Paul Mattick


[Rezension von V.M. Bader, J. Berger et al. „Krise und Kapitalismus bei Marx“]

(Juni 1976)


Aus: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Berlin, 12 Jg., Juni 1976, Heft 2, S. 273-6.
Transkription/HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.



BADER, Veit-Michael, Johannes BERGER, Heiner GANSMANN, Thomas HAGELSTANGE, Burkhard HOFFMANN, Michael KRÄTKE, Beate KRAIS, Lor KÜRSCHNER und Rüdiger STREHL: Krise und Kapitalismus bei Marx, 2 Bde (= Politische Ökonomie, Geschichte und Kritik). — Köln: Europäische Verlagsanstalt 1975. Insges. 456 S.


 

Dieser, von einer Autorengruppe der Freien Universität Berlin verfaßte Grundlagentext für eine wissenschaftliche Untersuchung ökonomischer Krisen auf Basis der Marxschen Theorie, ist als eine Vorarbeit zu einer größeren, noch zu leistenden Arbeit gedacht, die einerseits den „Marxschen Ansatz“ weiter ausbauen und andererseits die Diskussion konkurrierender theoretischer Ansätze in sich einschließen soll. So handelt es sich hier vornehmlich um eine Zusammentragung der Marxschen Äußerungen über die Krise, wie sie in dessen Gesamtwerk zu finden sind. Da sich die Krise jedoch nicht von dem kapitalistischen System ablösen oder gesondert behandeln läßt, ergab sich die Notwendigkeit, auf die Marxsche Kapitalismus-Kritik im allgemeinen einzugehen, obwohl die Verfasser ihre Aufgabe nicht als „rein philologische“ betrachten und in der „schlüssigen Auslegung der Marxschen Texte nur ein Mittel, nicht das Ziel der Untersuchung sehen“. Die Autoren halten es für notwendig, hervorzuheben, daß die „zyklischen Krisen“, denen ihre Aufmerksamkeit gilt, von der Krise des Kapitalismus zu unterscheiden sind, die durch die „Spaltung der Welt in zwei Systeme“ eingesetzt hat und „seit Lenin als Epoche der allgemeinen Krise des Kapitalismus bezeichnet wird“. Diese „allgemeine Krise“ sei allerdings ebenfalls vorübergehend, da sie letzten Endes durch den Sozialismus beseitigt werden wird. Auch für die Leser dieser Marx-Interpretation ist es notwendig, sich der politischen Einstellung ihrer Verfasser bewußt zu bleiben, da sie auf deren Beurteilung der zyklischen Krise zurückwirkt.

Marx selbst ist - nach Ansicht der Autoren - nicht mehr zu einer präzisen und systematischen Darstellung der Krise gekommen, da sein Arbeitsplan eine solche Behandlung für einen späteren Zeitpunkt, nach der Entwicklung der Konkurrenz, vorgesehen hatte. So wollen die Autoren einen „Beitrag zur Schließung“ dieser im Marxschen System enthaltenen „Lücke leisten“, nämlich, durch die „Einbeziehung des Problemkreises Handel und Kredit, Konkurrenz und Monopol, Staat und Weltmarkt“. Dieses Versprechen wird in diesen Bänden noch nicht eingehalten. So muß auf die Fortsetzung der Arbeit gewartet werden. Aber nicht nur in bezug auf die Krise, sondern auch in methodologischer Hinsicht seien die Arbeiten von Marx oft ergänzungsbedürftig. So versuchen die Verfasser, „mit Hilfe eines Rückgriffs auf die spekulative Logik Hegels zentrale operative Begriffe, die von Marx nicht oder nur beiläufig thematisiert sind, zu klären“, und zwar schon deshalb, weil die Marxsche genetische Methode bis auf den heutigen Tag in der bürgerlich-ökonomischen Marx-Kritik falsch interpretiert wird. Aber auch hier wird nur wiederholt, was bei Marx mit Leichtigkeit zu finden ist, obwohl Hegel, mehr als gewöhnlich, in nähere Beziehung zu Marx gebracht wird.

