Franz Mehring

 

Kant, Dietzgen, Mach und
der historische Materialismus

(1909)


Quelle: Die neue Zeit, 28. Jahrg., Bd. I, 1909/10, H. 21/22, S. 173–183.
Transkription: Daniel Gaido.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Bei einem Blick auf die Entwicklungsgeschichte des historischen Materialismus wird man sich einer gewissen peinlichen Empfindung nicht entschlagen können. In den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts arbeiteten seine Anhänger praktisch, indem sie seine Richtigkeit durch historische Arbeiten zu erhärten bemüht waren, während sich seine Gegner in scholastischen Tüfteleien über ihn gefielen. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts aber hat sich das Verhältnis gewissermaßen umgekehrt. Die Gegner wenden – natürlich unter obligatem Räsonieren auf Marx – dessen wissenschaftliche Forschungsmethode mit größerem oder geringerem, aber im allgemeinen ganz bemerkenswertem Erfolg an, während seine Anhänger ein mitunter doch recht bedenkliches Gefallen an philosophischen Haarspaltereien über den historischen Materialismus finden.

Dabei haben wir gar nicht einmal den Revisionismus im Auge, dessen Bedenken und Zweifel gerade in diesem Punkte ziemlich unschädlicher Natur sind. Was zum Beispiel Bernstein in seinen Voraussetzungen gegen den historischen Materialismus einwendet, ist ohne jede Bedeutung, und es lohnt nicht mehr, darüber ein Wort zu verlieren. Es sind vielmehr jüngere Kräfte des Marxismus, die lieber die Sense auf den Amboß legen, um Scharten in sie zu hämmern, statt mit ihr die wogende Ernte zu schneiden. Solche Scharten sind der „Dietzgenismus“ und der „Machismus“, wie sie namentlich unter den russischen Genossen grassieren, und in einem anderen Nachbarreich, dessen Arbeiterklasse den beneidenswerten Vorzug besitzt, über den qualitativ und quantitativ beträchtlichsten Nachwuchs an Marxisten zu gebieten, kommt zu Dietzgen und Mach noch der selige Kant, um angeblich notwendige „Ergänzungen“ zum historischen Materialismus zu liefern.

Würde es sich dabei nur um gelehrte Spielereien handeln, so wäre es immer noch schade um die Kraft und Zeit, die damit verbraucht wird, aber es handelt sich auch um einen großen praktischen Nachteil in dem schon angedeuteten Sinne, daß wir gerade mit unserem kostbarsten Erbe in das Hintertreffen der Gegner geraten, und so ist es wohl nicht überflüssig, einmal zu untersuchen, ob der historische Materialismus, so wie ihn Marx und Engels ausgebildet haben, überhaupt der „Ergänzung“ bedarf und ob Kant, Dietzgen und Mach berufen sind, ihn zu „ergänzen“.
 

I.

Zunächst einige Worte über die Versuche, den historischen Materialismus möglichst weit vom naturwissenschaftlichen Materialismus abzurücken oder gar einen Gegensatz zwischen beiden zu konstruieren. Dem widerspricht schon die Entstehung des historischen Materialismus; er war, um den beliebten Ausdruck zu gebrauchen, eine „Ergänzung“ des naturwissenschaftlichen Materialismus, so wie ihn Feuerbach nach seinem Bruch mit Hegel vertrat.

Feuerbach brach überhaupt mit aller Philosophie; „meine Philosophie ist keine Philosophie“, pflegte er zu sagen. Die Natur existiert unabhängig von aller Philosophie, sie ist die Grundlage, auf der die Menschen, selbst Naturprodukte, erwachsen sind; außer der Natur und den Menschen existiert nichts. Soweit waren Marx und Engels ganz einverstanden; es fiel ihnen nicht ein, zu sagen: der Mensch lebt nicht in der Natur, sondern in der Gesellschaft. Aber wohl sagten sie: der Mensch lebt nicht nur in der Natur, sondern auch in der Gesellschaft; der Mensch ist nicht nur Natur-, sondern auch Gesellschaftsprodukt, und so begründeten sie den historischen Materialismus, um den Menschen als Gesellschaftsprodukt zu verstehen; sie begründeten ihn als Schlüssel für die Geschichte der menschlichen Gesellschaft.

