John Molyneux

Marxismus und Partei


5. Trotzkis doppeltes Vermächtnis


Trotzkis Beitrag zur marxistischen Parteitheorie ist ein zweifacher. Zuerst ist da seine Verteidigung des leninistischen Parteikonzepts (hauptsächlich im Rahmen der Linken Opposition) gegen die theoretischen und praktischen Angriffe Stalins und der stalinistischen Bürokratie. Zweitens ist da sein Versuch, eine wirklich marxistische Alternative zur degenerierten Kommunistischen Internationale aufzubauen, der in der Gründung der Vierten Internationale gipfelte. Obwohl beide Aspekte natürlich in engem Zusammenhang stehen, weil der zweite aus dem ersten hervorging, gibt es einen qualitativen Unterschied. In der Zeit der Linken Opposition begegnete Trotzki Stalins opportunistischer Politik mit einer konsequent revolutionären Alternative. Bei dem Versuch, eine Vierte Internationale aufzubauen, musste Trotzki seine Politik nun in eine eigenständige Organisation gießen. Daher scheint es sinnvoll, unsere Studie über Trotzkis Parteitheorie in zwei Teile zu gliedern: Verteidigung des Leninismus und die Vierte Internationale.
 

I. Verteidigung des Leninismus

Trotzki brach mit Stalin und der offiziellen Mehrheit der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) über zwei Fragen: die bürokratische Entartung des russischen Staats und Stalins Theorie vom „Sozialismus in einem Land“. Beide Themen hängen natürlich eng zusammen. Die Bürokratie gedieh auf den Trümmern eines entkräfteten und aufgelösten revolutionären Proletariats infolge des um sich greifenden Elends des Ersten Weltkriegs, des anschließenden Bürgerkriegs und der damit verbundenen ökonomischen Verwüstungen, des Hungers, der Epidemien und der physischen Vernich-tung. [293] Diese Bürokratie, die zu großen Teilen aus Karrieristen, Verwaltungsbeamten des alten Regimes, ehemaligen Menschewisten und schon lange deklassierten Arbeitern bestand, sehnte sich vor allem nach einem: dem Ende der Unruhen und dem Übergang zur Tagesordnung. Sie hatte kein Interesse an der Weltrevolution, die ihr als romantisches und gefährliches Abenteuer erschien. So war die Theorie vom Sozialismus in einem Land nicht bloß eine Erfindung Stalins, „sie war der getreue Ausdruck der Stimmung der Bürokratie: Wenn diese vom Sieg des Sozialismus sprach, meinte sie damit ihren eigenen Sieg.“ [294]

Es ging also um eine grundsätzliche Auseinandersetzung, so tiefgehend wie die Spaltung zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie. Zwei völlig unterschiedliche und gegensätzliche Vorstellungen von Sozialismus prallten aufeinander. Trotzki wie Marx und Lenin verband Sozialismus mit einer klassenlosen, selbstbestimmten Gemeinschaft ohne Staat, basierend auf einem Überfluss an materiellen Gütern, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. [295] Diktatur, staatliche Planung, Wirtschaftswachstum, Rationalisierungsmaßnahmen, eiserne Disziplin und so weiter waren Mittel zur Erreichung dieses Ziels (Mittel, vor denen Trotzki selbst nicht zurückschreckte), aber kein Selbstzweck. Für Stalin und die Bürokratie, deren erster Vertreter er war, war Sozialismus gleichbedeutend mit Verstaatlichung, bürokratischer Kontrolle, Wirtschaftswachstum und militärischer Stärke, die Russland zu einer Weltmacht ersten Rangs machen sollten. Von Trotzkis Standpunkt aus war ein gewisser Grad an Bürokratisierung vielleicht unvermeidlich, aber sie bildete eine allgegenwärtige Gefahr, die im Auge behalten werden und der man sich so schnell wie nur möglich entledigen musste. Von Stalins Standpunkt aus war sie Lebenselixier und Grundlage des neuen Regimes. Nach Trotzkis Vorstellung von Sozialismus ist seine Verwirklichung in einem Land – und dazu noch einem so rückständigen wie Russland – eine reaktionäre Utopie. Nach Stalins Vorstellung war es die einzig machbare und realistische Perspektive.

Da es sich um Auseinandersetzungen über Grundsätze handelte, musste sie notwendigerweise irgendwann jedes Ereignis und jede politische Entscheidung im Leben der internationalen Arbeiterbewegung berühren, nicht zuletzt Charakter, Aufgaben, Strategie und Taktik der revolutionären Partei und der revolutionären Internationale. Um Trotzkis Auseinandersetzung mit Stalin über die leninistische Theorie besser nachvollziehen zu können, wollen wir sie unter zwei Gesichtspunkten betrachten: die Parteidemokratie in der KPdSU und die Strategie der internationalen kommunistischen Parteien.
 

Parteidemokratie

Die allmähliche Bürokratisierung des Sowjetstaates vor dem Hintergrund einer entkräfteten und politisch inaktiven Arbeiterklasse musste über kurz oder lang die Bürokratisierung der kommunistischen Partei und die Zerstörung der innerparteilichen Demokratie nach sich ziehen. Obwohl eine formale Trennung zwischen staatlichen Institutionen (Sowjets) und Partei bestand, waren die Bolschewiki in Wirklichkeit eine Staatspartei. Seit der Zeit des Bürgerkriegs hatte die Partei ein politisches Monopol und kontrollierte alle Schlüsselpositionen im Staat. Wenn die Staatsmaschinerie so bürokratisiert wurde, musste sich das auf die Partei auswirken. Die Frage ist deshalb so wichtig, weil die Partei – die Vorhut des Proletariats mit ihrem Kern unbestechlicher alter Bolschewiki, ihrer revolutionären Tradition, ihren Einkommensgrenzen [296] und ihrer strengen Disziplin – als Bollwerk gegen die Bürokratie betrachtet wurde. Angesichts der Passivität der Arbeiter war sie die letzte Verteidigungslinie. Im Jahr 1923 wurde Trotzki der Ernst der Lage bewusst und er nahm den offenen Kampf für Demokratie in der Partei mit einer Artikelserie für die Prawda auf, die unter dem Titel „Der neue Kurs“ erschien. [297]

Der Ton in Der neue Kurs ist vorsichtig gehalten und einige Formulierungen sind zaghaft, aber in vielerlei Hinsicht bilden die Artikel eine großartige Darstellung der Notwendigkeit von Demokratie in der revolutionären Partei und sind deshalb von bleibendem Wert. Trotzki stellt die Demokratie nicht als abstraktes Recht dar, sondern als Bedingung für die Parteientwicklung in der sich eröffnenden historischen Phase. Er beginnt mit einer Untersuchung des Verhältnisses zwischen alten und neuen Parteimitgliedern der Generation vor und nach der Oktoberrevolution: „Nach der Machtergreifung begann ein schnelles Anwachsen der Partei, ja sogar ein ungesundes Anschwellen.“ [298] Unerfahrene Arbeiter mit niedrigem Bewusstsein strömten in die Partei, aber auch bestimmte Fremdelemente, Funktionäre und Mitläufer. „In dieser vollständig chaotischen Periode konnte die Partei nur dank der vorhandenen inneren Diktatur der alten Garde, die sich im Oktober bewährt hatte, eine bolschewistische Partei bleiben.“ [299]

Seitdem habe sich die Situation verändert. Zum Zweck ihrer eigenen politischen Entwicklung und der Zukunft der Partei insgesamt müsse die neue Generation jetzt aktiv in das politische Leben und den Entscheidungsprozess der Partei einbezogen werden. Trotzki nimmt dann die soziale Zusammensetzung der Partei unter die Lupe und zeigt auf, wie das Erfordernis, Verwaltungsposten mit Arbeitern zu besetzen, „das innere Gleichgewicht der Partei zuungunsten der wichtigsten Betriebszellen stört“ [300], was eine wesentliche Quelle der Bürokratisierung darstelle. Trotzki erörtert die zwingende Notwendigkeit, die proletarische Basis zu stärken und Studenten und die Jugend als Kraft gegen die Bürokratie zu nutzen.

