Rosa Luxemburg


Was machen die Führer?

(7. Januar 1919)


Die Rote Fahne (Berlin), Nr. 7 vom 7. Januar 1919. [1]
Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4 (6. überarbeitete Auflage), Berlin 2000, S. 516–518.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlag Berlin.
Transkription: Oliver Fleig und Sozialistische Klassiker.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der Glutatmosphäre der Revolution reifen Menschen und Dinge mit unheimlicher Schnelligkeit. Erst vor kurzen 3 Wochen, als die Reichskonferenz der A.- u. S.-Räte geschlossen wurde [2], schienen Ebert-Scheidemann im Zenit ihrer Macht zu stehen. Die Vertretung der revolutionären Arbeiter- und Soldatenmasse ganz Deutschlands hatte sich ihrer Führung blindlings ergeben. Die Einberufung der Nationalversammlung, die Aussperrung der „Straße“, die Degradierung des Vollzugsrats und mit ihm der A.- u. S.-Räte zu ohnmächtigen Scheinfiguren – welcher Triumph der Gegenrevolution auf der ganzen Linie! Die Früchte des 9. November schienen vertan und verspielt, die Bourgeoisie atmete wieder beruhigt auf, die Massen standen ratlos, entwaffnet, erbittert und doch zweifelnd da. Ebert-Scheidemann wähnten sich auf dem Gipfel der Macht.

Die blinden Toren! Noch sind keine zwanzig Tage seitdem verflossen, und ihre scheinbare Macht ist über Nacht ins Wanken geraten. Die Massen sind eben die wirkliche Macht, die reale Macht kraft ihrer Interessen, kraft der historischen Notwendigkeit, kraft des ehernen „Muss“ der Geschichte. Mag man ihr vorübergehend Fesseln anlegen, ihre Organisation formell jeder Macht berauben – sie braucht sich nur zu regen, nur ihr Rückgrat steif aufzurichten, schon hebt der Boden unter den Füßen der Gegenrevolution.

Wer die gestrige Massendemonstration in der Siegesallee miterlebt hat, wer diese felsenfeste revolutionäre Überzeugung, diese prächtige Stimmung, diese Tatkraft, die aus den Massen strömte, mit gespürt hat, der musste zu dem Schluss gelangen: Die Proletarier sind durch die Schule der letzten Wochen, der jüngsten Ereignisse politisch enorm gewachsen. Sie sind sich ihrer Macht bewusst geworden, und nichts fehlt ihnen, als von dieser Macht Gebrauch zu machen.

Die Ebert-Scheidemann und ihr Auftraggeber, die Bourgeoisie, die fortwährend über „Putsche“ zetern, erleben in diesen Stunden dieselbe Enttäuschung, wie sie einst der letzte Bourbone erlebt hat, dem auf seinen empörten Ruf über die „Rebellion“ des Pariser Volkes von seinem Minister die Antwort gegeben wurde: Herr, das ist keine Rebellion, das ist eine Revolution!

Ja, eine Revolution ist es, mit all ihrem äußeren wirren Verlauf, mit der abwechselnden Ebbe und Flut, mit momentanen Anläufen zur Machtergreifung und ebenso momentanen Rückläufen der revolutionären Sturzwelle. Und durch all diese scheinbaren Zickzackbewegungen setzt sich die Revolution Schritt um Schritt siegreich durch, schreitet sie unaufhaltsam vorwärts.

Die Masse muss eben im Kampfe selbst zu kämpfen, zu handeln lernen. Und man spürt heute: Die Arbeiterschaft Berlins hat in hohem Maße zu handeln gelernt, sie dürstet nach entschlossenen Taten, nach klaren Situationen, nach durchgreifenden Maßnahmen. Sie ist nicht mehr dieselbe wie am 9. November, sie weiß, was sie will und was sie soll.

Sind aber ihre Führer, die ausführenden Organe ihres Willens, auf der Höhe? Sind die revolutionären Obleute und Vertrauensleute der Großbetriebe, sind die radikalen Elemente der USP inzwischen an Tatkraft, Entschlossenheit gewachsen? Hat ihre Aktionsfähigkeit mit der wachsenden Energie der Massen Schritt gehalten?

Wir befürchten, diese Frage nicht mit einem glatten Ja beantworten zu können. Wir fürchten, die Führer sind noch dieselben, wie sie am 9. November waren, sie haben wenig hinzugelernt.

