Paul Mattick


[Rezension von Wollin „Ernstes (wissenschaftliches) Lesen als Weg zur Selbstbildung“]

(September 1925)


Aus: Kommunistische Arbeiter-Zeitung Organ der Kommunistischen Arbeiter-Partei Deutschlands, 6. Jg., Nr. 73, September 1925, S 2-3.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



Wollin: Ernstes (wissenschaftliches) Lesen als Weg zur Selbstbildung, Verlag: „Die Einheitsfront“, Berlin O 17.



Wollin gibt diese Broschüre den Arbeitern, hauptsächlich den jungen, damit sie sich bilden und eine klare, festgefügte Weltanschauung erhalten sollen.

„Die Wissenschaft ist heute ein Kampfmittel der Bourgeoisie“, sagt er und folgert: Sie kann auch eine Waffe in Händen des Proletariats werden, wenn dieses nur will. Wenn auch die von der Bourgeoisie monopolisierte „Wissenschaft“ erst nach siegreicher Revolution Gemeingut des Proletariats werden kann, so ist die Aneignung breiter und wahrer Kenntnisse bei systematischem Studium auch vorher möglich und notwendig; das Proletariat kann sich den Luxus einer durcheinandergewürfelten wissenschaftlichen Literatur nicht leisten, es muß planmäßig vorgehen, um zu gewinnen. Und deshalb setzt Wollin seinen Klassengenossen einen Leseplan vor, dessen „ernste wissenschaftliche“ Seite er betont. — Dieser Leseplan wird ein Handbüchlein für sozialdemokratische Bildungsvereine werden, das revolutionäre Proletariat wird nicht über die Einleitung hinauskommen.

Selbstverständlich ist, daß der Arbeiter die Gesellschaftsordnung, die er, um selbst leben zu können, stürzen muß, auf ihren Lebensnerv hin zu untersuchen hat. Klar ist ebenfalls, daß er, von den letzten Zuckungen des Kapitals am meisten betroffen, den Todeskeim dieser Gesellschaftsordnung ermitteln muß, um nachhelfen zu können. Und notwendig ist das Wissen um die kommende Gesellschaft, um die Kraft zur Bezwingung der alten zu finden.

„Den Feind, den wir am tiefsten hassen, das ist der Unverstand der Massen“, war seit jeher der Mahnruf des Proletariats. Und die aus praktischen Erfahrungen heraus entwickelte theoretische Erkenntnis: die Selbstbewußtseinsentwicklung ist die erste Voraussetzung zum Siege des Proletariats, ist Hauptsache im Programm des revolutionären Proletariats. Der Sozialismus ist von der Utopie zur Wissenschaft geworden und seine Interpreten ehrliche Intellektuelle, klassenbewußte Arbeiter (die man nicht mehr scheiden sollte) sind unaufhörlich bemüht, seine Lehren dem Gesamtproletariat zu vermitteln. Und hier wird Theorie und Praxis, Wissenschaft und Leben zur Einheit. Das Blickfeld des Arbeiters wird größer, wenn er durch den Klassenkampf angeregt, nach zehnstündiger Arbeitszeit Knochenmüde, aus der marxistischen Literatur Kräfte schöpft, die sich im Klassenkampf selbst wieder auswirken. Theorie und Praxis stehen in Wechselwirkung, in stetiger gegenseitiger Ergänzung. Daran ist der Wert der Wissenschaft für das Proletariat erkennbar: sie muß praktisch verwendbar sein. —

„Wissen ist Macht“, schlagwortet Wollin. Er vergißt zu sagen, welches Wissen. Das Proletariat hat seine eigene Wissenschaft und eine eigene Form ihrer Anwendung. Die professionale Wissenschaft des Bürgertums kann den Befreiungskampf des Proletariats wohl hindern, niemals jedoch fördern. Die marxistische Analyse klärt die Zusammenhänge der Gesellschaft, die marxistische Dialektik zeigt den Zwang zur Beseitigung dieser Ordnung und ist deshalb die Wissenschaft des Proletariats. Die Geschichtswissenschaft des Bürgertums, die Wollin zu empfehlen wagt, ist wertlos für das Proletariat, das mit der Waffe des historischen Materialismus diese soeben zusammengehauen — als Schwindel entlarvt hat.