Über den Bedarf an innerer Demokratie schreibt Trotzki:

Und darin besteht der grundsätzliche und unvergleichliche Vorzug unserer Partei, dass sie in jedem beliebigen Augenblick die Industrie mit den Augen eines Kommunist-Drehers, eines Kommunist-Spezialisten, eines Kommunist-Direktors und eines kommunistischen Kaufmanns betrachten kann, und, indem sie die sich gegenseitig ergänzenden Erfahrungen all dieser Arbeiter zusammenfasst, die Linie ihrer Wirtschaftsführung im Allgemeinen wie auch für jeden einzelnen Wirtschaftszweig festsetzen kann.

Es ist vollkommen klar, dass eine derartige wirkliche Parteiführung nur auf der Grundlage einer lebendigen und aktiven Parteidemokratie durchführbar ist. [301]

Diese Bemerkungen richten sich an eine Partei, die an der Macht ist und sich in einer besonderen Situation befindet, aber der darin formulierte Grundsatz von der Notwendigkeit der Demokratie für eine ordentliche Führung ist allgemeingültig.

Die Antwort der Führung auf Trotzkis Kritik bestand hauptsächlich aus schamlosen Verteidigungen der großen Traditionen der alten Garde, in der Hervorhebung der unbedingt erforderlichen Einheit der Partei und der Warnung vor den Gefahren des Fraktionierens. Trotzki antwortete, dass die „Tradition“ auch eine negative, nicht nur eine positive Seite in der revolutionären Bewegung gespielt habe. Er führt den Widerstand der alten Bolsche-wiki gegen Lenins Aprilthesen und weitere Beispiele an, und argumentiert, dass die „bedeutendste und wertvollste taktische Eigenschaft [der Bolschewiki] in ihrer unübertroffenen Fähigkeit besteht, sich schnell zu orientieren und ihre Taktik scharf zu ändern, umzurüsten, neue Methoden anzuwenden, mit einem Wort, plötzliche Wendungen in der Politik vorzunehmen“. [302] Außerdem könne keine Tradition, wie revolutionär sie auch sein mag, eine unfehlbare, überhistorische Garantie gegen Entartung sein. Zu dem Problem von Fraktionen räumt Trotzki ein, dass sie in dieser Situation eine große Gefahr darstellten und fraktionelle Meinungsverschiedenheiten schnell zu einem Abbild der dem Proletariat feindlich gesinnten Klassen- und gesellschaftlichen Kräfte degenerieren könnten, hält dem aber entgegen, dass ein undemokratisches Parteiregime selbst schon eine Ursache für Fraktionsbildungen ist.

Um das zu vermeiden, müssen die führenden Parteiorgane aufmerksam auf die Stimme der breiten Parteimassen hören, sie dürfen nicht in jeder Kritik den Ausdruck des Fraktionismus sehen und auf diese Weise gewissenhafte und disziplinierte Parteimitglieder auf den Weg der Verschlossenheit und des Fraktionismus stoßen. [303]

In Der neue Kurs argumentiert Trotzki für offene Debatten:

Die öffentliche Meinung der Partei wird notwendigerweise aus Widersprüchen und Meinungsverschiedenheiten erarbeitet. Wenn man diesen Prozess nur auf den Apparat beschränkt, der danach die Früchte seiner Arbeit in Form von Losungen, Befehlen usw. an die Partei weitergibt, so schwächt man die Partei ideologisch und politisch. [304]

Dennoch kann sich Trotzki angesichts der Vertracktheit der Situation den Erfordernissen einer zentralen Autorität nicht entziehen. Er fordert innerparteiliche Demokratie, räumt aber zugleich ein: „Wir sind die einzige Partei im Lande, und in der Epoche der Diktatur kann es auch nicht anders sein.“ [305] Auch Trotzki beteiligte sich daher an der damaligen Praxis, als vorübergehend gemeinte Maßnahmen zur Bewältigung der Ausnahmesituation des Bürgerkrieges von einer Not zu einer Tugend zu erheben. Max Shachtman, ein ehemaliger Anhänger Trotzkis, sieht darin einen grundsätzlichen Widerspruch:

Trotzki [...] war es anscheinend überhaupt nicht bewusst [...], dass die Verweigerung demokratischer Rechte für die Menschen außerhalb der Partei nur durchsetzbar war, wenn früher oder später diese Rechte auch den Mitgliedern der Partei selbst verweigert würden. Denn das ist ein wahres Gesetz der Politik: Jede ernste Meinungsverschiedenheit in einer ernsthaften politischen Partei richtet sich – direkt oder indirekt, ausdrücklich oder stillschweigend, gewollt oder ungewollt – auch an die ein oder andere Gruppe außerhalb dieser Partei. [306]

Das ist zwar ein wichtiger Einwand, entkräftet aber Trotzkis Gesamthaltung nicht wirklich. Es besteht kein Zweifel, dass die nach außen gerichtete Diktatur einer Partei langfristig – „früher oder später“ – zur Diktatur auch innerhalb der Partei führen muss. Allerdings – und das sagt Trotzki sehr oft – ist Zeit ein bedeutender Faktor in der Politik. Von Trotzkis Standpunkt aus standen die Bolschewiki vor der außerordentlich schwierigen und heiklen Aufgabe durchzuhalten: Auf der Zeitschiene zwischen „früher“ und „später“ gab es die Aussicht auf Entlastung durch die internationale Revolution.

Während Stalin seine despotische Kontrolle über die Partei und das Land immer mehr festigte und seine Politik sich immer weiter von dem revolutionären Marxismus entfernte, wurden die Rufe nach Parteidemokratie beharrlicher und der Widerstand gegen Stalins Organisationsmethoden wurde immer hartnäckiger.

