Franz Mehring

 

Die Bolschewiki und Wir

 

II
Brest-Litowsk und Tilsit

Die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Tilsit haben sicherlich manche Ähnlichkeit; namentlich soweit es sich in Tilsit um den Frieden zwischen Frankreich und Preußen handelt. Eine gewaltige Übermacht diktierte dem wehrlosen Gegner ihre Gesetze, die Gunst des Augenblicks bis auf den letzten Tropfen ausnützend.

Aber mit solchen Frieden ist es ein böses Ding. Im Augenblick, wo sie geschlossen werden, liegt auf dem Sieger heller Sonnenschein und auf dem Besiegten tiefe Finsternis, aber dem Sonnenschein pflegt sehr schnell die Nacht zu folgen und der Finsternis sehr früh das Morgenrot. Nach Tilsit genügte dazu schon ein so kurzer Augenblick, wie im Völkerleben ein halb Dutzend Jahre sind.

Tilsit hat lange Zeit als der Höhepunkt napoleonischen Genies und Glücks gegolten, aber seit nun doch auch schon geraumer Zeit gilt es im Gegenteil als der Tiefpunkt napoleonischen Genies und Glücks. Und wenigstens ein Mann war sich schon zur Zeit, wo der Friede geschlossen wurde, über ihn völlig klar; das war Talleyrand, der französische Minister des Auswärtigen, der ihn nach Napoleons Vorschrift dem Gegner diktieren mußte. Er sagte: „Dieser Vertrag ist nur ein Auskunftsmittel, das man für ein System ausgeben will“; er witterte Leichengeruch und begann am Tage nach dem Frieden mit dem besiegten Zaren zu konspirieren. Es ist gewiß erfreulich, daß es in den Reihen der deutschen Diplomatie keine solchen Verräter gibt, wie Talleyrand einer war, aber wenn etwas von Talleyrands diplomatischer Voraussicht unter den deutschen Diplomaten lebendig gewesen wäre, die den Frieden von Brest-Litowsk abgeschlossen haben, so wäre es sicherlich kein Unglück für das Deutsche Reich gewesen.

Im Grunde braucht man aber gar nicht einmal die Autorität eines Franzmannes oder auch nur eines Diplomaten, um solche Gewalt- frieden richtig einzuschätzen, wie sie in Brest-Litowsk und Tilsit geschlossen worden sind. Selbst Poeten verstehen den Zusammenhang schon. In einem Gedicht, das hier wohl zitiert werden darf, da es einem preußischen Kronprinzen gewidmet und von diesem mit huldvollem Danke angenommen wurde, sang Graf Platen vor achtzig Jahren:

„Wie mancher wähnt den Feind zersplittert,
indes die Nemesis umwittert
des Siegers Zelt.
Triumphe sind die Niederlagen,
wenn ihre Frucht besteht in Klagen,
im grenzenlosen Haß der Welt.“

Und auch Bismarck wußte solche „Imponderabilien“ noch zu wägen, so beispielsweise 1866, als er bei Nikolsburg bis aufs Blut gegen einen Frieden stritt, der dem österreichischen Staate solche Opfer auferlegte, die von einem großen Reich nie vergeben und vergessen zu werden pflegen.

Soviel über die Glanzseiten der Friedensschlüsse von Brest-Litowsk und Tilsit! Was nun ihre Schmachseiten anbetrifft, so fällt die „volle Verantwortung“ für den Frieden von Tilsit auf das altpreußische und für den Frieden von Brest-Litowsk auf das zarische System, und selbst diese berühmten Demolierer brauchten Jahrhunderte, um einen so gründlichen Bankrott in die Wege zu leiten. Die Bolschewiki, und wenn jeder einzelne von ihnen ein Peter der Große wäre, sind eine viel zu jugendliche Partei, als daß sie die Möglichkeit und die Zeit gehabt hätten, einen Weltkrach zu inszenieren. Will man sie überhaupt mit Tilsit in einen Vergleich bringen, so brauchen sie sich durchaus nicht dieses Vergleichs zu schämen; sie haben eine ähnliche Aufgabe wie jene preußischen Reformer, die die Niederlage nicht verschuldet haben, aber sie sühnen wollten, die den Karren, den sie nicht in den Dreck geschoben hatten, wieder aufs Trockne bringen mußten, die deshalb zunächst nicht mit klirrendem Heldenschritt die Bühne beschreiten konnten, sondern sich mit mancher Demütigung abfinden mußten, die ihnen den steifen Nacken wundscheuerte, denen aber der geschichtliche Ruhm geworden ist, in entscheidungsschweren Tagen die Zeichen der Zeit richtig erkannt zu haben; wir meinen Männer wie Scharnhorst, Gneisenau, den Freiherrn von Stein und andre, die sich historisch immerhin schon sehen lassen können.

