Franz Mehring

 

Die Bolschewiki und Wir

 

I
Die Anklage gegen die Bolschewiki

Im Berliner Tageblatt bemüht sich Herr Hans Vorst, der beste und unbefangenste Kenner russischer Zustände in der bürgerlichen Presse Deutschlands, die Herrschaft der Bolschewiki als bedroht darzustellen durch die mit dem gemeinen Verbrechertum verbündeten Anarchisten. Allerdings nicht in dem landläufig-reaktionären Sinne, wie ihn Moltke bei der Beratung des Sozialistengesetzes vertrat, daß nämlich in Revolutionen eine radikale Fraktion immer noch durch eine radikalere überboten wird, bis nur allgemeiner Mord und Totschlag übrigbleibt, sondern in der veredelten Tendenz, den Bolschewiki zuzureden, gegenüber der Gefahr, der ihnen von links droht, den hoffnungslosen Kommunismus aufzugeben und die für die Arbeiterschaft allein zu schwere Verantwortung für das Schicksal des Staates und der Revolution auf die Schultern der gesamten Demokratie des Landes zu verteilen.

Daß die Gefahr „von links her“ nun wirklich so drohend ist, wie Herr Vorst behauptet, hat er in seinen zwei langen Artikeln jedenfalls nicht bewiesen. Der Anarchismus hat in den etwa sechzig Jahren, seit denen es eine revolutionäre Bewegung in Rußland gibt, in ihr immer eine verhältnismäßig geringe Bedeutung gehabt. „Der Anarchismus ist in der russischen Revolution nicht die Theorie des kämpfenden Proletariats“, schrieb Rosa Luxemburg im Jahre 1905, „sondern das ideologische Aushängeschild des konterrevolutionären Lumpenproletariats geworden, das wie ein Rudel Haifische hinter dem Schlachtschiff der Revolution wimmelt.“ [1] Und darin, daß die Bolschewiki das Lumpenproletariat, das bei jeder Revolution aus dem Schlamm einer verwesenden Gesellschaft emporzutauchen pflegt, mit eiserner Faust zu bändigen gewußt haben, sind bisher alle glaubwürdigen Berichte aus Rußland einig gewesen.

In der Tat muß auch Herr Vorst zugeben, daß es bisher so gut wie gar keine anarchistische Bewegung in Rußland gegeben hat. Er muß bis auf die Episode Netschajew [2] zurückgehen, die sich in den Jahren 1869 und 1870 abspielte, um einen Vorläufer des heutigen Anarchismus zu entdecken, der sich nach seiner Behauptung mit dem gemeinen Verbrechen verbündet hat. Jedoch die Schilderung, die er von der Episode Netschajew entwirft, stimmt so wenig mit den Tatsachen, daß sie an einem so guten Kenner russischer Zustände, wie Herr Vorst unzweifelhaft ist, einigermaßen verwundern muß. Netschajew ist niemals ein „Schüler Bakunins“ gewesen; es war vielmehr das Pech Bakunins, daß er den Schilderungen glaubte, die ihm Netschajew als angeblicher Emissär eines allmächtigen Komitees von den tatsächlichen Zuständen in Rußland überbrachte, übrigens auch nur kurze Zeit, denn Bakunin kam bald dahinter, daß Netschajew ein gewaltiger Schwindler vor dem Herrn war. Und die „gemeinen Verbrechen“, die Netschajew freilich auf seinem Konto hat, beging er nicht an den Gegnern der Revolution oder an Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft, sondern an seinen eigenen, glücklicherweise spärlichen Anhängern, die er, um sie unheilbar zu kompromittieren, belog, betrog, bestahl und, wenn sie sich einige ebenso berechtigte wie bescheidene Zweifel an seinen Schwindeleien erlaubten, durch feigen Meuchelmord aus dem Wege räumte. Ist der Anarchismus, durch den Herr Vorst die Bolschewiki bedroht sieht, in der Tat den Lenden Netschajews entsprossen, so brauchen die Bolschewiki einstweilen noch nicht vor ihm zu zittern.