Die dialektische Form der Darstellung im System der Kritik der Politischen Ökonomie, erfordert, - so die Verfasser - „eine strenge Unterscheidung zwischen begrifflich (oder logischer) Entwicklung und historisch (oder empirischer) Entwicklung, kann aber ohne die letztere überhaupt nicht verstanden werden“, obwohl das Marxsche „Kapital“ ausdrücklich eine Analyse des Kapitalismus sans phrase und nicht die einer bestimmten historischen Erscheinungsform ist. In diesem Zusammenhang gehen die Autoren auf Althussers Ablehnung der Dialektik ein wie auch auf den umstrittenen Begriff des „Kapitals im allgemeinen“ als abstraktes Modell, im Gegensatz zu den „vielen Kapitalen“ der aktuellen Konkurrenz, auf den sich Rosdolskys Interpretation der Marxschen Aufbaupläne des „Kapitals“ bezieht, um zu dem Schluß zu kommen, daß, obwohl die von Marx geplanten Bücher über den Staat, Weltmarkt und Krisen nicht Gegenstand des „Kapitals“ sind, über diese Gegenstände nichtsdestoweniger noch in derselben allgemeinen und notwendigen Weise Untersuchungen möglich sind, die die Methode im „Kapital“ kennzeichnet, und daß diese Untersuchungen notwendige und unabdingbare Voraussetzung zur Untersuchung empirischer Verhältnisse auf der Grundlage der Marxschen Theorie darstellen. Schließlich kommen die Autoren zum eigentlichen Gegenstand ihrer Untersuchung. Da nach Marx die wirklichen Weltmarktkrisen „als die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie gefaßt werden“, und da die Analyse dieser Widersprüche notwendiges Moment der Darstellung des Bildungsprozesses des Kapitals ist, kann, den Autoren zufolge, von einer von dieser Darstellung gesonderten oder selbständigen Krisentheorie nicht gesprochen werden. Die abstrakte Möglichkeit der Krise ist stets gegeben durch die kapitalistische Privatarbeit, die sich zugleich als unmittelbare gesellschaftliche Arbeit darzustellen hat; ein Zustand, der nicht zusammenzufallen braucht. Die Möglichkeit der Krise entspringt der allgemeinen Natur der Warenmetamorphose, dem Auseinanderfallen von Kauf und Verkauf, der Ware-Geld-Beziehung und setzt die Analyse der Wertrelationen, der Doppelnatur der Ware und der verschiedenen Wertformen voraus, was dann anhand der Marxschen Texte dargestellt wird.

Um zu verstehen, wie die Möglichkeit der Krise zur Wirklichkeit wird, muß auf die Struktur der Produktion eingegangen werden. Obwohl die Krise in der Zirkulation in Erscheinung tritt, ergibt sie sich nicht aus dem bloßen Dasein von Ware und Geld, sondern aus der Kapitalproduktion. So widmen die Verfasser einige Abschnitte der Klarstellung des Kapitalbegriffs, der Mehrwertproduktion und der Akkumulation, die im großen und ganzen die betreffenden Marxschen Ausführungen einwandfrei destillieren. Das durch die Akkumulation aufgeworfene Problem der Steigerung der organischen Zusammensetzung des Kapitals und der sich daraus ergebenden Tendenz der fallenden Profitrate wird von den Verfassern gelegentlich kritisch behandelt, nicht nur in bezug auf den Marxschen Text, sondern auch in Abgrenzung von anderen Interpretationen der Marxschen Entwicklungstheorie. Aber da die abstrakte, sich rein auf die Produktion von Mehrwert beziehende Marxsche Akkumulationstheorie nach Meinung der Autoren dem Problem der wirklichen Krise nicht gerecht wird, da diese aus dem Gesamtprozeß der kapitalistischen Reproduktion abzuleiten ist, bleibt das Problem der fallenden Profitrate ein untergeordnetes, das nur empirisch und nicht allgemein zu lösen ist.

Ergibt sich die kapitalistische Krise aus dem Gesamtprozeß der kapitalistischen Reproduktion, da Mehrwert nicht nur produziert, sondern auch auf dem Markt realisiert werden muß, so ändert dies doch nichts daran, daß die Zirkulation die Produktion voraussetzt. Da für Marx das kapitalistische System und seine Entwicklung der Mehrwertproduktion dient, muß die dieser Entwicklung immanente Krisengesetzlichkeit aus den Produktionsverhältnissen erklärt werden. Durch die gedankliche Isolierung der Produktion vom Zirkulationsprozeß gelang Marx der Nachweis, daß die Krise, obwohl sie als Marktphänomen auftritt, ihre direkte Ursache wie ihre Aufhebung in Vorgängen innerhalb der Produktionssphäre findet und damit auf die Produktionsverhältnisse als Wert- und Mehrwertverhältnisse zurückzuführen ist. Der Doppelcharakter der Arbeitskraft als Wert und Gebrauchswert erlaubt die Mehrwertproduktion und damit die Akkumulation des Kapitals; eine Verminderung des Gebrauchswerts im Verhältnis zum Wert der Arbeitskraft muß die Akkumulation beeinträchtigen und damit die kapitalistische Produktion selbst gefährden.