Der historische Materialismus war ein entscheidender Fortschritt über allen bisherigen Materialismus hinaus, woraus sich ergab, daß Marx und Engels eine kritische Stellung zu allen früheren Phasen des Materialismus nahmen. Aber trotzdem oder eben deshalb vollzogen sie auch keinen Bruch mit ihm. Selbst an derjenigen Periode des naturwissenschaftlichen Materialismus, die sie am schärfsten kritisierten, der Periode, die durch die Namen Büchner, Moleschott und Vogt gekennzeichnet wird, tadelten sie die Auswüchse des Materialismus, aber keineswegs diesen selbst. Engels schalt auf die Büchner und Genossen nur, weil sie den Materialismus verflachten und vulgarisierten, und Marx sagte: „Die Mängel des abstrakt naturwissenschaftlichen Materialismus, der den geschichtlichen Prozeß ausschließt, ersieht man schon aus den abstrakten und ideologischen Vorstellungen seiner Wortführer, sobald sie sich über ihre Spezialität hinauswagen.“ Es liegt auf der Hand, daß Marx damit nicht den naturwissenschaftlichen Materialismus, sondern nur eine bestimmte historische Form dieses Materialismus ablehnte. Als „Spezialität“ erkannte er sogar den Materialismus der Moleschott und Genossen an; er fand nur, daß sie über diese Spezialität hinaus in abstrakte und ideologische Vorstellungen verfielen, was denn freilich die denkbar mildeste Kritik dieser materialistischen Richtung sein mochte.

Sie war eine borussifizierte Nachgeburt des französischen Materialismus, der im 18. Jahrhundert einen revolutionären Ansturm gegen das absolutistisch-feudal-klerikale Regiment unternommen hatte und von Marx wie von Engels stets mit größter Sympathie betrachtet worden ist, so sehr sie die Schranken erkannten, die ihm nach dem damaligen Stande der Naturwissenschaften historisch noch gesetzt waren. Diese Schranken waren meist schon gefallen, als die Büchner, Moleschott und Vogt auf den Plan traten, aber diese Leute waren deshalb nicht kühner, sondern ungleich zaghafter als ihre französischen Vorläufer. In ihren Schriften spiegelte sich nicht die Morgendämmerung einer großen Revolution, sondern der fade Katzenjammer einer kleinlichen Reaktion. Wenn sie dem lieben Herrgott auch noch Gesichter zu schneiden wagten, so knicksten sie um so untertäniger vor den höchst kuriosen Stellvertretern Gottes, die sie auf der Erde entdeckten. Büchner schwärmte für den alten Fritz, Häckel für Bismarck, und Vogt brachte es sogar fertig, in dem falschen Bonaparte einen „Schicksalsmenschen“ zu bewundern.

Dieses blinde Herumtappen auf dem Gebiet des „geschichtlichen Prozesses“ ödete nicht bloß Marx und Engels, sondern auch Männer wie Feuerbach und F.A. Lange an. Feuerbach wollte dem Materialismus Moleschotts zwar rückwärts, aber nicht vorwärts zustimmen, und Lange wollte ihn nur als eine brauchbare Maxime für die Naturforschung anerkennen, verwarf ihn sonst aber als eine flache Philosophie. Beide fanden jedoch nicht den Weg, den Marx und Engels schon ziemlich zehn Jahre früher gefunden hatten, indem sie zwar auch mit aller Philosophie brachen, aber was die Philosophie historisch gezeitigt hatte, den Gedanken der historischen Entwicklung, in den Materialismus übertrugen. Und zwar zunächst nicht in die Natur, sondern in die Geschichte, was sich subjektiv daraus erklärte, daß sie keine Naturforscher, sondern Historiker waren, und objektiv daraus, daß der Materialismus hier neu zu unterbauen war, wenn er nicht zu einer noch traurigeren Ruine werden sollte als der Idealismus.

Es ergab sich aber sofort, daß die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft anderen Gesetzen folgt als die Entwicklung der Natur. Gerade dadurch war ja der Materialismus in unaufhaltsamen Verfall geraten, daß er eine mehr oder minder passable Kenntnis der Naturgesetze für ausreichend hielt, um nunmehr über alle möglichen gesellschaftswissenschaftlichen Probleme ins Blaue hinein zu orakeln, noch dazu mit dem Anspruch auf Unfehlbarkeit. Marx und Engels suchten und fanden das Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft im historischen Materialismus, der hier nicht näher auseinandergesetzt zu werden braucht. Er war zunächst eine wissenschaftliche Hypothese, die zwar nicht der „Ergänzung“, aber wohl der praktischen Erprobung am geschichtlichen Stoffe bedurfte, eine Arbeit, die Marx und Engels begonnen haben und die fortzuführen die erste und wichtigste Aufgabe derer ist, die in ihrem Geiste arbeiten wollen. Es ist der einzige Weg, die Richtigkeit oder auch die Unrichtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung zu erkennen; das weitläufige Herumtüfteln an ihr, und wenn es von den gelehrtesten Ismen überfließt, kann weder beweisen, daß sie richtig, noch auch, daß sie unrichtig ist.

Direkt in die alte Konfusion zurück führt aber der Versuch, sie zu „ergänzen“ durch Gesichtspunkte, die ihr vollkommen fremd sind, namentlich auch durch solche Gesichtspunkte, die dem Gebiet der Naturwissenschaften entnommen sind. Gewiß steht die Geschichte der Natur und die Geschichte der menschlichen Gesellschaft in unlöslichem Zusammenhang; gewiß sind die Naturwissenschaften ebenso bedeutend und wichtig wie die Gesellschaftswissenschaften, aber die Methode, nach der die einen wie die anderen gehandhabt werden, ist durchaus verschieden, eben weil die Entwicklungsgesetze der Geschichte und der Natur durchaus verschieden sind.