Im übrigen haben wir bei diesen Artikeln des Herrn Vorst einen Augenblick verweilt, nicht um dem Verfasser, dessen Verdienste wir durchaus zu schätzen wissen, etwas am Zeuge zu flicken, sondern umgekehrt, um an einem Beispiele aufzuzeigen, wie schwer es ist, sich heute über russische Zustände zu unterrichten, selbst wenn man an eine sonst gute Quelle geht. Herr Vorst macht übrigens selber auch durchaus kein Hehl aus dieser Schwierigkeit. Zwar hat sie sich bis zu einem gewissen Grade gehoben, seitdem der Friede zwischen Rußland und den Mittelmächten beschlossen worden ist; man kann sich jetzt aus russischen Zeitungen einigermaßen unterrichten, aber es fehlt doch noch viel an der Möglichkeit, ein klares und erschöpfendes Bild von den russischen Zuständen zu gewinnen.

Für keine Partei ist diese Lage der Dinge aber peinlicher als für die Sozialdemokratie. Wer alt genug ist, sich noch zu erinnern, mit wie atemloser Spannung im Frühjahr 1871 die Nachrichten vom Tun und Treiben der Pariser Kommune von der deutschen Arbeiterschaft erwartet wurden, in der die Sozialdemokratie noch verhältnismäßig spärlich vertreten war, der mag billig erstaunen, wenn er sieht, mit wie gelassener Ruhe das deutsche Proletariat dem ungleich großartigerem Versuch der Bolschewiki zusieht, ein großes Reich nach sozialistischen Grundsätzen zu reorganisieren, nach denselben Grundsätzen, zu denen sich die deutsche Sozialdemokratie von jeher bekannt hat. Die Bolschewiki selbst werden nicht müde zu wiederholen, daß ihr endgültiges Schicksal abhängt von der Teilnahme und von dem Verständnis, den ihr Kampf in dem europäischen Proletariat findet, und sicherlich haben sie allen Anspruch darauf, daß namentlich auch die deutsche Arbeiterklasse ein richtiges Verständnis ihrer Politik gewinnt. Zu diesem Behufe möchten wir uns mit einigen Anklagen beschäftigen, die gegen die Bolschewiki erhoben wurden, um zu prüfen, was denn nun eigentlich Wahres an ihnen ist.

Da läuft uns gerade eine Schrift über den Weg, betitelt Im Kampf um die Wahrheit und verfaßt von Parvus-Helphand, dem ehemaligen erzradikalen Sozialdemokraten und nunmehrigen Nährpater der Glocke, der J.K. und andrer regierungssozialistischer Makulatur. Er war im vorigen Frühjahre als Botschafter der Scheidemänner in Stockholm erschienen, um mit der dortigen Auslandsvertretung der Bolschewiki zu mogeln, blitzte aber damit nach Verdienst ab und ist nun voll Zorns über die „Narrentaktik“ der Bolschewiki, die, statt mit Herrn Scheidemann Arm in Arm ihr Jahrhundert in die Schranken zu fordern, lieber mit den Zimmerwaldern verhandelt hätten, „das heißt mit einem Häuflein Menschen, die auch nicht die geringste Bedeutung hatten“, und namentlich, was Herrn Parvus besonders schmerzlich sein wird, nie die geringste Anlage für gerissene Börsenspekulationen bekundet haben. Nun muß Parvus selbst zugeben, der im vorigen Frühjahre geplante internationale Sozialistenkongreß [3] sei durch die Ententesozialisten vereitelt worden, aber er meint, wenn die Bolschewiki nur mit den Scheidemännern sich eingelassen hätten, so wäre doch ein Kongreß zustande gekommen, der den Frieden diktiert und den politischen Einfluß der Arbeiter auch für die Zukunft gefestigt hätte.

