Franz Mehring

 

Die Bolschewiki und Wir

 

IV
Die Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie

Werfen wir nun auch einen Blick auf die Tätigkeit der Sowjets, so macht sich freilich der Übelstand sehr fühlbar geltend, den wir schon in unserem ersten Artikel hervorgehoben haben: die Lückenhaftigkeit, Spärlichkeit und Unsicherheit der Nachrichten, die über die russischen Grenzen zu uns dringen.

Dabei sehen wir von vornherein schon von allen Tatarennachrichten ab. Aber wenn selbst ein sonst verständiger Mann wie Herr v. Gerlach in der Welt am Montag mit sittlicher Entrüstung zu melden weiß, daß Lenin mit „edler Unparteilichkeit“ von „englischen und deutschen Banditen“ gesprochen habe, so müssen wir gestehen, daß wir auch dadurch noch nicht besonders tief gerührt werden.

Ob Lenin wirklich eine solche Äußerung getan hat, können wir weder bestätigen noch bestreiten.

Am merkwürdigsten ist uns dabei, wie Leute, die sich überhaupt mit Lenins Reden beschäftigen – und er hat deren in letzter Zeit ja viele gehalten, von denen wir namentlich die große Rede über den Aufbau des sozialistischen Staates hervorheben möchten – auf den kuriosen Gedanken verfallen, darin nach heftigen oder doch kräftigen Ausdrücken zu suchen, wie nach Rosinen in einem Napfkuchen. Der böse Wille guckt dabei gar zu deutlich hervor. Wer sich nämlich auch nur mit einiger Unbefangenheit einen Überblick über die gegenwärtige in Rußland erscheinende revolutionäre Literatur, namentlich auch Zeitungsliteratur, zu verschaffen gesucht hat, wird unter dem genau entgegengesetzten, geraden mit Händen greifbaren Eindruck stehen, daß sich diese Literatur von der Literatur früherer revolutionärer Perioden (1793, 1830, 1848, 1871) in der Form durch eine auffallend mäßige und sachliche Sprache unterscheidet.

Wir sagen das keineswegs, weil wir auf den „guten Ton“ versessen sind und in ihm einen untrüglichen Maßstab für die Güte der Sache erblicken. Eher im Gegenteil! Um keinen Preis möchten wir auf die von revolutionärer Leidenschaft flammenden Artikel verzichten, wie sie Marx und Engels in der Neuen Rheinischen Zeitung veröffentlicht haben. Aber alles zu seiner Zeit! Nicht um dem Philister die Sowjetrepublik schmackhafter zu machen, sondern um sozusagen ihren historischen Ort zu bestimmen, heben wir die von allen Illusionen und Überschwenglichkeiten freie Sprache hervor, womit die Organe dieser Republik die Aufgaben erörtern, deren Lösung ihrer harrt. Sie verkennen die ungeheuren Schwierigkeiten nicht, die sie dabei zu bewältigen haben. Aber sie schrecken vor diesen Schwierigkeiten nicht zurück; sie gehen ihnen nicht mit irgendeiner Prahlerei als dem Wege, sondern rücken ihnen unverdrossen auf den Leib: „Möglich, daß wir nicht gleich das Richtige treffen, aber die Sache muß gemacht werden, und schließlich werden wir sie machen.“ Diese ruhige Sicherheit, die ebenso daraus entspringt, daß die russischen Revolutionäre sicheren Boden unter ihren Füßen fühlen, als auch daß sie aus den tiefsten Quellen der sozialistischen Wissenschaft schöpfen, gibt der Regierung der Sowjetrepublik das kennzeichnende Gepräge.

Diese in der Geschichte der Revolution ganz neue Erscheinung mag dem Revolutionsromantiker wegen des mitunter „trockenen Tons“ nicht besonders behagen, aber geschichtlich ist sie ein gewaltiger Fortschritt. Man entsinnt sich, daß, als die Kongresse der deutschen Sozialdemokratie aus ihren mehr lärmenden Anfängen in ein mehr nüchternes Fahrwasser hinüberglitten, ein kundiger Thebaner meinte: Nun werden die Leute endlich vernünftig, worauf ihm ein noch kundigerer Thebaner erwiderte: Im Gegenteil, nun geht die Geschichte erst recht los. Was damals im kleinen, gilt heute im großen. In den vier Kriegsjahren konnte man, dank der Politik der Regierungssozialisten, sich oft die verzweifelte Frage vorlegen, ob wir nicht ein halbes Jahrhundert rein um nichts und wieder nichts gearbeitet und gekämpft haben, aber wenn wir heute das Journal officiel der Pariser Kommune mit seinen Artikeln Debatten, Beschlüssen usw. zur Hand nehmen und damit die Artikel, Debatten, Beschlüsse usw. vergleichen, wie sie heute in der Sowjetrepublik erscheinen, so ist es eine Sache unschätzbaren Trostes, sich zu sagen, daß dies halbe Jahrhundert doch nicht frucht- und spurlos über die Häupter der internationalen Arbeiterbewegung dahingerauscht ist, sondern eine Frucht gezeitigt hat, die immerhin eine Reifezeit lohnt, wie ein halbes Jahrhundert sein mag.

Was sich daraus als Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie ergibt, braucht es erst gesagt zu werden? Selbst wenn man von allem Sozialismus absieht, muß schon jeder, der einen demokratischen Verständigungsfrieden nicht bloß mit dem Maule wünscht, die Befestigung und Erhaltung der bolschewistischen Herrschaft in Rußland aufs dringendste zu fördern suchen; von einem solchen Frieden unaufhörlich zu schwatzen und dabei einen dicken Trennungsstrich zwischen sich und die Bolschewiki zu ziehen ist der Gipfel jener hoffnungslosen Konfusion, den nur Scheidemann und seine Gefolgschaft zu erklimmen vermag. Die Bolschewiki sind die einzige russische Partei, die vollkommen Bürgschaft für einen demokratischen Verständigungsfrieden bietet, die vollkommen hieb- und stichfest ist gegen allen und jeden Imperialismus, gegen den englischen Imperialismus nicht minder als gegen den deutschen.

Indessen für die deutsche Sozialdemokratie gibt es noch ganz andre Gründe und Rücksichten, wobei wir noch gar nicht einmal den Umstand mitrechnen, daß die Sowjetrepublik ja eine befreundete Macht des Deutschen Reiches ist. Halten sich die Bolschewiki in Rußland, so ist trotz alledem ein Erfolg errungen, der über alte Enttäuschungen der letzten Jahre hinwegzuhelfen vermag; unterliegen sie, so mag es an der Zeit sein, daß die Toten ihre Toten begraben und ein oder ein paar Menschenalter hindurch nur noch mit einem Achselzucken von dem internationalen Sozialismus gesprochen werden kann.

 


Zuletzt aktualisiert am 5.9.2003