Franz Mehring

 

Stein, Heß, Marx

(Juni 1897)


Die Neue Zeit, 15. Jg. 1896/97, Zweiter Band, S.379-382.
Franz Mehring, Aufsätze zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 1963, S.135-43.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In Nr. 15 der Neuen Zeit besprach ich Sombarts Buch über den Sozialismus und polemisierte dabei gegen Struves von Sombart aufgenommene und zu unhaltbaren Schlußfolgerungen ausgesponnene Annahme, daß Marx von Lorenz Stein „angeregt und beeinflußt“ worden sei. Es kam mir dabei auf Sombart, nicht auf Struve an, und ich würde aufrichtig bedauern, wenn Struve, wie ich aus seiner umfassenden Erwiderung in den Nummern 34 und 35 der Neuen Zeit fast schließen muß, mich im Verdacht haben sollte, als hätte ich seinen fleißigen Arbeiten auf dem Gebiete des vormärzlichen Sozialismus zu nahe treten wollen. Das hat mir durchaus ferngelegen. Struve sagt mit Recht, daß unsere Meinungsverschiedenheit von sehr beschränktem Interesse sei; ich hätte nicht das geringste Bedürfnis gehabt, mich darüber öffentlich zu äußern, wenn Struves Ansicht nicht – woran er selbst natürlich ganz unschuldig ist – von bürgerlicher Seite aufgegriffen und in einer Weise ausgenutzt wäre, die eine kritische Zürückweisung erheischte.

Mißverstanden hat Struve meine Bemerkungen insofern, als er die Angabe der „praktischen Tatsachen“ vermißt, die nach meiner Annahme ausschließen, daß Marx von Stein „angeregt und beeinflußt“ sein könne. Als solche „praktischen Tatsachen“ hatte ich namentlich die Aufsätze hervorgehoben, die Marx in der Rheinischen Zeitung veröffentlicht hatte, ehe Steins Buch erschien. Ich meinte damit, daß Marx in diesen Aufsätzen bereits eine Höhe der Auffassung bekunde, auf welcher er von Stein nichts mehr habe lernen können. Da Struve diesen Punkt überhaupt nicht berührt, so gehe ich auf ihn nicht weiter ein.

Ausführlicher behandelt Struve eine andere „praktische Tatsache“, die ich hervorhob. Ich sagte, daß Marx zur Zeit, wo Steins Buch erschienen sei, bereits gegen Heß gekämpft habe, der doch weit über Stein hinausgegangen sei. Struve meint nun umgekehrt, Stein sei über Heß hinausgegangen. Dieser Ansicht vermag ich mich nicht anzuschließen. Was Struve an Steins Buche mit Recht lobt, das hat ja Heß selbst im Jahre 1843 sofort anerkannt: die „Einfachheit und Klarheit“, womit Stein den Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, den Zusammenhang von Kommunismus und Proletariat nachgewiesen habe. Für diejenigen Deutschen, die, wie Heß, den französischen Sozialismus an der Quelle studiert hatten, bot Steins Buch überhaupt nichts Neues. Um nur zwei Deutsche aus den dreißiger Jahren zu nennen, so hatten Schuster und Rodbertus die historische Bedeutung des modernen Proletariats viel klarer und schärfer erfaßt als Stein. Ihr Pech war gerade, daß sie zu viel davon erkannt hatten, daß die deutschen Buchhändler und Zeitungsredaktionen sich vor ihren grundstürzenden Ansichten entsetzten; Rodbertus mußte seinen bekannten Erstling [1] wieder in seinem Pulte verschließen, und Schuster kam nur in der verbotenen Flüchtlingspresse zu Worte. Dagegen wußte Stein die gefährliche Ware so geschickt, aber freilich auch so verdünnt zu importieren, daß die kapitalistischen und polizistischen Wächter des deutschen Büchermarkts ihn passieren ließen.

