zeitgeschichte scheint sich jetzt besonders Mühe zu geben, fast jeden Tag mit neuen glänzenden Belegen die Richtigkeit der sozialdemokratischen Auffassung vorn Staate zu demonstrieren. Uns Sozialdemokraten wird seit jeher von bürgerlicher Seite der Vorwurf gemacht, daß wir gewissenlos den „Umsturz“ herbeiführen wollen, daß wir auf „Katastrophen“ hinarbeiten. Die Vorgänge in England [1] sind wieder ein klassischer Beweis dafür, wie wenig wir es nötig haben, uns nach Katastrophen zu sehnen, wie sehr die heutige Gesellschaftsordnung selbst durch ihre innere Zerklüftung aus eigenem Schoße unausgesetzt wirtschaftliche und politische Erschütterungen und Krisen gebiert.

Die Vorgänge in und um Ulster [Nordirland] weisen in der Tat alle Merkmale der politischen Katastrophe für das öffentliche Leben Englands auf, einer Katastrophe, deren grundsätzliche Bedeutung erst dann plastisch hervortritt, wenn wir sie mit den analogen Erscheinungen in anderen Ländern zusammenstellen: mit der berühmten Dreyfus-Affäre in Frankreich [2] und mit der Zabernaffäre [3] in Deutschland. Vor fünfzehn Jahren erbebte die französische Republik, durch den monarchistisch-klerikal-nationalistischen Aufruhr der Armee in ihren Grundfesten erschüttert. Vor einem halben Jahr tauchte in Preußen-Deutschland der Schrecken der Militärdiktatur auf. Und nun sind wir Zeugen eines schweren Kampfes des englischen Parlamentarismus mit der Revolte selbstherrlicher Offiziere. Schon die Tatsache, daß so verschieden geartete politische Gebilde wie die Dritte Republik in Frankreich, das altehrwürdige Parlamentsregime Englands und der deutsche Halbabsolutismus aus völlig verschiedenen Anlässen dieselben Krisen einer Militärdiktatur erleben, weist auf die tiefliegenden Wurzeln und den elementaren Charakter dieser Erscheinung hin.

Die Armee soll sich nicht mir Politik befassen; dieser Satz liegt der offiziellen Theorie des heutigen stehenden Heeres in allen Ländern zugrunde, zusammen mit dem anderen theoretischen Satz: Das Heer dient der Verteidigung des Vaterlandes. Beide Sätze drücken nur in verschiedenen Formen denselben Gedanken aus: Das Militär soll das Land vor dem äußeren Feind schützen, sich aber in innere Klassenkämpfe nicht einmischen. Die Praxis der bürgerlichen Gesellschaft widerspricht und widersprach seit jeher dieser Theorie, wie die ganze Ideologie dieser Gesellschaft ihren wirklichen Kern nur zu verschleiern pflegt. Die Armee hat seit jeher an allen wichtigeren Klassenkämpfen unmittelbaren, häufig ausschlaggebenden Anteil genommen. Namentlich hat die kapitalistische Bourgeoisie ihre geschichtliche Laufbahn als herrschende Klasse mit und dank der Militärgewalt begonnen wie besiegelt. Die beiden entgegengesetzten Pole auf der Stufenleiter dieser Laufbahn waren: die englische Revolution des Jahres 1649, in der das Revolutionsheer des Parlaments die Bourgeoisie in den Sattel gehoben hat, und die deutsche Revolution zweihundert Jahre später, als die Bourgeoisie unter die Fittiche des feudalen Militärs flüchtete – vor dem Gespenst der proletarischen Revolution.

Die Forderung der politischen Neutralität der Armee, der Kampf gegen die „politisierenden Offiziere“, den die heutige Bourgeoisie führt, läuft also auf die Forderung hinaus, die Armee soll nunmehr lediglich gehorsames Werkzeug ihrer Klassenherrschaft sein – nach innen wie nach außen. Der Soldat soll blindlings dem Offizier gehorchen, das Offizierkorps – den „Gesetzen“, d. h. der jeweilig am Ruder befindlichen Schicht der Bourgeoisie.

