Franz Mehring

 

Die Bolschewiki und Wir

 

III
Marx und die Pariser Kommune

Von andern Anklagen gegen die Bolschewiki erledigt sich die Vorhaltung des Herrn Hans Vorst von selbst; seine Zumutung, die Bolschewiki sollten ihren „hoffnungslosen Kommunismus“ aufgeben und gemeinsam mit der ganzen Demokratie Rußlands an der Rettung des Landes arbeiten, ist ja nur ein Echo des Singsangs, der vor dem Kriege von dem Berliner Tageblatt und der Frankfurter Zeitung an die deutsche Sozialdemokratie gerichtet wurde, um von dieser Seite mit einem spöttischen Achselzucken erwidert zu werden.

Innerlich mit diesem Vorwurf bis zu einem gewissen Grade verwandt, aber von um so tieferem Eindruck auf die deutsche Arbeiterklasse, ist die Anklage, daß die Bolschewiki eine sozialistische Gesellschaft in einem Lande gründen wollen, das neben 90 Prozent Bauern erst etwa 10 Prozent industrielle Arbeiter zählt. Das sei ein verwegenes Abenteuer, das mit Schimpf und Schande enden müsse. Es widerspräche den einfachsten Begriffen des Marxismus. Dem mag so sein, aber wenn Marx seine Meinung dazu sagen könnte, so würde er vermutlich ein bekanntes Wort wiederholen: Nun, dann bin ich eben kein Marxist.

Er hat es nämlich nie für seine Aufgabe gehalten, neue Revolutionen an alten Formen zu messen, sondern er sah jede neue Revolution darauf an, ob sie neue Erkenntnisse liefere, die den proletarischen Emanzipationskampf fördern könnte, unbekümmert darum, ob dabei diese oder jene alte Formel in die Brüche ging. Es ist bekannt und oft erwähnt, daß er nach dem Fall der Pariser Kommune deren Taten unbesehen auf das Konto der Internationale übernahm, aber es ist weniger bekannt, daß er dabei einen Satz preisgab, den er seit mehr als zwanzig Jahren verteidigt hatte und den er zur Zeit, wo die Kommune entstand, besonders leidenschaftlich gegen Bakunin verteidigte. Bekanntlich hatte er schon im Kommunistischen Manifest die politische Tätigkeit der Arbeiterklasse gefordert, damit sie sich der Gewalt bemächtigen und mit deren Hilfe die bürgerliche Gesellschaft in die sozialistische Gesellschaft umzuschaffen vermöge, während Bakunin die politische Betätigung im Klassenstaat als eine ewige Quelle der Korruption ansah und sie nur gestatten wollte, wo sie sich auf den unmittelbaren Umsturz des Staates richtete.

Nun lag es auf der Hand, daß die Kommune nach den Rezepten Bakunins entstanden war; er meinte: Ich verstehe nicht, wie gerade Marx die Kommune verherrlichen kann, denn sie tut ja gerade das, was er verurteilt. Marx bestätigte diese Meinung, indem er allerdings alle Maßregeln lobte, die die Kommune ergriffen hatte, um den Staat unmittelbar abzuschaffen, wenn sie zumeist auch nur auf dem Papier blieben: die Beseitigung des stehenden Heeres und der Polizei, die Vernichtung der Pfaffenmacht, die Abschaffung der selbständigen vom Staate besoldeten Richter usw. Aber Marx wußte sehr genau, was er tat; er war durch die Geschichte der Kommune zu der Erkenntnis gekommen, daß es nicht genüge, wie er noch im Kommunistischen Manifest gefordert hatte, die fertige Staatsmaschine in Besitz zu nehmen und sie für die Zwecke der Arbeiterklasse in Bewegung zu setzen. Die alte Staatsmacht, die nur noch wie ein Schmarotzerauswuchs am Körper der Nation zehrte, mußte zunächst beseitigt und durch eine von Grund demokratische Organisation ersetzt werden. „Ihr wahres Geheimnis war dies“, sagt Marx in seiner berühmten Schrift über den Pariser Aufstand, „sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampf s der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.“ [1] An dieser Auffassung hat Marx auch fernerhin festgehalten und in Vorreden zu späteren Auflagen des Kommunistischen Manifests stets betont, daß die in dieser Schrift niedergelegte Anschauung von der Eroberung der Staatsgewalt durch die arbeitenden Klassen nach den Erfahrungen der Kommune umzuwandeln sei.