Die im Jahr 1927 von Trotzki, Sinowjew und elf anderen Mitgliedern des Zentralkomitees unterzeichnete Plattform der Vereinigten Opposition war eine schallende Ohrfeige für das Parteiregime:

In den letzten Jahren ist die innerparteiliche Demokratie systematisch beseitigt worden – im Widerspruch zur gesamten Vergangenheit der bolschewistischen Partei und im Widerspruch zu klaren Beschlüssen einer Reihe von Parteitagen. In der Praxis sterben wirkliche Wahlen aus. Die organisatorischen Prinzipien des Bolschewismus werden auf Schritt und Tritt verfälscht. Das Parteistatut wird systematisch verändert – in Richtung auf eine Ausweitung der Rechte der Spitzen und einer Einschränkung derjenigen der unteren Zellen. Die Mandate der Gebietskomitees, Rayonkomitees, Gouvernementskomitees, Zentralkomitees sind auf ein Jahr, auf drei und mehr Jahre verlängert worden. Die Spitzen der Gouvernementskomitees, Gouvernementsexekutivkomitees, Gouvernementsgewerkschaftsräte und so weiter sind faktisch (für drei, fünf und mehr Jahre) unabsetzbar geworden. Das Recht eines jeden Parteimitglieds, einer jeden Gruppe von Parteimitgliedern, „grundlegende Meinungsverschiedenheiten vor den Richterstuhl der gesamten Partei“ zu tragen (Lenin), ist faktisch beseitigt worden. Die Parteitage und die Parteikonferenzen werden – anders als zu Lenins Zeiten – ohne vorhergehende freie Diskussion der Fragen in der ganzen Partei einberufen, und die Forderung nach einer solchen Diskussion wird als Verletzung der Parteidisziplin angesehen [...]

Das Absterben der innerparteilichen Demokratie führt zu einem Absterben der Arbeiterdemokratie überhaupt – in den Gewerkschaften und in allen anderen Massenorganisationen. [307]

In dieser „Plattform“ sind die Analysen, Warnungen und Vorschläge, die Trotzki in Der neue Kurs unterbreitet hat, zu programmatischen Forderungen geworden: „Der 15. Parteitag muss auf der Grundlage wirklicher innerparteilicher Demokratie vorbereitet werden“; „Jeder Genosse und jede Gruppe von Genossen muss die Möglichkeit haben, den eigenen Standpunkt vor der Partei, in der Presse, auf Versammlungen usw. zu verteidigen“; „eine Reihe von Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Zusammensetzung der Partei und ihrer führenden Organe [sind] zu treffen. [...] In den kommenden zwei bis drei Jahren sollten in der Regel ausschließlich Arbeiter und Arbeiterinnen von der Werkbank sowie Landarbeiter und Landarbeiterinnen in die Partei aufgenommen werden“; „Entschieden ist Kurs zu nehmen auf eine Proletarisierung des gesamten Parteiapparats“; „die ausgeschlossenen Oppositionellen [sind] sofort wieder in die Partei aufzunehmen“; „Erneuerung des ZKK [...] Die Mitglieder des ZKK müssen [...] Unabhängigkeit vom ,Apparat‘ [...] aufweisen.“ [308] Die Verurteilungen und Forderungen bleiben hier allerdings noch im Rahmen der absoluten Loyalität zur Kommunistischen Partei Russlands und der Respektierung ihres politischen Monopols:

Wir werden mit aller Kraft gegen [die Entstehung] von zwei Parteien kämpfen, denn die Diktatur des Proletariats braucht, als ihren Kern, eine einheitliche proletarische Partei. [309]

Nach 1933, nach der totalen Lähmung der Komintern vor Hitler (siehe weiter unten) und der Ausmerzung jeglicher Opposition und Kritik in Russland selbst, gab Trotzki seine Zurückhaltung endgültig auf. Er erklärte, dass die bolschewistische Partei Lenins durch den Stalinismus restlos zerstört worden sei, und rief zur Neugründung revolutionärer Parteien und zum Umsturz der Bürokratie durch eine politische Revolution auf. Sein im Jahr 1936 verfasstes zentrales Werk Verratene Revolution enthält schließlich eine unzweideutige Darstellung seiner Ansichten über Parteidemokratie:

Das Charakteristikum des inneren Regimes der bolschewistischen Partei war der demokratische Zentralismus. Die Verbindung dieser beiden Begriffe hat gar nichts Widersprüchliches an sich. Die Partei wachte scharf darüber, dass ihre Grenzen stets fest umrissen blieben, aber auch darüber, dass diejenigen, die ihr angehörten, wirklich das Recht genossen, die Richtung der Parteipolitik mitzubestimmen. Freiheit der Kritik und Kampf der Ideen bildeten die Substanz der Parteidemokratie. Die heutige Doktrin, der Bolschewismus vertrage sich nicht mit Fraktionen, ist ein Mythos aus der Verfallsepoche. In Wirklichkeit ist die Geschichte des Bolschewismus eine Geschichte von Fraktionskämpfen. Wie könnte eine wirklich revolutionäre Organisation, die sich zum Ziel setzt, die Welt aus den Angeln zu heben, und mutige Neinsager, Aufrührer und Kämpfer um ihr Banner schart, wohl ohne den Kampf der Ideen, ohne Gruppierungen und zeitweilige Fraktionsbildungen leben und sich entwickeln? Durch ihren Weitblick konnte die bolschewistische Führung die Zusammenstöße oft mildern und den Fraktionskampf abkürzen, aber auch mehr nicht. Auf diese ständig kochende demokratische Basis stützte sich das Zentralkomitee; daraus resultierte seine Kühnheit zur Entscheidung und zum Befehl. Dass die Führung in allen kritischen Etappen eindeutig im Recht war, verschaffte ihr hohe Autorität, dies kostbare moralische Kapital des Zentralismus.

Das Regime der bolschewistischen Partei war demnach, vor allem in der Zeit vor der Machtübernahme, das direkte Gegenteil des Regimes der heutigen Kominternsektionen mit ihren von oben ernannten „Führern“, die auf Kommando kehrtmachen, mit ihrem unkontrollierten Apparat, der sich der Basis gegenüber hochnäsig gibt und vor dem Kreml kriecht. [310]

Trotzki rehabilitierte nicht nur die Haltung der Bolschewiki in der Frage von Fraktionen, sondern brach auch mit der Doktrin von dem Einparteienstaat.

Ursprünglich wünschte und hoffte die Partei, im Rahmen der Sowjets die Freiheit des politischen Kampfes aufrechtzuerhalten. Der Bürgerkrieg korrigierte diese Absichten mit harter Hand. Die Oppositionsparteien wurden eine nach der anderen verboten. In dieser Maßnahme, die so deutlich dem Geist der Sowjetdemokratie widersprach, sahen die Führer des Bolschewismus nicht ein Prinzip, sondern einen episodischen Akt der Selbstverteidigung. [311]

Die Gleichsetzung der Diktatur der Klasse mit der Diktatur der Partei lehnt er ab.

Aber da eine Klasse viele „Teile“ hat – die einen schauen vorwärts, die anderen rückwärts –, kann ein und dieselbe Klasse mehrere Parteien hervorbringen. Aus demselben Grunde kann eine einzige Partei sich auf Teile verschiedener Klassen stützen. Ein Beispiel, wo einer Klasse nur eine Partei entspräche, ist in der gesamten politischen Geschichte nicht zu finden, vorausgesetzt natürlich, dass man nicht den polizeilichen Anschein für die Realität hält. [312]

Und im Jahr 1938 wurde im Programm der Vierten Internationale festgestellt: „Die Demokratisierung der Sowjets ist undurchführbar ohne die Zulassung von sowjetischen Parteien. Die Arbeiter und Bauern werden durch ihre freien Wählerstimmen zeigen, welche Parteien sie als sowjetisch anerkennen.“ [313]