24 Stunden sind seit dem Anschlag der Ebert-Regierung gegen Eichhorn verflossen. [3] Die Massen sind dem Appell ihrer Führer mit Ungestüm gefolgt, sie haben die Wiedereinsetzung Eichhorns aus eigenen Kräften spontan durchgeführt, sie haben aus eigener Initiative spontan den Vorwärts besetzt, sich der bürgerlichen Redaktionen und des WTB [4] bemächtigt, sie haben sich, soweit es ging, bewaffnet. Sie warten auf weitere Weisungen und Handlungen ihrer Führer.

Was haben diese inzwischen getan, was beschlossen? Welche Maßnahmen haben sie ergriffen, um in der gespannten Situation, in der die Schicksale der Revolution zum mindesten für den nächsten Abschnitt entschieden werden, den Sieg der Revolution zu sichern? Wir sehen und hören nichts! Mag sein, dass die Vertrauensmänner der Arbeiterschaft gründlich und ausgiebig beraten. Jetzt gilt es aber zu handeln.

Die Ebert-Scheidemann verzetteln ihre Zeit sicher nicht mit Beratungen. Sie schlafen ganz gewiss nicht. Sie bereiten im stillen mit der üblichen Energie und Umsicht der Konterrevolutionäre ihre Zettelungen vor, sie schleifen ihr Schwert, um die Revolution zu überrumpeln, zu meucheln.

Andere, pflaumenweiche Elemente sind sicher schon fleißig am Werke, um „Verhandlungen“ anzubahnen, um Kompromisse herbeizuführen, um über den blutigen Abgrund, der sich zwischen der Arbeiter- und Soldatenmasse und der Regierung Eberts aufgetan, eine Brücke zu schlagen, um die Revolution zu einem „Vergleich“ mit ihren Todfeinden zu verleiten.

Da ist keine Zeit zu verlieren. Da müssen sofort durchgreifende Maßnahmen vorgenommen werden. Den Massen, den revolutionstreuen Soldaten müssen klare und rasche Direktiven gegeben, ihrer Energie, ihrer Kampflust müssen die richtigen Ziele gewiesen werden. Die schwankenden Elemente unter den Truppen können nur durch entschlossenes, klares Handeln der revolutionären Körperschaften für die heilige Sache des Volkes gewonnen werden.

Handeln! Handeln! Mutig, entschlossen, konsequent – das ist die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der revolutionären Obleute und der ehrlich sozialistischen Parteiführer. Die Gegenrevolution entwaffnen, die Massen bewaffnen, alle Machtpositionen besetzen. Rasch handeln! Die Revolution verpflichtet. Ihre Stunden zählen in der Weltgeschichte für Monate und ihre Tage für Jahre. Mögen sich die Organe der Revolution ihrer hohen Pflichten bewusst sein!


Fußnoten

1. Dieser Artikel ist nicht gezeichnet. Clara Zetkin nennt in ihrer Arbeit Um Rosa Luxemburgs Stellung zur russischen Revolution (Hamburg 1922) Rosa Luxemburg als Verfasserin.

2. Vom 16. bis 21. Dezember 1918 tagte in Berlin der 1. Allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, auf dem die Vertreter der SPD dominierten. Mit der Zustimmung, am 19. Januar 1919 die Wahlen zu einer Nationalversammlung durchzuführen, die die weitere Regelung übernehmen sollte, und der Wahl eines Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte, dem nur das Recht zugebilligt wurde, wichtige Gesetzesvorlagen der Regierung zu beraten, entschied dieser Kongress in der Grundfrage der Revolution, Rätemacht oder bürgerliche Nationalversammlung, zugunsten des bürgerlichen Staates.

3. Am 4. Januar 1919 war der Berliner Polizeipräsident Emil Eichhorn, der dem linken Flügel der USPD angehörte, von der sozialdemokratischen Regierung als abgesetzt erklärt worden. Damit sollten die revolutionären Arbeiter und Soldaten Berlins zu unvorbereiteten bewaffneten Kämpfen provoziert werden. Die revolutionären Obleute, die Berliner Leitung der USPD und die Zentrale der KPD riefen gemeinsam die Werktätigen und Soldaten zu Aktionen für die Rücknahme der Absetzung Emil Eichhorn, für die Entwaffnung der Konterrevolution und die Bewaffnung der Arbeiter auf. Hunderttausende demonstrierten am 5. Januar In Berlin, formierten sich in der Siegesallee und marschierten zum Polizeipräsidium.

4. Wolffs Telegraphisches Büro.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012