Bei der Betrachtung der Reproduktion des Gesamtkapitals muß, wie bei der Mehrwertproduktion, auf den Gebrauchswert der Waren eingegangen werden, da die Realisierung des Mehrwerts von der Nachfrage nach Gebrauchswerten abhängig ist. Eine mehr oder weniger reibungslose Reproduktion des Kapitals setzt nicht nur die Einbehaltung von Wert, sondern auch von bestimmten Gebrauchswertproportionen voraus. Da diese Proportionalität erst nach der Produktion auf dem Markt herzustellen ist, ergibt sich die Möglichkeit der Disproportionalität, die sich als Krise äußern muß. Der zweite Bd. des „Kapitals“ beschäftigt sich auf der Grundlage des abstrakten Werts mit der Notwendigkeit der proportionalen Reproduktion des Kapitals, um diese selbst verständlich zu machen. Die von Marx zu diesem Zweck verwandten Reproduktionsschemata wurden bald zum Anlaß einer Kriseninterpretation, die sich nicht mehr auf den Produktions-, sondern auf den Zirkulationsprozeß bezog.

Es ist diese Interpretation, die sich die Verfasser zu eigen machen: die Erklärung der Krise aus der Disproportionalität der anarchischen Kapitalproduktion wie sie sich aus dem Privateigentum ergibt. Resultiert die Krise aus der Disproportionalität, so kann sie durch Aufhebung der letzteren ausgeschaltet werden. Ein ökonomisches Ungleichgewicht könnte durch die zunehmende Kontrolle der Produktion mittels der Kapitalkonzentration zum Gleichgewicht werden, so wie es angeblich in den Marxschen Reproduktionsschemata entworfen wurde. Die Idee der Möglichkeit eines krisenfreien Kapitalismus wurde zuerst von Tugan-Baranowsky entwickelt, um dann von Hilferding mit Modifikationen aufgegriffen zu werden. Sie unterliegt dem Krisenbegriff Otto Bauers und ist ebenfalls in den Theorien Bucharins, Lenins und schließlich Rosdolskys zu finden. Bei den letzteren allerdings mit dem Unterschied, daß das Gleichgewicht nur für eine vorübergehende Möglichkeit gehalten wird und damit den Zyklus der Krise erklärt. Es ist diese Krisentheorie, nicht die von Marx, mit der sich die Autoren befassen und die sie Marx zuzuschreiben versuchen.

Nach Marx sind die sich aus der Wertproduktion ergebenden Krisen Überakkumulationskrisen, die einer aufkommenden Diskrepanz zwischen der Profitproduktion und den Profitansprüchen weiterer Akkumulation entspringen. Sie äußern sich real in der Zirkulation als Überproduktions- oder Unterkonsumtionskrisen, da das Aussetzen der Akkumulation die allgemeine Nachfrage vermindert. Rein aus der Disproportionalität der Gebrauchswertproduktion resultierende Krisen beziehen sich nicht direkt auf die Mehrwertproduktion, sondern nur auf das Verhältnis zwischen privater und gesellschaftlicher Produktion. Die Autoren fühlen jedoch, - wie vor ihnen Lenin - daß die Disproportionalität zur Erklärung des Krisenzyklus nicht ausreicht und setzen ihr noch die besondere Disproportionalität zwischen Produktion und Konsumtion hinzu wie sie sich aus der beschränkten Kaufkraft der Arbeiter ergibt. Es stimmt zwar, daß Marx oft widersprüchliche Bemerkungen über die Krise machte und u.a. die Unterkonsumtion als den „letzten Grund“ aller wirklichen Krisen bezeichnete. Aber auf Basis seiner Wert- und Mehrwerttheorie kann das nur besagen, daß der „letzte Grund“ aller Krisen in der Mehrwertproduktion zu suchen ist, die allerdings die Unterkonsumtion der Arbeiter im Verhältnis zur Gesamtproduktion impliziert. Aber auf dieser ungenauen, und nicht sehr glücklich gewählten Ausdrucksweise läßt sich keine Überproduktionskrise aus dem Marxschen Werk herauslesen.

Es kann hier nicht näher auf die Begründungen der Auffassung der Autoren eingegangen werden, aber es soll doch betont werden, daß sie nicht leichthin entwickelt sind, sondern sich durch ein tiefschürfendes Eingehen auf all die Probleme, die sich aus der Marxschen Akkumulations- als Krisentheorie ergeben, auszeichnen. Damit kann die Lektüre dieses Buches auch denen nützlich sein, die diese besondere Interpretation der Marxschen Krisentheorie nicht teilen.


Zuletzt aktualisiert am 19.1.2009