Hier müssen die Grenzscheiden klar und rein gehalten werden. Wenn der historische Materialismus dem naturwissenschaftlichen Materialismus sein gutes Recht läßt, so kann und muß er eben auch auf seinem guten Rechte bestehen, das Entwicklungsgesetz der menschlichen Gesellschaft erschöpfend entwickelt zu haben, es sei denn, daß er durch die praktische Gegenprobe widerlegt wird.

Sehen wir nun aber zu, wie er durch Kant, Dietzgen und Mach „ergänzt“ werden soll.
 

II.

Über Kant können wir uns verhältnismäßig kurz fassen, zumal da diese Mode schon ziemlich im Verebben begriffen ist. Doch müssen wir ihn schon deshalb erwähnen, weil Engels ihm in der Tat ein Unrecht zugefügt hat, indem er Kants Erkenntnistheorie als eine „philosophische Schrulle“ abzufertigen suchte. Kant sagte zwar, daß wir die Dinge nicht sehen, wie sie sind, sondern wie sie unseren Sinnen erscheinen, aber deshalb sah er in der Erscheinungswelt keinen bloßen Schein, sondern eine Welt praktischer Erfahrung, so daß er selbst den Satz unterschrieben haben würde, womit Engels ihn zu widerlegen sucht, nämlich daß sich der Pudding im Essen erprobt.

Indessen bleibt Kants Erkenntnistheorie, durch die der historische Materialismus „ergänzt“ werden soll, doch eine philosophische Fehlgeburt, auch wenn Engels ihre „Klugtuerei“ nicht ganz am rechten Orte gesucht hat. Kant wollte mit seiner Erkenntnistheorie nicht bloß die dogmatische Philosophie erschlagen, die das Dasein Gottes durch Beweise zu erhärten beanspruchte – was für seine Zeit sehr verdienstlich war, aber heute sehr gleichgültig geworden ist –, sondern er wollte auch dem Atheism, dem Materialism, dem freigeisterischen Unglauben den Paß verrennen, wie er selbst der „weisen Vorsorge der Regierungen“ bemerklich machte; er wollte das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, was schon damals nicht schön war und heute noch viel weniger schön ist.

Kants „Ding an sich“, das jenseits der Erscheinung thronen soll, unerkennbar für die menschlichen Sinne und den menschlichen Verstand, liegt niemandem schwerer im Magen als den Anhängern Kants, schwer wie ein Stein, wenn auch nicht wie ein Stein der Weisen. Sie vergleichen es mit einem alten Gespenst, mit der weißen Frau im Hohenzollernhaus, und sie suchen nach dem Spruche, der es für immer bannt. Die gescheitesten Neukantianer wollen es nur als den Inbegriff aller Erkenntnis, als die unendliche Aufgabe der Erkenntnis gefaßt wissen, nicht als das x eines fragwürdigen Rätsels, sondern als das x einer unendlichen Gleichung, die die immer fortschreitende Forschung zu lösen habe. Ob Kant das „Ding an sich“ so gemeint hat, scheint uns nicht zweifelsfrei zu sein, doch selbst in dieser räsonabelsten Fassung hat Kants Erkenntnistheorie dem historischen Materialismus nichts zu sagen, was er nicht schon selbst weiß, worüber man nur die Eingangskapitel des „Anti-Dühring“ von Engels nachsehen mag.

Jedoch soll nicht nur Kants Erkenntnistheorie, sondern auch, ja vorzugsweise Kants Ethik zur „Ergänzung“ des historischen Materialismus notwendig sein. Darüber können wir uns ebenfalls kurz fassen. Kants Ethik ist ganz und gar auf die kleinbürgerlichen Zustände zugeschnitten, worin er lebte; auf die sittlichen Konflikte, die der kapitalistische Großbetrieb jeden neuen Tag in hundertfacher Mannigfaltigkeit erzeugt, paßt sie wie die Faust aufs Auge, Kants kategorischer Imperativ ist als Auffrischung des mosaischen Dekalogs, seine Lehre vom radikal Bösen der Menschennatur als Aufwärmung der theologischen Erbsünde längst von Schopenhauer nachgewiesen worden, dem genialsten Anhänger, den Kant je gefunden hat.

Bleibt noch der Satz: Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel gebrauchst. Dieser Satz war für Kant weiter nichts als die moralische Verkleidung der nichts weniger als moralischen Tatsache, daß der Kapitalismus für seine ausbeuterischen Zwecke freie Arbeiter braucht. Die Auflösung der feudalen Produktionsweise ausschließlich darzustellen als Emanzipation des Arbeiters, statt zugleich als Verwandlung der feudalen in die kapitalistische Ausbeutungsweise, war eine allgemeine Illusion der bürgerlichen Aufklärung, eine Illusion, die, gleichviel ob künstlich fabriziert oder naiv, sich dadurch als Illusion bewährte, daß sie die brutalsten Tatsachen der Wirklichkeit trefflich zu verklären verstand. Wie die französische Revolution trotz aller Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die arbeitende Klasse vom Wahlrecht ausschloß, so wollte auch Kant die arbeitenden Klassen nur als Staatsgenossen zulassen, nicht aber als Staatsbürger mit gleichem Rechte. In diesem Sinne, als Verklärung der kapitalistischen Ausbeutungsmethode, ist Kants moralischer Hauptsatz hundert Jahre lang verstanden worden und hat eine große Rolle in der Literatur des deutschen Liberalismus entdeckt, bis ihn dann ein deutscher Professor einer angeblichen Vergessenheit entriß und als ethische Grundsäule des Sozialismus proklamierte.