Eine Gesamtschau von Trotzkis Kampf für Arbeiterdemokratie in der Kommunistischen Partei Russlands und im russischen Staat fördert viele Fehler an den Tag. Rückblickend lässt sich leicht feststellen, dass er gelegentlich aus der Not eine Tugend machte, dass er den Kampf früher, spätestens 1923/24 hätte aufnehmen und entschlossener führen und sich früher direkt an die Parteibasis und an die Arbeitermassen selbst hätte wenden müssen. Viele dieser Kritiken sind sicherlich berechtigt, aber sie ignorieren die ungeheuer schwierige Lage, in der sich Trotzki befand, vor allem die damals vorherrschende enorme Passivität der russischen Arbeiterschaft, einschließlich der meisten Parteimitglieder. Trotzki hielt es auch für seine revolutionäre Pflicht, angesichts einer fehlenden Alternative bis zum letzten Moment der Partei gegenüber loyal zu bleiben. Das war eine gewichtige Abwägung, die sich sehr viel leichter als falsch bewerten lässt, nachdem die Entartung für alle sichtbar ihren Lauf genommen hatte – aber nicht in der Hitze des Gefechts. Bei einer ausgewogenen Betrachtung müssen wir Trotzkis große Leistung anerkennen, die marxistische und leninistische Tradition der Parteidemokratie, der Partei als kollektiven und lebenden Organismus gegen eine enorme Übermacht verteidigt und bewahrt zu haben. Wo so viele kapituliert haben und dem Zentralismus und der Idee von der Partei als Vortrupp der Klasse zugunsten von Sozialdemokratie oder Anarchismus den Rücken kehrten, blieb er standfest.
 

Die Strategie der internationalen Kommunistischen Parteien

Stalin verkündete die Theorie vom Sozialismus in einem Land zum ersten Mal im Herbst 1924. Sie bedeutete den offenen Bruch mit der gesamten marxistischen Tradition. Sie wirkte sich zwar nur mittelbar auf die Situation in Russland selbst aus, dafür umso verheerender auf die Kommunistische Internationale und die Strategie der Kommunistischen Parteien weltweit. Solange das Überleben der Russischen Revolution mit dem Erreichen der Weltrevolution verknüpft blieb, war es die konkreteste Form von Solidarität mit Russland und die allererste Pflicht jeder „ausländischen“ Partei, die Revolution im eigenen Land durchzuführen. Mit der vermeintlichen Alternative eines eigenen sozialistischen Wegs nur in Russland war die Weltrevolution keine Notwendigkeit mehr, sondern nur noch optionales Beiwerk. In den Augen Moskaus war es nunmehr die Pflicht der Komintern, alles zu unterlassen, was den Prozess des „sozialistischen Aufbaus“ in Russland stören könnte. So wurden die KPen von Werkzeugen der Arbeiterrevolution zu Werkzeugen der Außenpolitik der russischen Bürokratie. Dieser Wandel ging mit Abschied und Umdeutung von leninistischen Traditionen revolutionärer Politik einher. Trotzki war der wichtigste Verteidiger dieser Traditionen. [314]

An dieser Stelle können wir nicht alle strategischen Fragen erörtern, in denen Trotzki mit Stalin aneinandergeriet. Trotzkis Beitrag zur Parteitheorie wollen wir daher anhand von vier Beispielen kurz anreißen:

Die Zeit des Stalinismus stellte eine anhaltende Pervertierung der leninistischen Parteitheorie dar, bis sie in ihr völliges Gegenteil verkehrt war. Aus einer Theorie der Sammlung und Organisierung der revolutionären Vorhut des Proletariats war der Mythos von Unfehlbarkeit geworden, mit dem alle erdenklichen bürokratischen Manipulationen und Exempel zynischen Verrats gerechtfertigt wurden.

Diese Operation verlief so erfolgreich, dass die in der Praxis so grundverschiedenen Parteitheorien Lenins und Stalins bis heute in den Augen der Öffentlichkeit weitgehend gleichgesetzt wurden. Ohne Trotzkis unermüdlichen Kampf wäre diese Gleichsetzung in der marxistischen Bewegung praktisch unwidersprochen geblieben und der wahre Leninismus unter einem Berg von Lügen begraben.
 

II. Die Vierte Internationale

Trotzkis Verteidigung der leninistischen Parteitheorie als integraler Bestandteil seiner Verteidigung des Marxismus und des Leninismus insgesamt war eine ungeheure Leistung, aber keine, mit der er sich zufrieden geben konnte. Seit der Jahrhundertwende hatte er sich der internationalen Arbeiterrevolution verschrieben, und als er zu der Überzeugung gelangte, dass die stalinistische Kommunistische Internationale dieses Ziel nicht mehr erreichen konnte, hatte er keine andere Wahl, als zu versuchen, selbst eine neue Organisation aufzubauen. Der völlige Zusammenbruch der KPD im Angesicht des Nationalsozialismus und das Ausbleiben von Protest auch nur einer einzigen Sektion der Komintern gegen die offizielle Linie waren für Trotzki der Anlass für diesen Schritt:

Eine Organisation, die der Donnerschlag des Faschismus nicht aufweckt und die eine solche Verhöhnung vonseiten der Bürokratie demütig erträgt, beweist damit, dass sie tot ist und dass nichts mehr sie zum Leben erwecken kann. [315]

Wie Lenin sofort nach der Kapitulation der Zweiten Internationale am 4. August 1914 die Dritte Internationale ausrief, so rief Trotzki 1933 die Vierte Internationale aus.
 

Der Kampf um die Vierte Internationale

Trotzki hatte im Jahr 1933 nur wenige Anhänger und es stand nicht zur Debatte, die neue Internationale sofort zu gründen. Sie musste Stück für Stück und unter widrigsten Bedingungen aufgebaut werden. Auch Lenin war zu Beginn des Ersten Weltkriegs völlig isoliert, aber er besaß immerhin den Vorteil einer soliden nationalen Basis in Gestalt der bolschewistischen Partei. Doch selbst mit dem Rückenwind der siegreichen Russischen Revolution dauerte es weitere zwei Jahre, bis die Dritte Internationale tatsächlich gegründet wurde. Trotzki hatte weder eine solche Basis noch sollte er zu Lebzeiten nochmals eine erfolgreiche Revolution erleben. Die 1930er Jahre waren vielmehr eine Zeit von Rückschlägen für die Arbeiterklasse, beginnend mit der Zerschlagung des deutschen Proletariats (es war die vollkommenste und schändlichste Niederlage einer radikalen, politisch bewussten Arbeiterklasse der Geschichte). Faschistische und ähnliche Regime hielten Mitteleuropa bereits im Würgegriff, als der Sieg Francos in Spanien erfolgte. Währenddessen lähmte die in den 1930er Jahren überall vorherrschende Massenarbeitslosigkeit die Kampfkraft und Organisationsfähigkeit der Arbeiterschaft.

Zu diesem allgemeinen Bild der schwarzen Reaktion kamen weitere besondere Umstände hinzu, die eine Verbreitung des Trotzkismus verhinderten. Die schreckliche faschistische Bedrohung setzte die Arbeiterbewegung unter enormen Druck, die Reihen zu schließen, sich im Angesicht des Feindes zu vereinigen und möglichst neue Spaltungen zu vermeiden. Hand in Hand mit diesem Drang zur Einheit entstand das Bedürfnis nach einem starken Verbündeten, einer Militärmacht, die es mit Hitler aufnehmen konnte, und das konnte natürlich nur Sowjetrussland sein. Auf die Stärke Stalins zugunsten der schwachen Kräfte des Trotzkismus zu verzichten, war eine beinahe unmögliche Forderung. Hitler arbeitete somit Stalin und dem Stalinismus in der Arbeiterbewegung gewissermaßen in die Hände.