Will man den Bolschewiki einen Vorwurf daraus machen, daß sie den Krieg nicht fortgesetzt haben, statt sich dem Frieden zu Brest-Litowsk zu unterwerfen, so muß man nachweisen können, daß die Fortsetzung des Krieges eine europäische Revolution hervorgerufen haben würde. Wer diesen Nachweis führen zu können glaubt, der mag den ersten Stein auf die Bolschewiki werfen. Aber bisher ist der Nachweis noch nicht einmal versucht, geschweige denn geführt worden, daß diese einzige Voraussetzung eines Erfolges auch nur im Bereich einer entfernten Möglichkeit gelegen hätte. Fehlte sie aber, so wäre die Fortführung des Krieges auf ein Verbluten der russischen Revolution hinausgekommen – zugunsten des Imperialismus der Entente, den die Bolschewiki mit Recht nicht minder hassen als den Imperialismus der Mittelmächte.. Übrigens hat ein ähnlicher Gesichtspunkt auch nach Tilsit mitgespielt, wo der Wille der Reformer zum augenblicklichen Losschlagen immer wieder gelähmt wurde durch die Aussicht, daß ein Mißlingen dem zarischen Despotismus auf die Beine helfen würde, den wenigstens die Einsichtigeren von ihnen noch mehr fürchteten als den napoleonischen.

Der ganze Komplex von Fragen, der durch den Frieden von Brest-Litowsk aufgeworfen wurde, ist nach Tilsit aufs gründlichste erörtert worden. Wenn damals die preußischen Reformer entschieden haben wie heute die Bolschewiki, so hat ihnen die Geschichte recht gegeben, und niemand hat behauptet, daß es ihnen an Entschlossenheit und Mut gefehlt hätte, den Kampf sofort nach Tilsit wiederaufzunehmen. Für diesen Fall hat Gneisenau, der spätere eigentliche Sieger über Napoleon, Insurrektionspläne von einer Kühnheit und Rücksichtslosigkeit entworfen, daß sich ihrer kein heutiger Revolutionär zu schämen hätte. Aber er und seine Genossen hatten den höheren Mut, Vorwürfen zu trotzen, wie sie auf dem Moskauer Sowjetkongreß, der über den Frieden von Brest-Litowsk zu entscheiden hatte, gegen die Bolschewiki vorgebracht wurden: Vorwürfen, die nach Tilsit übrigens von einem preußischen Junker, der nebenbei den Vorzug hatte, ein genialer Dichter zu sein, viel durchschlagender formuliert wurden als von den Rednern der Menschewiki in Moskau. Heinrich v. Kleist sang nach Tilsit:

„Nicht der Sieg ist’s, den der Deutsche fordert,
hilflos, wie er schon am Abgrund steht:
Wenn der Krieg nur fackelgleich entlodert,
wert der Leiche, die zu Grabe geht.“

Das ist die einzige Logik, womit sich die Taktik der Bolschewiki gegenüber dem Frieden von Brest-Litowsk anfechten läßt, aber es ist freilich eine Logik zum Totschießen, wie der arme Kleist durch sein eigenes Schicksal bekräftigt hat.

Man braucht also der Redensart von dem „Tilsit der Bolschewiki“, die besonders geeignet ist, die deutschen Arbeiter zu verwirren, nur ins Gesicht zu leuchten, um sie in ihrer völligen Nichtigkeit zu erkennen. Wobei denn auch nicht zu übersehen ist, daß es sich bei den „paar Jahren des Atemholens“ bei den preußischen Reformern nach Tilsit nur um kleine Reformen handelte, während die Bolschewiki die russische Revolution zu retten bemüht sind, um den ersten großen Versuch einer sozialen Wiedergeburt zur unternehmen.

 


Zuletzt aktualisiert am 5.9.2003