Dafür ist diesem trefflichen Entdecker denn auch nicht der Ruhm versagt geblieben, daß er Kants „transzendentalen Idealismus am tiefsten ausgeschöpft“ habe: vermutlich aus dem Brunnen, worin das Kind ertrunken ist.
 

III.

Gehen wir nun zu Dietzgen über, so hat er das Zurückgehen auf Kant stets als „reaktionäres Getute“ abgefertigt, womit die „Ergänzung“ des historischen Materialismus durch Kant ebenso bündig wie kurz erledigt worden ist.

Wie bei Kant, so möchten wir aber auch bei Dietzgen zunächst ein Unrecht gut machen, das ihm von marxistischer Seite zugefügt worden ist, wenn auch nicht von Engels, so doch von einem ungleich Geringeren. In meiner Parteigeschichte habe ich gelegentlich erwähnt, daß Dietzgen die materialistische Geschichtsauffassung selbständig entwickelt habe. Das hat Genosse Eugen Dietzgen bestritten. Er meint, daß sein Vater erst 1852 mit dem Kommunistischen Manifest bekannt geworden sei, zur Zeit, wo er seine Erkenntnistheorie und Weltanschauung schon im Rohen gezimmert habe. Um so begeisterter sei er gewesen, als er gefunden habe, daß die Aufdeckung der sozialen Zusammenhänge durch Marx mit seiner (Dietzgens) Denklehre harmoniere.

Diese Berichtigung ist vollkommen zutreffend; ich habe in jenem Nebensatze meiner Parteigeschichte „materialistische Geschichtsauffassung“ geschrieben, während ich „materialistische Dialektik“ in Gedanken hatte. Es ist auch zweifellos richtig, wenn Eugen Dietzgen meint, daß Josef Dietzgen seine Erkenntnistheorie und Weltanschauung schon im Rohen gezimmert habe, ehe er von Marx und Engels etwas wußte. In der Tat trägt der „Naturmonismus“ Dietzgens durchaus die Spuren Feuerbachs, den Dietzgen auch stets als den ersten Erwecker seines Geistes anerkannt hat. Seine „naturmonistische Anschauung“ ist im Wesen der Sache dieselbe, die Feuerbach in Prosa und auch in Versen entwickelt hat:

Du kannst fürwahr nur einmal sein,
Ergib dich darum willig drein.
Einmal ist alles Wahre nur,
Einmal der Geist, einmal Natur.

Das Leben ist nur darum Leben,
Weil es nicht kann ein zweites geben ...
Das Zweimal ist nur matter Schein,
Ein Wesen ohne Mark und Bein.

Das Einmal ist der rechte Held,
Der Kern, der Geist, die Kraft der Welt.

Oder um bei der Prosa zu bleiben, so ist alles, was Dietzgen über den Denkprozeß zu sagen hat, eigentlich schon in folgenden Sätzen Feuerbachs enthalten:

Was wir, die wir ein Teil der Natur, aussagen von ihr, sagt im Grunde die Natur von sich selbst aus, und ist also als Ausspruch von ihr selbst wahr, objektiv, wenngleich immer menschlich wahr, menschlich objektiv, weil es ja die menschliche Natur ist, als welche und durch welche die Natur sich ausspricht. Aber eine Wahrheit oder Objektivität ohne die Farbe und ohne den Ton, ohne Geruch oder Geschmack, ohne Lust und Schmerz die Subjektivität wollen, heißt auf das Buddhistische Nichts oder das unsinnige Ding an sich rekurrieren. Ich gehe übrigens bei der Frage von der Realität und Objektivität der Sinne nicht vom Ich gegenüber dem physikalischen oder natürlichen Dinge aus, sondern dem Ich, welches außer sich und sich gegenüber ein Du hat und selbst gegenüber einem anderen Ich ein Du, ein selbst gegenständliches, sinnliches Wesen ist. Und dieses, obwohl sinnliche, empirische Ich ist mir, der Wahrheit des Lebens nach, wonach sich allein die Wahrheit des Denkens richtet, das wahre Ich, das Ich, von dem ich in allen Fragen ausgehen muß, wenn ich nicht in abgeschmackte Sophistik verfallen will. Bezweifle ich die Wahrheit des Sinnes, so muß ich auch die Wahrheit meiner Existenz, meiner selbst bezweifeln. Kein Sinn, kein Ich, denn es gibt kein Ich, das nicht Du, aber Du ist nur für den Sinn. Ich ist die Wahrheit des Denkens, aber Du ist die Wahrheit der Sinnlichkeit. Was aber vom Menschen dem Menschen, das gilt auch von ihm der Natur gegenüber. Er ist nicht bloß das Ich, sondern auch das Du der Natur. Das Sehen ist ein Begattungsprozeß des Auges mit dem Licht, und Hobbes sagt irgendwo und ungefähr: die Erkenntnis ist ein Begattungsprozeß mit dem Universum.