Dann war da noch der Umstand, dass Trotzki Ziel von Verleumdungen wurde, die in der Geschichte der Arbeiterbewegung einmalig sind. Die Anschuldigung, Trotzki und die anderen Angeklagten in den Moskauer Prozessen seien Agenten Hitlers oder des japanischen Mikado, war vollkommen absurd, aber „die große Lüge“ hatte so viel Macht, dass Millionen Menschen auf der ganzen Welt ihr glaubten. Es waren auch nicht nur verstockte Kommunisten, die die Verleumdung Trotzkis als Faschist für bare Münze nahmen, auch viele westliche Künstler und Intellektuelle, Romain Rolland beispielsweise, liehen der Anklage ihre Stimme. Andere, wie George Bernard Shaw oder Andre Malraux, suchten unter dem Druck der Volksfront nach Ausreden oder schwiegen einfach. Stalin hatte mit seiner großen Intrige kurzfristig Erfolg. Erstens schreckte sie alle Menschen vom Trotzkismus ab, die nicht die erforderliche Charakterstärke besaßen, um den ständigen Denunziationen und Verleumdungen standzuhalten. Zweitens errichtete sie eine fast unüberwindliche Barriere zwischen Trotzkisten, selbst solchen mit dem besten revolutionären Leumund, und politisch bewussten Arbeitern, so dass sie kein Gehör für ihre Sache mehr finden konnten. Eine Kritik mag noch so gut begründet sein, sie wird keine Beachtung finden, wenn sie angeblich von einem „faschistischen Agenten“ stammt.

Schließlich war da die Schwierigkeit so kurz nach der Gründung der Dritten Internationale, Menschen davon zu überzeugen, wieder von vorne zu beginnen. Trotzki fasste die Situation folgendermaßen zusammen:

Wir machen politisch keine Fortschritte. Ja, diese Tatsache ist Ausdruck des allgemeinen Niedergangs der Arbeiterbewegung in den letzten fünfzehn Jahren [...]

Unsere Situation ist unvergleichlich viel schwieriger als die irgendeiner Organisation zu irgendeiner Zeit, weil wir dem furchtbaren Verrat der Kommunistischen Internationale gegenüberstehen, die wiederum aus dem Verrat der Zweiten Internationale hervorging. Die Entartung der Dritten Internationale entwickelte sich so schnell und so unerwartet (für die Massen), dass dieselbe Generation, die ihre Herausbildung erlebte, uns nun zuhört, und sie sagen: „Aber wir haben dies schon einmal gehört!“ [316]

In dieser entsetzlich schwierigen Situation hatte die trotzkistische Bewegung mit drei Handicaps zu kämpfen. Erstens war sie extrem klein und bestand in vielen Ländern nur aus einer Handvoll Anhänger. Zweitens war ihre soziale Zusammensetzung überwiegend kleinbürgerlich. Drittens war sie – zumindest was ihre Führung anbelangte – eine Organisation von Exilierten, wenn nicht unbedingt aus ihren Heimatländern, so doch aus ihrer Wahlheimat, der lebendigen Arbeiterbewegung. Kleine Gruppen tendieren nun mal leichter als große Parteien zu wiederholten Spaltungen, weil es viel weniger zu verlieren gibt. Und kleinbürgerliche Intellektuelle sind noch viel anfälliger für Fraktionierungen als Arbeiter. „Solche Typen“, schrieb der amerikanische Trotzkistenführer J. P. Cannon, „haben eins gemeinsam: Sie lieben es, Angelegenheiten schier endlos zu debattieren.“ [317] Gerade das Exilleben ist berüchtigt für seine Intrigen und Skandale. Grundsätzlich haben diese Erscheinungen alle dieselbe Ursache, nämlich die Isolation von der großen disziplinierenden Kraft des Klassenkampfs. Die Bewegung der Vierten Internationale litt schwer unter all diesen Erscheinungen und Trotzki musste von Anfang an gegen Fraktionsbildung, Spaltung und kleinkariertes Sektierertum ankämpfen.

Trotzki tat sein Bestes, um aus diesem hoffnungslosen Milieu auszubrechen und für seine Bewegung Anschluss an die Arbeiterklasse zu finden. Als Erstes orientierte er seine Anhänger auf die verschiedenen linken sozialdemokratischen und zentristischen Gruppen wie die britische ILP (Unabhängige Arbeiterpartei) und die deutsche Sozialistische Arbeiterpartei, die weder der Zweiten noch der Dritten Internationale angehörten, in der Hoffnung, auf diesem Weg ein neues Zimmerwald [318] schaffen zu können. Dann führte er sie kurzfristig in die sozialdemokratischen Massenparteien [319] und später wieder hinaus. Im Jahr 1937 und erneut 1939 riet Trotzki der amerikanischen Socialist Workers’ Party dazu, die kleinbürgerlichen Mitglieder auszuschließen, die es nicht schafften, Arbeiter für die Partei zu rekrutieren. [320] Alles war vergeblich. Mit jeder neuen Taktik kamen neue Spaltungen auf, und alle verfehlten ihr Ziel. Die trotzkistische Bewegung hat es niemals geschafft, eine bedeutende Anzahl von Arbeiterinnen und Arbeitern zu gewinnen oder wirklich Teil der Arbeiterbewegung zu werden.

Wir müssen die Frage aufwerfen: Wie wirkten sich diese Umstände auf Trotzkis Parteitheorie aus? Marxisten können zwar dem demoralisierenden Einfluss widriger Umstände standhalten, indem sie an vergangenen theoretischen Errungenschaften und bisherigen Höhepunkten der Bewegung festhalten, wie Lenin es in der Zeit der Reaktion unter Ministerpräsident Pjotr Stolypin in Russland (1906 bis 1911) tat und dann Trotzki selbst in den 1930er Jahren, trotzdem bleibt keine Theorie von der Praxis unberührt und Trotzki war hier keine Ausnahme. Die enorme Kluft zwischen den dringenden Anforderungen und den kläglichen Kräften, diese zu bewältigen, verleitete Trotzki dazu, die Lebensfähigkeit und die Stärke seiner winzigen Organisation zu überschätzen. Sie verleitete ihn auch dazu, sogar theoretisch das Potenzial einer von den Massen getrennten internationalen Führung zu überschätzen und stattdessen in einem am Rande des realen Klassenkampfs verfassten Parteiprogramm den Ersatz für die lebendige Partei als Vorhut des Proletariats und Verallgemeinerer der praktischen Erfahrungen der Arbeiterbewegung zu suchen. Die im Jahr 1938 gefällte Entscheidung, die Vierte Internationale zu gründen, und die daran anknüpfenden Erwartungen machen das deutlich.
 