Das Verhä1tnis zwischen Stein, Heß und Marx ist nach meiner Auffassung dieses. Stein war der gewandte Kompilator oder, falls Struve an dem Ausdruck Anstoß nehmen sollte, der fleißige Registrator einer bedeutsamen Literatur, aber weiter war er auch nichts. Sobald er selbständig sprechen wollte, jammerte er entweder über „subversive Tendenzen“ oder feierte das „soziale Königtum“ oder machte reaktionäre Vorschläge, denen gegenüber das Sozialistengesetz noch in einer Art freiheitlicher Morgenröte strahlt. Indem ich diese Zeilen schreibe, lese ich eine Nummer des Hamburger Echo, worin Stein dem Herrn v. d. Recke als „Musterreaktionär“ empfohlen wird. Von den Proben, die das Hamburger Parteiblatt aus Steins Werken fischt, will ich nur ein paar Sätze wiedergeben. Stein schreibt also: „Ganz von Übel sind die politischen Vereine, insofern sie es sich zur Aufgabe machen, Änderungen der bestehenden Verfassung herbeizuführen ... Dem Staate muß das Recht zustehen, darüber zu entscheiden, ob er den Verein als mitarbeitendes Organ für seine Zwecke gebrauchen kann oder nicht. Jeder Verein bedarf infolgedessen der Genehmigung der Regierung. Es ist selbstverständlich, daß diese Genehmigung jederzeit zurückgenommen werden kann und daß sie jederzeit zurückgenommen werden muß, sobald sich, etwa infolge eines Ministerwechsels, die Ansichten der Regierung über diese oder jene Verwaltungsfrage geändert haben.“ Ein Mann, der so über die primitivsten Forderungen des modernen Proletariats denken und schreiben konnte, mag unter Umständen die Ansichten anderer Leute über die historische Bedeutung dieses Proletariats ganz geschickt kompiliert, aber „bahnbrechende“ Gedanken kann er darüber unmöglich jemals gehabt haben.

Im Gegensatze zu Stein waren Heß und Marx philosophische oder, wie Lessing sagt, selbstdenkende Köpfe, welche einerseits den revolutionären Geist des französischen Sozialismus und andererseits die Unfertigkeit seiner Formen erkannten. Beide wollten diese Formen zerbrechen, um jenen Geist sich frei entfalten zu lassen. Heß versuchte es auf ideologisch-philosophischem Wege und geriet in die Brüche, Marx versuchte es auf ökonomisch-materialistischem Wege und gelangte ans Ziel. So groß der Unterschied zwischen ihnen war, so war er sozusagen doch nur ein flacher und schmaler Graben, verglichen mit der Kluft, die beide von Stein trennte. Es ist merkwürdig oder vielmehr nicht merkwürdig, wie völlig übereinstimmend sie trotz ihrer eigenen Meinungsverschiedenheiten über Steins Buch urteilten, und zwar Heß ein paar Jahre vor Marx: beide lobten an dem Buche, daß es den Zusammenhang der sozialistischen Literatur mit der wirklichen Entwicklung der französischen Gesellschaft darzustellen versuche, aber sonst sagten beide, es sei eine „völlig ideenlose Kompilation“ (Heß) und „im höchsten Grade konfus“ (Marx). Noch bezeichnender ist, daß Heß trotz aller Ideologie schon im Jahre 1847, wie seine Aufsätze in der Deutschen-Brüsseler-Zeitung zeigen, den Standpunkt von Marx sehr gut begriff, während Stein ihn all sein Lebtag nicht begriffen hat, obgleich er erst im Jahre 1890 starb.

Struve führt nun noch als „praktische Tatsache“ gegen Heß an, daß Heß und der Maler Köttgen im Jahre 1845 gegen das Verbot ihrer kommunistischen Vorträge mit der Redewendung protestiert hätten, sie wollten nicht die Revolution herbeiführen, wie in dem Verbot gesagt worden war, sondern gerade der Revolution vorbeugen, die unvermeidlich sein würde, wenn der täglich wachsenden Armut und Lasterhaftigkeit nicht durch kräftige Mittel gesteuert würde. Ich vermag darin nicht mehr zu erblicken als den bekannten Protest gegen die Revolution im „Heugabelsinne“, den Lassalle ein dutzendmal und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete noch viel häufiger erhoben haben. Ich gebe zu, daß Heß und Köttgen ihren Abscheu vor der ihnen imputierten Putschmacherei etwas geschickter hätten ausdrücken können, aber wenn Struve hinzufügt, Arnold Ruge habe „mit Recht diese von Kommunisten ausgehende Absage von der Revolution als politische Taktlosigkeit verhöhnt“, so mag er mir nicht verübeln, wenn mich seine Beweisführung ein wenig an das Gleichnis vom Splitter und Balken erinnert. Ich weiß nur, daß, als Lassalle im Jahre 1863 seine nicht im polizeilichen, sondern im historischen Sinne revolutionäre Agitation begann, sowohl Ließ wie Köttgen mannhaft für sie eintraten, während Ruge über den „vielfach angefaulten Menschen“ Lassalle räsonierte und bald darauf in Bismarcks Lager überlief.