Was Dietzgen über den Denkprozeß als Naturprozeß sagt, ist eine Reihe von Parallelstellen zu diesen Sätzen Feuerbachs, der übrigens, wie sein Hinweis auf Hobbes zeigt, damit auch nichts Neues sagen wollte. Aller Materialismus sieht in dem Denkprozeß einen Naturprozeß, wenn es auch ein großer Unterschied sein mag, ob Karl Marx von ihm spricht oder Karl Vogt, dessen plumpsinnlose Rodomontade, daß der Gedanke sich zum Gehirn verhalte wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren, beiläufig schon von Büchner in ganz treffender Weise zurückgewiesen worden ist.

Was jedoch Dietzgen vor Feuerbach voraus hat, das ist seine materialistische Dialektik. Dietzgen war ein naturwüchsiger Dialektiker, der die Erscheinungen der Natur immer in ihren großen Zusammenhängen aufzufassen verstand, und hierin liegt der größte Reiz seiner Schriften. Aber wenn er seine Dialektik unabhängig von Marx und Engels gefunden hat, so ist damit nicht gesagt, daß er der Dialektik von Marx und Engels überlegen und diese zu „ergänzen“ geeignet war. „Zu einer dialektischen und zugleich materialistischen Auffassung der Natur gehört Bekanntschaft mit der Mathematik und der Naturwissenschaft“, sagt Engels, und wenn er selbst für sich wie für Marx in diesem Punkte nur bescheidene Ansprüche erhob – sie hätten die Naturwissenschaften nur stückweise, sprungweise, sporadisch verfolgen können, meinte er –, so kann man doch aus den Kapiteln des „Anti-Dühring“, worin Engels über diese Fragen handelt, ungleich mehr lernen, als aus allen Schriften Dietzgens. Allerdings hat ein jüngerer Marxist vor einigen Jahren behauptet, daß Engels in der prinzipiellen Auffassung der Physik von Dietzgen überholt worden sei, und hinzugefügt: „Dies kommt wohl daher, daß Engels weit größere Detailkenntnisse in der Physik besaß, für die ihm allgemeine Gesichtspunkte, wie sie Dietzgen aufstellte, nicht genügen konnten.“ Allein dies Urteil erinnert doch ein wenig an die tadelnde Note, die der alte Naturphilosoph Steffens einem Kandidaten gab, weil dieser sich mehr mit den Gegenständen als mit dem Absoluten befaßt habe. Bei aller Verehrung für die Dialektik scheinen uns reelle Kenntnisse ohne Dialektik immer noch preiswürdiger zu sein, als Dialektik ohne reelle Kenntnisse.

Der Mangel solcher Kenntnisse macht sich in besonders charakteristischer Weise geltend bei dem Urteil Dietzgens über Langes Geschichte des Materialismus. Dietzgen erkennt zwar Langes demokratische Verwandtschaft mit der sozialistischen Partei „huldvoll“ an, sowie viele nebensächliche Schönheiten und Vortrefflichkeiten des Werkes, aber den philosophischen Standpunkt Langes nennt er die „erbärmlichste Zappelei in metaphysischer Schlinge, die je gesehen wurde“, und wirft ihm „wahrhaft Klassisches im Konfusen“, „gedankenlose Phrasenmacherei“ und ähnliche, wenig schmeichelhafte Sachen vor. Nun hat es wohl mit der „Zappelei in der metaphysischen Schlinge“ seine Richtigkeit, aber die „Erbärmlichkeit“ dieser Zappelei ging doch nur daraus hervor, daß Lange sehr ausgebreitete Kenntnisse auf dem Gebiete der Naturwissenschaften besaß, die ihm manches Kopfzerbrechen verursachten, von dem Dietzgen frei war, weil er nicht über so ausgebreitete naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügte. Hätte Lange diese Kritik Dietzgens noch erlebt, so würde er dasselbe geantwortet haben, was er in einem anderen Falle gesagt hat: Wer äußerst kurzsichtig ist, glaubt durch Dietzgens Brille klarer zu sehen und sieht auch wirklich klarer, als ohne sie, aber wer mit bloßem Auge weiter sieht, findet durch Dietzgens Brille alles unklar.