Die Armee ist aber selbst nur ein Teil des Volksganzen und spiegelt naturgemäß dessen Klassengegensätze wider. Das Offizierkorps der heutigen Armeen rekrutiert sich, namentlich in seinen höchsten Spitzen, aus feudalen Elementen und hat überall die angeborene Tendenz, die konservative Schicht mitsamt ihrer natürlichen Spitze, dem Monarchismus, zu stützen. Daher periodisch die Gefahren des Staatsstreichs, Gefahren für den Parlamentarismus, für die Demokratie. Daher periodisch heftige Krisen, in denen das Werkzeug gegen den Meister rebelliert, das Militär aus dem Diener der Bourgeoisie zu ihrem Herrscher zu werden droht.

Das geschichtliche Pech der Bourgeoisie will es indes, hier wie sonst, daß sie mit eigenen Händen diese ihr drohende Gefahr zu stärken gezwungen ist. Zwei tief in der heutigen Entwicklung wurzelnde Tendenzen arbeiten nämlich unausgesetzt dahin, das politische Übergewicht der Armee im Staate wie zugleich immer mehr das Hineinzerren der Armee in die inneren Klassenkämpfe der Gesellschaft zu steigern. Und das sind: der Imperialismus mit seinem lawinenartigen Wachstum der Heere, mit seinem Kult der brutalen Militärgewalt, mit seiner überragenden selbstherrlichen Stellung des Militarismus gegenüber der Gesetzgebung und auf der anderen Seite die ebenso lawinenartig wachsende Arbeiterbewegung mit der Verschärfung der Klassengegensätze und dem immer häufigeren Gebrauch des Militärs gegen das kämpfende Proletariat. Es ist einer von den tragischen Konflikten der bürgerlichen Gesellschaft, daß dieselbe Bourgeoisie, die auf Schritt und Tritt die „Vaterlandsverteidiger“ zu Zwecken der wirtschaftlichen Ausbeutung und politischen Unterdrückung gegen die aufstrebende Arbeiterklasse gebraucht, von derselben Armee fordert, sie soll sich von jeglicher Einmischung in politische Kämpfe fernhalten und einfach „dem Gesetz“ gehorchen. In diesem Konflikt liegt aber auch der Grund, weshalb für uns die englische Krise wie die Zabernaffäre ein ganz anderes Gesicht haben und haben müssen als für die Bourgeoisie. Armee oder Republik! lautete die Kampflosung vor 15 Jahren in Frankreich. Armee oder Zivilgewalt – war das Dilemma der liberalen Bourgeoisie in der Zabernaffäre. Armee oder Parlament – schallt es heute aus dem liberalen Lager in England. Diese bürgerlich-liberalen Losungen suchen mit dem Problem fertig zu werden, wie das reaktionäre Offizierkorps dem Klasseninteresse der Bourgeoisie unterzuordnen ist.

Die andere Seite der Medaille in allen diesen Konflikten ist aber, daß der eigentlichen Armee, d. h. der großen Masse der Soldaten, der Kadavergehorsam gegenüber diesen selben Offizieren zur Pflicht gemacht wird, wo sie gegen die heiligsten Interessen des kämpfenden Proletariats ins Feld geschickt werden. Je mehr das Gebot, auf Vater und Mutter zu schießen, oder verbrecherischer Völkermord zu Zwecken imperialistischen Profithungers den bewußten, leidenschaftlichen Widerspruch der arbeitenden Massen wecken, desto mehr rückt in den Vordergrund neben dem liberalen Problem: Armee oder Parlament? das unendlich größere proletarische Problem: Armee oder arbeitendes Volk? Je mehr gerade die Gesetzgebung der heutigen bürgerlichen Staaten und ihre Parlamente sich selbst zu willigen Werkzeugen der Verwendung der Militärgewalt gegen das Proletariat und zu imperialistischen Kriegsabenteuern hergeben, um so weniger kann das Dilemma „Armee oder Parlament?“, „Armee oder Gesetz?“ vom Standpunkte der proletarischen Klasseninteressen ausreichend sein. Die Lösung der Krisen in der Art der englischen Militärrevolte oder der Zabernaffäre liegt denn auch in Wirklichkeit nicht in den Parlamenten und nicht in noch so geschickten parlamentarischen Schachzügen liberaler Staatsmänner. Die einzige wirkliche Lösung des Gegensatzes zwischen Offizierskorps und Parlament wie zwischen Armee und Volk ist in dem sozialdemokratischen Programm gegeben: Abschaffung der stehenden Heere mit ihrem privilegierten Offizierskorps, Auflösung der Armee im bewaffneten Volk, Entscheidung des Volkes in seiner Gesamtheit über Krieg und Frieden. Nur dann, wenn das Militär als Milizheer wirklich zu dem wird, was es der liberalen Theorie nach ist – ein Instrument der Verteidigung des Vaterlandes –, wird der Gegensatz zwischen Armee und Volk überwunden werden. Und der Weg dazu führt nicht durch parlamentarische Scharmützel um Ministerkrisen, sondern durch die intensive Aufrüttelung der breiten Volksmassen gegen die Verbrechen des heutigen Militarismus.