Doch ich will nicht näher auf die Einzelheiten von Struves Aufsätzen eingehen, da mir nicht daran liegt, eine Auseinandersetzung fortzuspinnen, die für viele Leser der Neuen Zeit kein besonderes Interesse haben dürfte. Zu den Zitaten, durch die Struve seine Auffassung unterstützt, bemerke ich nur noch, daß ich das relative Recht dieser Beweisführung vollkommen anerkenne, sie aber nicht für erschöpfend halte. Zu ihrer Ergänzung bedarf sie des fortlaufenden Hinblicks auf die gesamte geistige, ökonomische, politische Entwicklung der Zeit. Wie ich das meine, habe ich in meiner eben erscheinenden Geschichte der deutschen Sozialdemokratie praktisch zu zeigen versucht und will mich hier nicht weiter darüber verbreiten. An einem vollkommen analogen Beispiel aus der neueren Parteigeschichte möchte ich jedoch noch zeigen, daß die bloße Nebeneinanderstellung von Zitaten aus Stein und Heß nicht genügt, die historische Stellung dieser beiden Männer zu bestimmen. Im Jahre 1878 gab Höchberg [2] die Zukunft heraus, das erste wissenschaftliche Organ der deutschen Sozialdemokratie, und in demselben Jahre veröffentlichte Scheel, der gegenwärtige Leiter des kaiserlich Statistischen Amtes; eine Schrift über die soziale Bewegung in Deutschland. Wollte ich hier nun etwa den von Höchberg verfaßten Einführungsartikel der Zukunft und den Abschnitt von Scheels Schrift über den Marxismus nebeneinander abdrucken, so würde jeder Leser gewissermaßen schwarz auf weiß den Beweis besitzen, daß Höchberg ein ideologischer Spintisierer, Scheel aber ein sehr realistischer Denker sei, welcher der Sozialdemokratie auf halbem Wege entgegenkomme. Wie unrichtig dies Urteil über den einen wie den anderen sein würde, braucht nicht erst dargelegt zu werden.

Wie Scheels Schrift in den siebziger, wie Sombarts Schrift in den neunziger Jahren, so war Steins Schrift in den vierziger Jahren ein Versuch, den bürgerlichen Klassen das Verständnis der sozialistischen Zeiterscheinungen zu vermitteln, in derjenigen Form und in demjenigen Maße, die das sogenannte „gebildete Publikum“ gerade noch verträgt, also vor allem mit Abstumpfung oder Ausscheidung aller revolutionären Spitzen. Daß solche Schriften dennoch ihre Verdienste haben können, bestreite ich durchaus nicht und habe es auch nie bestritten; wenn Struve diese Verdienste höher einschätzen sollte als ich, so gebe ich bereitwillig die Möglichkeit zu, daß er Recht und ich Unrecht haben mag. Worauf es mir ankam, war das eine, die Grenze zwischen dieser bügerlichen und der sozialistischen Literatur scharf zu ziehen, weil sonst große Mißverständnisse eintreten können. Innerhalb ihrer Grenze lasse ich der bürgerlichen Literatur & la Stein gern ihr Recht; ich behaupte nur, daß sie in der Geschichte der sozialistischen Theorie überhaupt keine Rolle spielt, daß „die Anregung und der Einfluß“, welche sie ausüben kann, sich je nachdem ziemlich weit in die bürgerlichen Kreise, aber niemals in die Regionen der selbständigen wissenschaftlichen Forschung zu erstrecken vermag. Wenn mich die Klarstellung dieses Gesichtspunkts in Nr.15 der Neuen Zeit zu der kleinen Auseinandersetzung mit Struve veranlaßte, so will ich zum Schlusse wiederholen, daß ich dabei nicht entfernt beabsichtigte, ihm seine mühevollen Arbeiten auf einem, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, schwierigen Gebiete zu verleiden.

 

Anmerkungen

1. Johann Karl Rodbertus’ erste Schrift erschien 1842 unter dem Titel: Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände.

2. Höchberg stand dem Marxismus durchaus fern und propagierte in seiner Zeitschrift vorwiegend reformistische, kleinbürgerliche Anschauungen. Höchberg war einer der Verfasser des berüchtigten Artikels Rückblicke auf die sozialistische Bewegung in Deutschland, der nach dem Erlaß des Sozialistengesetzes veröffentlicht wurde. Marx und Engels kritisierten diesen Aufsatz in dem berühmten Zirkularbrief außerordentlich scharf (siehe Marx und Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.II, S.450-456.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.10.2003