Nun hat Dietzgen vor Lange unzweifelhaft voraus, daß er den historischen Materialismus gekannt und verstanden hat. Immerhin aber, wie er gelegentlich die Naturwissenschaft allein für eine Wissenschaft erklärt, so legte er nur auf seinen „Naturmonismus“ entscheidendes Gewicht und bekannte selbst, die materialistische Geschichtsauffassung von Marx fix und fertig überkommen zu haben. In der Tat hat Eugen Dietzgen darin recht, daß man von Josef Dietzgens Verständnis des historischen Materialismus nicht allzuviel Aufhebens machen dürfe. Er hat ihn nicht einmal auf seinem philosophischen Spezialgebiet anzuwenden verstanden.

Freilich sagt er einmal in den Briefen über Logik: „Es ist nicht zu verkennen, daß im Verlauf der Jahrhunderte das Problem von Generation zu Generation heller geworden ist. Die großen Namen Pythagoras, Sokrates, Plato, Aristoteles, Cartesius, Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel bilden Etappen auf diesem Forschungszug. Die Entwicklung ist nicht zu verkennen, doch wird der Zusammenhang zwischen der geistigen und leiblichen, besonders der ökonomischen Entwicklung sehr verkannt. Man wußte die Brücke zwischen Geist und Bein nicht zu finden und hat fort und fort bis in unsere Tage hinein die philosophische Entwicklung als reine Geistesarbeit betrachtet, die sich durch ein oder zwei Dutzend berühmte Köpfe hindurchgeschlängelt habe.“ Aber das bleiben bei Dietzgen leere Worte.

Wenn wir uns nur auf dieselben Briefe über Logik beschränken, so sucht er einmal den ontologischen Beweis für das Dasein Gottes, dessen gänzliche Hinfälligkeit Kant nachgewiesen hat, durch die „berühmten Namen“ Descartes und Spinoza zu stützen. Dieser Beweis besteht bekanntlich in der Schlußfolgerung: Wenn wir uns Gott denken, so denken wir ihn uns als den Inbegriff aller Vollkommenheiten. Dazu gehört aber vor allem das Dasein, denn ein nicht existierendes Wesen ist notwendig unvollkommen. Also muß Gott existieren, da er sonst kein vollkommenes Wesen sein würde. Diesen Beweis hält Dietzgen durch Descartes „so klar wie Sonnenlicht“ geführt, wenn auch nicht für das „Dasein eines überschwenglichen Götzen, aber doch für die Wahrheit des absolut vollkommenen Weltwesens“. Man würde die sonderbare Idee gar nicht verstehen, wenn man nicht bei Feuerbach läse. daß der „Cartesische Beweis für die Existenz Gottes“ dahin zu verstehen sei, daß das denkende Wesen des Menschen das höchste, das wahre göttliche Wesen sei.

Ein andermal erklärt sich Dietzgen in denselben Briefen über Logik rundweg für einen Spinozisten: „Der Jahrtausende alte Streit zwischen Idealisten und Materialisten stellt die Frage, ob der Geist weltlich oder die Welt geistig sei. Unsere Antwort lautet klipp und klar: Beides gehört zusammen, ist in Summa ein Ding und das Ding aller Dinge. Der Geist und die Natur sind zwei Attribute der einen Substanz.“ Ein drittes Mal verkündet Dietzgen den griechischen Philosophen Protagoras als seinen Mann, was ihn nicht hindert, einige Seiten weiter die Sophisten, deren namhaftester eben Protagoras war, ganz nach hergebrachter Manier, trotz Grote und Hegel, als frivole Verächter der Forschung und Wahrheit anzuklagen. Ein viertes Mal sagt Dietzgen, daß die Kreuzzeitungsleute Gerlach, Leo und Stahl, denen er nachrühmt, daß sie ihm neben Feuerbach und Marx „auf die Strümpfe geholfen“ hätten, „in der Wolle gefärbte Hegelianer“ gewesen seien. Dabei war Gerlach ein feudaler Romantiker, dem Hegel, wenn überhaupt ein Begriff, so jedenfalls ein höchst feindseliger Begriff war; Stahl hat freilich eine gewisse Spiegelfechterei mit der Hegelei getrieben, aber nur um die feudalen Ausbeutungsmethoden philosophisch zu verklären, und Leo schwärmte so heiß für die Hegelsche Philosophie, daß er die „Hegelingen“ an den deutschen Universitäten dem Disziplinarrichter und dem Staatsanwalt empfahl.