Über diesen ausgekochten Blödsinn braucht kein Wort verloren zu werden. Aber Parvus hat noch einen anderen Beweis für die „Narrentaktik“ der Bolschewiki. Nach seiner Darstellung hatten die Bolschewiki den Mittelmächten grimmige Fehde geschworen im Vertrauen auf eine Revolution in Deutschland und Österreich, aber als diese Revolution ausblieb, waren sie geprellt. „Nicht gewillt, die Niederlage einzugestehen und wenigstens jetzt endlich Frieden zu schließen, erließen sie die berühmte Erklärung, daß sie die Operationen einstellten, aber keinen Frieden unterzeichneten. Sie sagten damit, daß sie gern Krieg führen möchten, aber es nicht könnten, und der deutsche Generalstab zog daraus die notwendigen Folgerungen. Rußland wurde zerschmettert, und die Bolschewiki trugen die volle Verantwortung für den Frieden von Brest-Litowsk.“ So der würdige Parvus, und die von ihm ausgehaltene J.K. findet, daß diese Darstellung „viel menschlich Anziehendes“ habe und „Verbreitung in weite Kreise“ verdiene.

Wir halten dies Urteil für etwas zu günstig; denn für die Zwecke der Massenverdummung ist die Darstellung des Parvus gar zu dumm. Schließlich weiß doch jedes Kind, daß die Bolschewiki den allgemeinen demokratischen Völkerfrieden gesucht und angeboten hatten und daß, wenn es zu diesem Frieden nicht gekommen ist, sondern zu dem Gewaltfrieden von Brest-Litowsk, ganz andre Ursachen mitgespielt haben als das von Parvus entdeckte grimmige Revanchegelüst der Bolschewiki. Indessen lohnt es sich, bei dieser Anklage gegen sie etwas länger zu verweilen, als ihre volle „Verantwortung für Brest-Litowsk“ als ihr „Tilsit“ auch sonst vielfach kolportiert und gerade dieser Vergleich mit dem Frieden zu Tilsit besonders geeignet ist, die Wahrheit, die auf den Kopf gestellt werden soll, wieder auf die Füße zu stellen.

 

 

Anmerkungen

1. Rosa Luxemburg, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd.I, Berlin 1955, S.161.

2. Netschajew (1847-1882), eine Bakunin nahestehender russischer Anarchist, hatte ende der 1860er jahre eine illegale Verschwörergruppe gegründet, die ihre Hauptaufgabe im prinzipienloser Terror sah. Aus Mißtrauen und persönlicher Rachsucht ließ Netschajew 1869 den zu seiner Gruppe gehörenden Studenten Iwanow ermorden. Durch diesen Mord wurde die Organisation von der zaristischen Polizei aufgedeckt und zerschlagen. Netschajew floh in die Schweiz, der größte teil seiner Anhänger wurde verhaftet und zu langjährigen Strafen verurteilt. Marx und Engels haben die Verschwörertaktik Netschajews aufs schärfste mißbilligt und ihre Schädlichkeit für die Entwicklung der revolutionären Arbeiterbewegung entlarvt.

3. Unterstützt von der kaiserlichen Regierung Deutschlands, schlugen die opportunistischen Führer der deutschen Sozialdemokratie im Frühjahr 1917 die Einberufung eines internationalen Sozialistenkongresses nach Stockholm vor. Sie wollten sich mit den russischen Menschewiki und sozialrevolutionären verständigen, um sie für eine Separatfrieden mit dem imperialistischen Deutschland zu gewinnen. Die Vertreter der sozialistischen Parteien der Ententeländer, die die Kriegs- und Eroberungspolitik ihrer imperialistischen Regierungen ebenfalls unterstützten, lehnten es ab, an der Konferenz teilzunehmen, und verhinderten damit ihren Zusammentritt.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.10.2003