Kaum hatte das Parlamentsheer in der großen englischen Revolution des 17. Jahrhunderts die ersten Siege davongetragen, als in seinem Innern schon Klassengegensätze hervortraten und die scheinbare Einheit in heftigen Kämpfen aufging. Gegen die bürgerliche Obrigkeit erhob sich die Masse der Soldaten aus dem Volke, und in ihr sonderten sich schon als rein proletarisches Element die kommunistischen „Diggers“ ab. Diese „Grabreden“ waren damals nur eine Sekte Utopisten. Heute hat der sozialdemokratische Spaten die bürgerliche Herrschaft und die künstliche Einheit ihres Militärsystems ganz anders unterminiert. Und während die Bourgeoisie sich noch ohnmächtig mit dem Ungehorsam der reaktionären Offiziere herumschlägt, naht sich die Stunde, wo Volk wie Armee in ihrer gewaltigen Mehrheit aus Totengräbern dieses Militärsystems wie dieser Klassengesellschaft bestehen wird.

Anmerkungen

1. Anfang 1914 spitzte sich die Auseinandersetzung zwischen Liberalen und Konservativen in England um die Lösung der irischen Frage zu, als Irland durch die Homerule ein gewisses Maß an Selbstverwaltung zugebilligt werden sollte. Um dies zu verhindern, bereiteten die Konservativen die Abtrennung des am stärksten industrialisierten Teiles der Insel, des Gebietes von Ulster, vor und schufen dort bewaffnete Freiwilligenverbände. Die englische Regierung gab Befehl, Militär gegen diese Verbände einzusetzen. Die Offiziere einiger Regimenter verweigerten jedoch den Gehorsam. Sie wurden dabei von Generalen des Oberkommandos unterstützt. Die liberale Regierung wich vor dieser Meuterei zurück und gab die schriftliche Zusicherung, daß das Heer nicht gegen Ulster eingesetzt werde.

2. Im Jahre 1894 war der französische Generalstabsoffizier Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats zu lebenslänglicher Deportation verurteilt worden (von den potentiellen Tätern war er der einzige Jude). Proteste erzwangen die Wiederaufnahme des Verfahrens. Die Dreyfus-Affäre hatte zur Zuspitzung des politischen Kampfes zwischen Linken und Militär, Monarchisten und Kirche geführt und Frankreich an den Rand eines Bürgerkrieges gebracht.

3. Im November 1913 hatte Leutnant von Forstner in Zabern im 1871 von Deutschland annektierten Elsaß Rekruten 10 Mark für jeden erstochenen Elsässer versprochen. Es kam zu Protesten der Bevölkerung, gegen die das Militär brutal vorging und sich dabei auch Kompetenzen von Zivilbehörden anmaßte. Alle Verfahren gegen die verantwortlichen Offiziere wurden niedergeschlagen. Statt dessen erhielt der schuldige Regimentskommandeur vom Kaiser persönlich einen Orden.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012