Marx hat die Briefe über Logik nicht mehr erlebt, aber sie bestätigen seine Ansicht, daß in Dietzgens Philosophie eine „gewisse Konfusion“ herrsche. Daneben tadelte Marx an der ersten Schrift Dietzgens „zu häufige Wiederholungen“, was für Dietzgens spätere Schriften, die überhaupt nur Wiederholungen der ersten Schrift waren, in noch viel höherem Maße zutrifft. Jedoch so unerfreulich diese Wiederholungen an und für sich sind, so zeigen sie doch Dietzgens unaufhörliches Ringen um die wahre Erkenntnis, ein Ringen, das ihm durchaus zur Ehre gereicht, wenn er auch, bei dem beschränkten Maße seiner Kenntnisse in Natur und Geschichte, nur immer wieder dieselben allgemeinen Gesichtspunkte hervorkehren konnte. Und vollends bleibt zu Recht bestehen, was Marx an der Schrift Dietzgens rühmte, daß sie „viel Vorzügliches und – als selbständiges Produkt eines Arbeiters – selbst Bewundernswertes“ enthalte. Wir stehen nicht an, bereitwillig zuzugeben, daß die Kritik, die wir an Dietzgen geübt haben, sehr schief und ungeschickt sein würde, wenn sie beanspruchte, das ganze Wesen des Mannes zu erschöpfen. Wir bekämpfen nicht Dietzgen, sondern den „Dietzgenismus“, der den historischen Materialismus „ergänzen“ will, aber ihn nur verwirren kann. Es ist sinnlos, zu fordern, daß man erst Dietzgen kennen müsse, ehe man Marx verstehen könne, aber umgekehrt wird eher ein Schuh daraus. Wer von Marx zu Dietzgen kommt, wird in diesem immer den Kern- und Prachtmenschen ehren, der unermüdlich um die Wahrheit rang und trotz aller Lücken und Mängel mit einer in ihrer Art genialen, wenn auch nicht Produktions-, so doch Reproduktionskraft zu philosophieren verstand.

Nochmals: nicht mit Dietzgen haben wir es zu tun, sondern mit dem „Dietzgenismus“, der seinerseits nichts mit Dietzgen zu tun hat. Seinen Anspruch zum Beispiel, Radikalismus und Revisionismus in einer höheren Einheit zu versöhnen, würde Dietzgen in seiner ungeschminkten Sprache als „gedankenlose Phrasenmacherei“ zurückgewiesen haben. Der „Dietzgenismus“ hat auch diese Tat noch nicht vollbracht, dagegen freilich – wenn anders der „Vossischen Zeitung“ zu glauben ist – die noch ungleich größere Tat, Kapitalismus und Sozialismus zu versöhnen. Als eine solche Versöhnung feierte das ängstlichste Philisterblatt der deutschen Presse einen Aufsatz der Sozialistischen Monatshefte, worin der Hauptkämpfe des „Dietzgenismus“ den Sieg des Proletariats in eine so aschgraue Zukunft verlegte, daß noch jeder kapitalistische Ausbeuter den ruhigen Schlaf des Gerechten schlafen kann.

Wir kennen einen Mann, der, wenn er heute noch lebte, den „Dietzgenismus“ nach solchen Proben ins Land gewünscht haben würde, wo der Pfeffer wächst. Und dieser Mann hieß Josef Dietzgen.
 

IV.

Wie Dietzgen, so vertritt auch Mach einen erkenntniskritischen Monismus, der allen Dualismus zwischen Physischem und Psychischem beseitigen will. Der Unterschied ist jedoch, daß Mach gar kein Philosoph sein will, sondern daß er ein bedeutender Naturforscher ist, der wie Darwin bescheiden oder auch selbstbewußt genug denkt, sich auf das Gebiet zu beschränken, das er wissenschaftlich beherrscht.

Insofern stimmt Mach vortrefflich mit Marx zusammen, der aller Philosophie den Laufpaß gab und den geistigen Fortschritt der Menschheit nur noch in der praktischen Arbeit auf dem Gebiet der Geschichte und der Natur sah. Aber wie es trotz Darwin Darwinisten, gab, die mit ihrer naturwissenschaftlichen Methode ins Gebiet der Geschichte einbrachen, um eine greuliche Verwirrung anzurichten, so gibt es trotz Mach auch Machisten, die dasselbe Gelüste verspüren und dasselbe Ergebnis erzielen.

Wir wollen hier nur einen dieser sonderbaren Käuze aufs Korn nehmen, Herrn J. Petzold, der über „das Weltproblem vom positivistischen Standpunkt aus“ geschrieben und die erste Seite des Buches mit dem Namen Machs geschmückt hat. Herr Petzold gibt eine kritische Geschichte der Philosophie von Thaies bis auf Kant als „eine sinnvolle Geschichte von Irrtümern“ und nach der historischen Methode, die Engels im Anti-Dühring drastisch geschildert hat: „Es fehlte eben der geniale einzelne Mann, der die Wahrheit erkannte; daß er jetzt aufgetreten, ist nicht ein aus dem Zusammenhang der geschichtlichen Entwicklung mit Notwendigkeit folgendes unvermeidliches Ereignis, sondern ein reiner Glücksfall. Er hätte ebensogut 500 Jahre früher geboren werden können und hätte dann der Menschheit 500 Jahre Irrtum, Kämpfe und Leiden erspart.“ Der Unterschied ist nur, daß Herr J. Petzold sich mehr mit den historischen Unfällen als Glücksfällen zu schaffen macht und statt mit 500 Jahren lieber gleich mit 5 × 500 Jahren rechnet.