Wollin wäre ein guter Oberlehrer für Mittelschulen. Ueber 100 Spezialgebiete Hochschulwissens (Existenzangelegenheit bemittelter Bourgeoissöhne) geteilt und aneinandergereiht in Universum — Erde — Mensch — Gesellschaft setzt er seinen Hörern vor. Er nennt dieses System. Die Arbeiter die sich daran abmühen wollen, müssen ein Alter von mindestens 150 Jahre erreichen.

Mit 18 Jahren fängt der nach Wollins Plan Lesende an, sich mit „Astronomie“ zu beschäftigen, lebt er noch mit 50 Jahren, steckt er mitten in der „Morphologie der Tiere“, wird er sogar 80 Jahre alt, so weiß er sicher etwas über die „vergleichende Embryologie“ und überrascht ihn kurz vor seinem Tode die Revolution, ist er endlich beim letzten Kapital des „öffentlichen Rechtes“ angelangt.

Man kann auch mit „Wissenschaft“ das Proletariat verblöden. Die Wollinsche Methode ist darin sicher die beste. — „Die Wissenschaft ist neutral!“ Wir kennen diesen Ruf, der die Arbeiter in die Volkshochschulen treibt, aus denen sie unbrauchbar für die Arbeiterbewegung wieder herauskommen. Die Wissenschaft „an sich“ hat sie gefesselt, sie machen Politik der Jahrtausende. In der Pflege der „Wissenschaft“ muß die Politik ausgeschaltet werden, um wenigstens auf „diesem Gebiet“ „vorwärts“ zu kommen. Sie werden von der „Wissenschaft“ geblendet und zögern desto länger, daß Uebel an der Wurzel zu packen. Die Revolution ist keine Doktorfrage, sie ist die Frage der proletarischen Tat, ist das aufzeigen der Notwendigkeit der Revolution, niemals das Wissen von der „physikalischen Geographie“, daß Wollin empfiehlt. Wissenschaft, die stahlharte Kämpfer für die proletarische Sache schafft, ist allein zu propagieren, niemals „Wissenschaft“, die in der „Pflanzenbakteriologie“ die Arbeiter zum Mikroskop treibt.

Das Proletariat ist belastet mit der bürgerlichen Ideologie. Das klassenbewußte Proletariat muß sich alle Mühe geben, die bürgerliche Wissenschaft, die eine Ursache der Verstumpfung der Masse ist, da sie keine Ideologie schafft, zu zerstören. — Kein Gerede von der verfügbaren Zeit die dem Arbeiter gestattet, neben dem tendenziösen Studium noch „allgemeine Wissenschaft“ zu treiben. Es gilt nicht nur zu wissen, sondern Wissen anzuwenden. Der Arbeiter muß organisieren, alle Kräfte für seine Befreiung einsetzen, die er doch nur erkämpfen kann mit der Gewalt. Jawohl! Einseitig — marxistisch, einseitig — fanatisch muß sein Wissen sein, da auch seine Schläge immer nur eine Richtung kennen: gegen die Bourgeoisie! — Der Bonze im Betrieb sagt: „ihr müßt die Gewerkschaft stärken.“ Unser nach Wollins Methode lesender und denkender Arbeiter weiß dem nichts entgegen zu setzen als sein „Wissen“ vom Aal, der glatt ist, die Systematik hat ihn jedenfalls noch nicht weiter gebracht. — Jawohl! — System ins Lesen und Denken der Arbeiter. Noch einmal: Das heißt aber Ausschaltung alles Ueberflüssigen. — Die Linie der marxistischen Philosophie läuft über Kant und Hegel zu Marx. Die Werke, der durch die Zeit begrenzten Vorläufer des Marxismus, die Marx vollendet und gesellschaftlich anwendet, indem er die Lehre vom historischen Materialismus formt, brauchen vom Proletariat nicht mehr gelesen zu werden. Die klassische Arbeit Karl Marxs hat die bürgerliche — zur proletarischen Wissenschaft umgeformt, und das Studium dieser genügt dem Proletariat. Marxs Arbeit braucht nicht wiederholt zu werden, wer sich diese Mühe macht, arbeitet wohl nach Wollins Plan, jedoch ohne Systematik. Wozu alle Interpreten der Welt erneut interpretieren?