Die theoretischen Grundlagen der Vierten Internationale

Der sichtbarste Unterschied zwischen der Vierten Internationale und ihren drei Vorläufern zeigte sich bereits auf ihrer Gründungskonferenz. Es war eine bemitleidenswerte Versammlung. Sie traf sich im Geheimen im Haus von Trotzkis altem Freund Alfred Rosmer in Frankreich und dauerte gerade mal einen Tag. Es nahmen nur 21 Delegierte teil, die den Anspruch erhoben, Organisationen in elf Ländern zu vertreten. Es handelte sich aber fast ausnahmslos um winzige Sekten, von denen eine, die „russische Sektion“, vertreten durch den GPU-Agenten Etienne, gar nicht existierte. Nur Max Shachtman, der amerikanische Delegierte, vertrat eine Sektion mit einigen hundert Mitgliedern. Noch im Jahr 1935 hatte Trotzki das Gerede, dass „die Trotzkisten die Vierte Internationale nächsten Donnerstag ausrufen wollen“, als „dummes Geschwätz“ abgetan. [321] Warum hatte es Trotzki mit dieser Proklamation auf einmal so eilig, obwohl seine Bewegung zwischenzeitlich kaum gewachsen war?

Die Antwort müssen wir in Trotzkis Theorie von der „Führungskrise“ des Proletariats suchen. Trotzki war überzeugt, dass der Kapitalismus und der Stalinismus beide in einer Sackgasse steckten. Eine Lösung dieser Krise, von der die Zukunft der ganzen Menschheit abhing, konnte nur eine neue revolutionäre Führung herbeiführen. In der bevorstehenden revolutionären Situation sei die Qualität der revolutionären Führung der entscheidende Faktor, und außerdem würden solche Situationen es auch kleinen Organisationen ermöglichen, schnell Massenanhang zu gewinnen und entscheidenden Einfluss auf den Gang der Ereignisse auszuüben.

Das auf der Gründungskonferenz angenommene Programm „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“, begann mit folgenden Worten:

Die weltpolitische Lage als Ganzes ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet [...]

Die objektiven Voraussetzungen für die proletarische Revolution sind nicht nur „reif“, sondern beginnen bereits zu verfaulen. Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe. Alles hängt nunmehr vom Proletariat ab, das heißt vor allem von seiner revolutionären Vorhut. Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus. [322]

Die Theorie von der „Führungskrise“ war ein Destillat der revolutionären Erfahrung einer ganzen Epoche, von dem positiven Beispiel des Oktober 1917 über die negativen Beispiele von Ungarn 1919, Italien 1920, Deutschland 1923 und 1933, China 1925–27 und Spanien 1931–37. Aber die „allgemeine“ Richtigkeit dieser Theorie bot noch keine praktische Handlungsanleitung. Trotzki behauptete auch keinen Moment lang, die Führung schaffe oder „mache“ die Revolution (wie manche Guevaristen meinen), sie war in seinen Augen lediglich ein entscheidendes „Glied“ in der Ereigniskette, deren andere bedeutende Glieder die objektive ökonomische und politische Krise des Kapitalismus, ein breiter Aufschwung der Arbeiterbewegung und die Existenz einer gut vorbereiteten revolutionären Partei bildeten. Ohne diese Kette bliebe die „Führung“ isoliert, sie schwebte in einem Vakuum und wäre beinahe ohnmächtig, umso mehr, wenn sie von ihren Möglichkeiten und ihrer Bedeutung ein überhöhtes oder falsches Bild hat. Trotzki musste sich dem Problem stellen, dass zentrale Glieder in der Kette fehlten, als er im September 1938 die Vierte Internationale (Weltpartei der sozialistischen Revolution) gründete. Denn es gab weder ein Aufleben der Arbeiterbewegung noch existierte irgendwo auf der Welt eine fest verankerte revolutionäre Partei.

Natürlich war Trotzki sich dessen voll bewusst. Er „löste“ das Problem mit einer Reihe von Prophezeiungen über das unvermeidliche Aufkommen der noch fehlenden Glieder in der revolutionären Kette in naher Zukunft.

Erstens glaubte er, dass der Kapitalismus in seine Endkrise eingetreten sei. „Die wirtschaftlichen Voraussetzungen der proletarischen Revolution sind schon längst am höchsten Punkt angelangt, der unter dem Kapitalismus erreicht werden kann. Die Produktivkräfte der Menschheit stagnieren.“ [323] Die Situation sei derart, dass „weder die Rede sein kann von systematischen Sozialreformen noch von der Hebung des Lebensstandards der Massen“ [324], woraus er den Schluss zog, dass die Sozialdemokratie erledigt sei.

Zweitens hielt er den bevorstehenden Weltkrieg für einen Krieg, der noch mehr als sein Vorgänger eine gigantische revolutionäre Welle entfesseln würde: „Die zweite Geburt ist meistens leichter als die erste. Im neuen Kriege wird man nicht zweieinhalb Jahre auf den ersten Aufstand warten müssen.“ [325]

Drittens hielt er das stalinistische Regime in Russland für höchst instabil. Es sei wie eine auf der Spitze balancierende Pyramide und nicht in der Lage, der Erschütterung des Krieges standzuhalten. „Wenn die Revolution im Westen ihn nicht lähmt, wird er [der Imperialismus] das aus der Oktoberrevolution hervorgegangene Regime auslöschen.“ [326] Und wenn Trotzki auch für die Verteidigung der Sowjetunion eintrat, so konnte er nicht die Tatsache ignorieren, dass ein solcher Umsturz der in seinen Augen bedeutendsten konterrevolutionären Kraft in der Arbeiterbewegung den Todesstoß versetzen würde.

Viertens schloss er – in Übereinstimmung mit Lenins „Imperialismus“ und seiner eigenen „permanenten Revolution“ – die Aussicht auf Unabhängigkeit der Kolonien ohne direkten Zusammenstoß mit dem Imperialismus aus. Und weil die nationalen Bourgeoisien vor diesem Konflikt zurückschrecken würden, müsse die sich erhebende nationale Befreiungsbewegung den Weg der sozialistischen Revolution einschlagen. „Die Fahne des Befreiungskampfes der kolonialen und halbkolonialen Völker, d. h. der größeren Hälfte der Menschheit, ist endgültig an die IV. Internationale übergegangen.“ [327]

Insgesamt lief das auf die folgende Einschätzung hinaus:

Die Epoche, die unaufhaltsam über die europäische Menschheit heraufgezogen ist, wird aus der Arbeiterbewegung restlos alles Zweideutige und Faule ausmerzen. All diese Jouhaux, Citrine, Blum, Cachin, Vandervelde, Caballero sind nur Gespenster. Die Sektionen der Zweiten und Dritten Internationale werden eine nach der anderen ruhmlos von der Bildfläche verschwinden. Eine neue große Umgruppierung in den Arbeiterreihen ist unvermeidlich. Die jungen revolutionären Kader werden Fleisch und Blut bekommen. [328]

Für jede dieser Vorhersagen, die sich zu diesem optimistischen Gesamtbild zusammenfügten, gab es viele Anhaltspunkte. Tatsächlich wurden sie aber alle von der Geschichte widerlegt. Die Kriegsvorbereitungen begannen den Kapitalismus aus der Rezession zu ziehen, und die endgültige Krise, die Trotzki diagnostiziert hatte, verwandelte sich nach dem Krieg in den längsten und spektakulärsten Wirtschaftsaufschwung, den das System jemals erlebt hatte. Stalins Regime brach im Krieg nicht zusammen, sondern trat siegreich und enorm gestärkt aus ihm hervor und dehnte seine Herrschaft auf ganz Osteuropa aus. [329] Und statt „ruhmlos von der Bildfläche [zu] verschwinden“, wachten die sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien auf Grundlage dieser Entwicklungen europaweit zu neuem Leben auf. Und schließlich war der Imperialismus weitgehend in der Lage, den Kolonien ihre Unabhängigkeit im Rahmen eines Deals mit der Kolonialbourgeoisie zu gewähren, so dass das Band zwischen nationaler Befreiung und proletarischer Revolution zerrissen wurde. Die Vierte Internationale blieb auf dem Trockenen.