So hatte der griechische Philosoph Protagoras, der etwa im Jahre 480 vor unserer Zeitrechnung geboren wurde, schon die Wahrheit beim Schopf gepackt, als der „historische Zufall“ seine „furchtbare Rolle“ spielte und die Menschheit für ein paar Jahrtausende in neues Elend stieß. Von Protagoras sind kaum zwanzig Zeilen erhalten, und von seiner Person wissen wir auch nicht viel, aber umso erschütternder wirkt die Tragödie seines Lebens, wie sie Herr Petzold entrollt:

Den glänzenden Protagoras zu hören, muß ein Genuß gewesen sein, mit dem gediegenen Sokrates zu diskutieren, eine Arbeit. Der geschichtliche Erfolg liebt aber gerade diesen Ernst der Arbeit. Das Brillantfeuerwerk der Protagoreischen Lehren verpuffte faßt wirkungslos, wie in unseren Tagen das Nietzsches. Beide haben fast nur mittelbare Wirkungen gehabt, nur den Gegner zu noch gründlicherem Nachdenken getrieben. Dem tüchtigen Sokrates zuliebe aber schlug die Entwicklung des philosophischen Gedankens einen Umweg ein, der erstnach mehr als zweitausend Jahren zu der Straße zurückführte, die Protagoras ohne Gefährten und Nachfolger ein Stück weit gegangen war. Erst Hume (1711 bis 1776) entdeckte den Hauptfehler des philosophischen Denkens von neuem, den Fehler der Substanzvorstellung. Welche furchtbare Rolle spielt doch der historische Zufall! Eine oder ein paar tüchtige Persönlichkeiten, die den protagoreischen relativistischen Grundgedanken richtig erfaßten und sorgfältig ausbildeten, hätten der europäischen Menschheit die geistige Erniedrigung des scholastischen Mittelalters ersparen können. Entweder hat Protagoras die Tragweite seines Gedankens nicht hinreichend überschaut oder, was uns wahrscheinlicher ist, er hat nicht so viel geistige Disziplin, so viel Zucht und Zusammenhang des Denkens besessen, um ihn folgerichtig bis ins einzelne durch – und damit über kurz oder lang zum Siege zu führen. Da bei der hervorragenden sozialen Stellung, die er inne hatte – Männer wie Perikles und Euripides suchten seinen Umgang –, der Erfolg sicher gewesen wäre, bleibt kaum eine andere Wahl. Wäre sein philosophisches Genie nicht an eine so zerflatternde Persönlichkeit gebunden gewesen, wie anders, wieviel weniger finster und grausam könnte die Geschichte des okzidentalen Denkens und damit auch die Weltgeschichte aussehen.

Es geht so noch eine ganze Strecke fort, immer über denselben Protagoras, der sich auch mit der „hohen Ethik Jesu“ hätte verschmelzen und so der Menschheit die „Tyrannei des kirchlichen Dogmas“ ersparen können. Indessen wird die vorstehende Probe genügen, um die historische Probe des „Machismus“ zu kennzeichnen, der den historischen Materialismus „ergänzen“ soll.

Man sagt nun wohl: Abgesehen von dem historischen Gallimathias, ist das Buch Petzoldts doch schön geschrieben und steht naturwissenschaftlich auf der Höhe. Aber was soll damit bewiesen werden? Dasselbe gilt ja auch von den Schriften der Büchner und Moleschott und Haeckel. Sie waren, oder sind noch, auch mehr oder minder hervorragende Naturforscher, und namentlich das berufenste Werk dieses verflachten und vulgarisierten Materialismus, Büchners Kraft und Stoff, ist mit einem sehr bemerkenswerten literarischen Talent geschrieben. Mit solchen Büchern wie der Schrift Petzoldts marschiert man sechzig Jahre zurück, und ihr „Machismus“ verdient mindestens alle die liebenswürdigen Komplimente, mit denen die Büchner und Genossen ihrer Zeit so reichlich gesegnet worden sind.

Mach selbst ist vollkommen unschuldig an diesem „Machismus“, und er hat auch nie das Bedürfnis gefühlt, den historischen Materialismus zu „ergänzen“, von dem er vielleicht nicht einmal etwas weiß. Aber umsomehr sollten die Marxisten auf solche „Ergänzung“ verzichten, bei der auf die Dauer eine Konfusion herauskommen muß, wie sie jeden historisch gebildeten Leser an Petzoldts Buch entsetzt. Der historische Materialismus ist eine in sich geschlossene Theorie, bestimmt, die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu erkennen, eine Theorie, die ihr Recht nur von sich selbst nimmt und sich mit naturwissenschaftlichen Methoden so wenig verquicken läßt, wie sie selbst naturwissenschaftliche Ansprüche erhebt.

Nur an ihren Früchten kann sie erkannt werden. Alle „Ergänzungen“, mit denen an ihr herumgeflickt wird, können ihr nicht die Niederlage ersparen, wenn sie unrichtig sein sollte, aber sie können ihr wohl den Sieg versperren, wenn sie, wie wir annehmen, richtig ist.


Zuletzt aktualisiert am 3. Mai 2014