Es kommt darauf an, wie Marx sagt, die Welt zu verändern. Und deshalb greift das Proletariat nicht zur alten Haubitze, die beim Sturm auf die Bastille verwendet wurde, sondern sucht in der Technik des modernen Straßenkampfes die besten Hiebmöglichkeiten. Das Studium besagter Haubitze mag interessant sein, notwendig nicht, denn man kann mit ihr nicht mehr feuern, und nur darauf kommt es an. Oder der nach Wollins Plan lesende Prolet entdeckt den langentdeckten Tuberkelerreger erneut. Weiß durch die „Wissenschaft“ ebenfalls das Tuberkulose mit Luft und Nahrung bekämpft werden muß. Diese zu erhalten erfordert die Revolution; denn die Medizinillusion bürgerlicher Wissenschaftler ist nur Verlegenheitsprodukt. Also — immer wieder: die proletarische Revolution. Sie muß kommen, deshalb durchdacht werden. Wir müssen uns auf sie spezialisieren, aber davon nichts bei Wollin. Er schreibt ein Bücherverzeichnis aus einer Stadtbibliothek ab, kleistert dies in eine Broschüre mit der Behauptung: im Besitz dieses „Wissens“ wäre es dem Proletarier möglich, die bürgerlichen Intellektuellen über den Haufen zu rennen. Es kommt aber nicht darauf an zu wissen, was der Bourgeois weiß, sondern wie man ihn beseitigt. — Wollin bemerkt eng und flüchtig, daß auch Schriften des autoritären Sozialismus (Marxismus!!!) kritisch lesbar sind und empfiehlt die noch im Entstehen begriffene antiautoritäre (anarchistische) Oekonomie.

Wagt aus Pierre Ramus blödem Kohl „die Neuschöpfung der Gesellschaft“ ein lesbares, für das Studium des Arbeiters notwendiges Werk zu machen. Marxismus und Autorität ist für Wollin eins. Damit beweist er, daß er vom Marxismus wenig weiß, ihn, wohl von seinen Epigonen ausgelegt erhalten, jedoch selbst niemals verdaut hat. Die Empfehlung Pierre Rasmus genügt, um seine ganze Broschüre unmöglich zu machen. O, wie regt er sich auf, daß der Marxist den Begriff Recht (als Beispiel) nur einseitig behandeln kann. Ja, Wollin ist ein Allerweltskerl, er ist nicht „einseitig“ wie Karl Marx. Nein, er durchfliegt den Weltenraum, studiert das Mondgesicht, umkreist den Mars. Fällt auf die Erde zurück, durchwühlt ihre Gesteinsmassen. Schicht auf Schicht wird geologisch untersucht, bis er auf Knochenreste vorsintflutlicher Tiere stößt. Dann fängt er an die Entwicklung durchzugehen bis hinauf zu Pierre Rasmus. — Der Extrakt seines Planes gleich Null. Unverwendbar, ja schädlich für das Proletariat. Die Wissenschaft „an sich“ fesselt nicht, die Wissenschaft „für uns“ ist allein fördernd. Das Denken der Menschen ist begrenzt und richtet sich nach ihrem materiellen Sein. Der Buschmann in Afrika beschäftigt sich zuerst mit den Pflanzen, die er essen muß, er untersucht sie auf ihre Genießbarkeit. Der moderne Fabrikproletarier begreift zuerst, daß die Gesellschaftsordnung ihn hungern läßt und wird zuerst nach Wegen suchen, die ändern können. Nach vergeblichen reformistischen Versuchen innerhalb dieser Gesellschaft eine Aenderung zu erreichen, wird er das Uebel im System der Gesellschaft selbst erkennen.

Nach darauf eingehenderem Gesellschaftsstudium wird er auch Mittel zu ihrer Beseitigung finden.

Diese vermittelt ihm die marxistische Weltanschauung, zu der sich auch Wollin, als Mitglied der Einheitsorganisation bekennen müßte. Sie hat lange schon den „wissenschaftlichen Plunder“, den Wollin empfiehlt, abgetan. Sie ist die Lehre vom Klassenkampf und benötigt zu ihrer restlosen Erfassung das ganze Leben des Proletariats, das heute nur Kampf sein kann. Wollin weiß nichts davon.

So ist sein „Werkchen“ ein Dreck und die Einheitsorganisation hat mit seiner Herausgabe einen Fehler begangen der nur gut zu machen ist, wenn alle noch erreichbaren Exemplare eingestampft werden.


Zuletzt aktualisiert am 16.2.2009