Trotzki hatte vorausgesagt:

Im Laufe der nächsten zehn Jahre wird das Programm der Vierten Internatio -nale zum Leitfaden für Millionen werden, und diese revolutionären Millionen werden es vermögen, Himmel und Erde zu erstürmen. [330]

Auf ihrem zweiten Weltkongress zehn Jahre später, im Jahr 1948, vertrat die Vierte Internationale immer noch nur winzige Gruppen.

Trotzkis irrige Vorhersagen machten seine abstrakt richtige Theorie von der „Führungskrise“ für praktische Zwecke unbrauchbar. Aber nehmen wir einen Augenblick an, seine Erwartungen hätten sich im Wesentlichen bestätigt – wäre dann alles gut gelaufen? Wäre die winzige Vierte Internationale in der Lage gewesen, die Führung des sich entfaltenden revolutionären Weltprozesses zufriedenstellend zu übernehmen und ihm zum Sieg zu verhelfen? Natürlich ist eine solche Frage, wie alle historischen „Was wäre wenn“-Fragen, nicht genau zu beantworten. Klar aber ist, dass zumindest zwei Hauptprobleme aufgetreten wären, die aus der Entscheidung resultierten, die Vierte Internationale zu gründen.

Erstens waren die trotzkistischen Organisationen so klein und schwach (viel schwächer als zum Beispiel die Bolschewiki im Jahr 1903, die Spartakisten 1914 oder Trotzkis „Zwischengruppe“ 1917) [331], dass sie sich nur schwerlich in einem großen revolutionären Aufstand bemerkbar hätten machen können. Es stimmt zwar, dass kleine Parteien in revolutionären Zeiten erstaunlich schnell wachsen können, aber sie laufen stets Gefahr, von den Ereignissen überwältigt zu werden, wenn sie nicht von Beginn an eine gewisse Größe und Stabilität besitzen. Diese Eigenschaften erwerben sie in mühsamer Parteiaufbauarbeit in der Zeit vor der Revolution. Trotzki hoffte, diese Schwierigkeiten mit einer Reihe von „Übergangsforderungen“ überwinden zu können, die auch kleine Gruppen in die Lage versetzen sollten, sich mit dem Kampf der Massen zu verbinden und sich an dessen Spitze zu stellen. Er schrieb:

Die strategische Aufgabe der nächsten Periode [...] besteht darin, den Widerspruch zwischen der Reife der objektiven Voraussetzungen für die Revolution und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut [...] zu überwinden. Man muss den Massen im Verlauf ihres täglichen Kampfes helfen, die Brücke zwischen ihren augenblicklichen Forderungen und dem sozialistischen Programm der Revolution zu finden. Diese Brücke muss aus einem System von Übergangsforderungen bestehen, die von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und stets zu ein und demselben Schluss führen: zur Machteroberung des Proletariats. [332]

Aber nachdem sich Trotzki dazu entschieden hatte, trotz fehlender Basis in der Arbeiterklasse die Internationale auszurufen, sah er sich gezwungen, „Übergangsforderungen“ aufzustellen und diese zu einem starren System auszuformen, das von den Massenkämpfen isoliert und ihnen weit voraus war. Das war eine falsche Methode. Forderungen, die wirklich „von dem heutigen Bewusstsein [...] ausgehen“ und tatsächlich „zur Machteroberung des Proletariats“ führen, können nicht einfach von einem noch so begabten Theoretiker ausgedacht werden, sie müssen Ausdruck der Massenkämpfe sein. Dazu bedarf es einer verwurzelten Partei, eines Transmissionsriemens zwischen Arbeitern und Führung. Die Vierte Internationale war zu schwach, um eine solche Aufgabe zu übernehmen. Das „Übergangsprogramm“ aus Trotzkis „Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale“ wurde ohne Zusätze oder Korrekturen und fast ohne Diskussion verabschiedet, aber die darin enthaltenen Forderungen nach gleitender Lohnskala, Öffnung der Geschäftsbücher der Großunternehmen, Verstaatlichung der Banken und Arbeitermilizen wurden von den Arbeitern nicht aufgegriffen.

Es ist auch nicht möglich, das Programm der Revolution im Voraus und im Detail festzulegen, wie Trotzki es tat. Die groben Gefechtslinien lassen sich erahnen, aber nicht ihre konkreten Kampfformen, von denen aber gerade die konkreten Forderungen abgeleitet werden müssen. Um die russische Revolution führen zu können, mussten die Bolschewiki ihr Programm komplett überarbeiten, und selbst solche grundsätzliche Parolen wie „Nieder mit der Provisorischen Regierung!“ und „Alle Macht den Räten!“ mussten zeitweilig zurückgenommen und zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgestellt werden.

Das zweite Problem lag in Trotzkis Erwartung einer großen Umgruppierung in der Arbeiterschaft. Diese wäre nur durch Spaltung der sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien und auf dem Weg der Entstehung vieler neuer revolutionärer und halbrevolutionärer Organisationen möglich gewesen. Durch die Gründung der Vierten Internationale lange vor dem Eintreten einer solchen Entwicklung hatte Trotzki die konkrete Form einer Reorganisierung vorweggenommen. Die Aufforderung, einer bereits bestehenden Internationale von Sekten mit ihren kleinkarierten Querelen beizutreten, hätte sich bestimmt als zusätzliches Hindernis auf dem Weg zur Schaffung einer wirklichen Masseninternationale der Arbeiter erwiesen.

Bei der Betrachtung Trotzkis Parteitheorie im Zusammenhang mit der Gründung der Vierten Internationale lohnt es sich, sein eigenes Argument gegen die stalinsche Politik des anglo-russischen Gewerkschaftskomitees in Erinnerung zu rufen:

Am schlimmsten und gefährlichsten ist es, wenn ein Manöver der ungeduldigen opportunistischen Bestrebung entspringt, die Entwicklung der eigenen Partei zu überflügeln und die notwendigen Etappen des Heranreifens derselben zu überspringen – gerade hierbei darf man keine Etappe überspringen. [333]

Als Trotzki die Vierte Internationale ausrief, war es sicherlich kein Opportunismus, es war aber sehr wohl der Versuch, der Entwicklung der eigenen Partei vorauszueilen. Es war nicht viel mehr als eine große Geste, das Hissen einer unbefleckten revolutionären Fahne. Als solche trug sie zusammen mit dem übrigen Werk Trotzkis dazu bei, die beinahe erloschene Flamme des unverfälschten Marxismus am Leben zu erhalten. Aber sie hinterließ der trotzkistischen Bewegung ein falsches Bild von den Aufgaben und dem Wesen der revolutionären Führung, eine Vielzahl irriger Vorstellungen von „Programm“ und „Übergangsforderungen“ und eine Unmenge Illusionen über die eigene Stärke und Bedeutung.
 