Nun darf man aber nicht übersehen, daß die Pariser Kommune keine Zeit hatte, sich auszuleben, und daß sie während der wenigen Wochen ihres Bestehens in einem Kampfe auf Leben und Tod stand, der ihre demokratische Organisation schon in den Anfängen störte, in Anfängen, die sich ohnehin nur auf eine einzelne Stadt beschränkten. Wenn Marx diese Anfänge schon mit heller Begeisterung begrüßte, so mag man sich leicht vorstellen, wie er sich zur Sowjetregierung stellen würde, die nun schon für die ungezählten Massen eines großen Volkes das Problem, zugleich regieren und regiert zu werden, in einer in der Weltgeschichte noch nie dagewesenen Weise gelöst hat. Ein revolutionärer Denker ist immer noch mehr als der einzelne revolutionäre Satz, den er einmal aufgestellt hat, und Marx war der letzte, an einer Formel festzuhalten, wenn sie durch die Tatsachen widerlegt wurde.

Übrigens, wenn Marx anerkannt hat, daß eine revolutionäre Klasse unter Umständen zum Siege gelangen könne, ehe die notwendigen Vorbedingungen dieses Sieges gesichert seien, so hat er daraus doch nie die sehr törichte Schlußfolgerung gezogen, daß sie deshalb nun einer hinter ihr trabenden Klasse die Herrschaft anbieten solle, wie ein höflicher Jüngling einem älteren Herrn sagen mag: „Bitte nach Ihnen, ich bin noch nicht reif genug, den Vortritt zu nehmen.“ Das mag im Ballsaal eine empfehlenswerte Liebenswürdigkeit sein, aber im geschichtlichen Leben wäre es eine vollkommene Albernheit, die übrigens aber auch so sehr aller menschlichen Psychologie widerstreitet, daß sie noch niemals vorgekommen ist oder jemals vorkommen kann. Wenn Marx und Engels von der Möglichkeit sprachen, vorzeitig zur Macht zu gelangen, war doch immer ihre Ansicht – und einige ausführliche Bemerkungen von Engels darüber habe ich vor einigen Monaten an dieser Stelle wörtlich mitgeteilt – daß die noch heiße Suppe dennoch und unter allen Umständen ausgelöffelt werden müsse, und der lehrreiche Artikel, den die Leipziger Volkszeitung kürzlich über die Sowjetrepublik veröffentlichte, wies treffend an dem stürmischen Gange der Dinge in Rußland die Unmöglichkeit nach, an irgendeinem theoretisch wünschenswerten Stadium die Revolution festzuhalten.

In jenem Artikel wird auch darauf hingewiesen, daß die russische Revolution nach ihren inneren Zusammenhängen aus dem Jahre 1905 datiert, und wenn sich in diesem doch schon ganz respektablen Alter von 13 Jahren noch nicht die verhängnisvollen Wirkungen des Todkeimes gezeigt haben, den sie an dem Gegensatz der bäuerlichen und proletarischen Interessen im eigenen Schoße tragen soll, so ist dieser Gegensatz am Ende nicht unüberwindlich. Es scheint in der Tat, daß Marx den Nagel auf den Kopf getroffen hat, als er in der geplanten Verfassung der Pariser Kommune endlich die Form zu entdecken glaubte, in der sich die ökonomische Befreiung der Arbeit vollziehen könnte. Denn ohne daß von irgendeiner Nachahmung gesprochen werden dürfte, haben sich die Sowjets unter den gebieterischen Forderungen des Augenblicks entwickelt, treffen aber im wesentlichen mit den Gedanken der Kommune zusammen. Die Sowjets sind die Diktatur des Proletariats, elastisch genug, um allen Schichten der arbeitenden Klassen freien Spielraum zu gewähren, aber in ihrer Aktionsfähigkeit dadurch so wenig behindert, daß sie in der einsichtigen Entschlossenheit,, womit sie ihre revolutionären Maßregeln ausführen, alle revolutionären Regierungen übertreffen, die vor ihnen dagewesen sind.

 

Anmerkung

1. Karl Marx u. Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Bd.I, Berlin 1953, S.494.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.10.2003