Die Degeneration der Vierten Internationale

An dieser Stelle müssen wir die Entwicklung der Vierten Internationale nach Trotzkis Tod genauer betrachten, weil die Fehler aus seinen letzten Jahren erst dann richtig offen zutage traten. Trotzki hatte 1938 geschrieben:

Ist unsere Internationale zahlenmäßig auch noch schwach, so ist sie doch stark aufgrund ihrer Lehre, ihres Programms, ihrer Tradition und der unvergleichlichen Festigkeit ihrer Kader. Wer das heute nicht erkennt, der bleibe noch abseits. Morgen wird es deutlicher werden. [334]

Aber die übrige „internationale Führung“ erwies sich in Ermangelung ernsthafter Erfahrung mit der Arbeiterbewegung oder eigener unabhängiger theoretischer Leistung als unfähig, sich in einer sich wandelnden Welt zurechtzufinden.

Eine Schwäche einer Internationale ohne Basis ist, dass sich ihre Einschätzung der Weltlage immer weiter von der Realität entfernen kann, ohne dass sie einer Überprüfung durch die Praxis unterworfen werden müssen, und genau das passierte. Entgegen der Wirklichkeit hielt die Führung der Vierten Internationale an ihrem Programm fest und erklärte sich bezüglich ihrer Perspektiven sogar voll und ganz bestätigt. Das geriet vollends zur Farce, als James P. Cannon, Führer der amerikanischen Socialist Workers’ Party, sechs Monate nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa schrieb:

Trotzki sagte voraus, dass das Schicksal der Sowjetunion im Krieg besiegelt werde. Das bleibt unsere feste Überzeugung. Wir widersprechen nur einigen Leuten, die in ihrer Unachtsamkeit glauben, der Krieg sei zu Ende [...] Der Krieg ist nicht zu Ende, und die Revolution, von der wir sagten, sie werde aus dem Krieg in Europa hervorgehen, steht nach wie vor auf der Tagesordnung. [335]

Gelegentlich nahm diese Blindheit noch schlimmere Formen an, als beispielsweise Ernest Mandel im Jahr 1946 meinte:

Es gibt überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass uns eine neue Epoche der kapitalistischen Stabilisierung und Entwicklung bevorsteht. Ganz im Gegenteil, der Krieg hat das Ungleichgewicht zwischen der erhöhten Produktivität der Weltwirtschaft einerseits und der Aufnahmefähigkeit des kapitalistischen Marktes andererseits nur noch weiter verschärft. [336]

In einer solchen Situation waren Spaltung und Zersplitterung der Bewegung unvermeidlich. Was die Internationale schließlich ruinierte, war die „russische Frage“ und damit zusammenhängend die Frage Osteuropa. Für Trotzki war Russland wegen seiner verstaatlichten Eigentumsverhältnisse immer noch ein Arbeiterstaat. Die Rolle der stalinistischen Bürokratie im Inneren sah er jedoch als reaktionär an, auf der Weltbühne sogar als konterrevolutionär. Letztere Annahme war überhaupt die historische Rechtfertigung für die Schaffung der Vierten Internationale. Eine Eroberung Osteuropas durch kommunistische Regime kam in dieser Analyse nicht vor – als das aber eintrat, stellte sich die dringliche Frage, die kein Nachschlagen im Programm beantworten konnte: Was ist der Klassencharakter dieser osteuropäischen kommunistischen Staaten? Hier befand sich die trotzkistische Bewegung in der Zwickmühle. Wenn es Arbeiterstaaten waren, dann ergab es keinen Sinn, vom konterrevolutionären Charakter des Stalinismus zu sprechen, es stand auch im Widerspruch zu der marxistischen Theorie von der sozialistischen Revolution, weil die Arbeiterklasse Osteuropas an ihrer „Emanzipation“ kaum beteiligt war. Waren diese Länder aber kapitalistisch, wie erklärte sich dann die völlige Übereinstimmung ihrer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Struktur mit der der Sowjetunion? Der einzige mit dem revolutionären Marxismus zu vereinbarende Ausweg bestand darin, auf die Bezeichnung Russlands als Arbeiterstaat zu verzichten, aber das hätte die ausdrückliche Revision des heiligen Programms bedeutet. [337]

Stattdessen folgte die Vierte Internationale einem Zickzackkurs und spaltete sich wiederholt. Zuerst versuchte sie, an der Position festzuhalten, die „Pufferstaaten“ seien immer noch kapitalistisch. Unter dem Eindruck des Bruchs zwischen Stalin in Russland und Josip Broz Tito in Jugoslawien im Jahr 1948 schwenkte sie dann zu einer implizit stalinismusfreundlichen Sichtweise um, wonach die Rote Armee Geburtshelfer für eine Reihe „deformierter Arbeiterstaaten“ gewesen sei. Zwischenzeitlich unternahm sie den opportunistischen Versuch, mit Marschall Tito zu flirten, bis es unter der Führung von Michel Pablo zu einer erneuten Wendung hin zum Stalinismus kam, die in der Theorie gipfelte, die Welt stünde am Vorabend eines erneuten Weltkriegs, der die stalinistischen Parteien zur Radikalisierung zwingen würde. Die logische Schlussfolgerung lautete, dass die trotzkistischen Parteien sich auflösen und sich wieder als linke Strömung innerhalb der kommunistischen Parteien betätigen sollten. Diese ganze Entwicklung wurde von unzähligen Spaltungen und Ausschlüssen begleitet, bis es zu einem entscheidenden Bruch kam. Angeführt von der amerikanischen Socialist Worker‘s Party (SWP) schreckten große Sektionen der Internationale vor diesen Selbstauflösungstendenzen zurück und brachen mit der Führung, wobei sie lediglich Pablos Schlussfolgerungen ablehnten, nicht aber seine Prämissen. Die von Trotzki gegründete internationale Bewegung lag nun in Trümmern – in theoretischer, in politischer und auch in organisatorischer Hinsicht.

Aufgrund dieses Trauerspiels gibt es heute mindestens vier Organisationen, die von sich behaupten, die Vierte Internationale zu sein, und etliche andere sehen sich „im Aufbau“ der Vierten Internationale. Allein in Großbritannien gibt es etwa ein Dutzend „orthodox“-trotzkistischer Gruppierungen, von denen alle behaupten, Anhänger des „Evangeliums“ des Programms von 1938 zu sein.

Natürlich hat auch die leninistische Parteitheorie, die Trotzki so lange verteidigt hat, die Entartung des Trotzkismus nicht unbeschadet überlebt. Während alle trotzkistischen Sekten am Buchstaben dieser Theorie festhalten, hat ihr „Geist“ zwei Arten von Revision erfahren. Die erste kann als extrem dogmatisches Sektierertum bezeichnet werden. In dieser Spielart beansprucht die Organisation, mag sie noch so klein und bedeutungslos sein, das Recht auf die Führung der Arbeiterklasse. Sie definiert sich nicht aufgrund ihrer Rolle im Klassenkampf als revolutionäre Partei, sondern aufgrund ihrer „richtigen Theorie“ und ihres „richtigen Kurses“. Sie betrachtet die Partei nicht nur als gesondert von der Arbeiterklasse insgesamt, sondern auch als gesondert von ihren fortschrittlichen Teilen. Wenn die Partei für Lenin sowohl Lehrer als auch Lernender war, so versucht sich diese trotzkistische Variante als Schulmeister der Arbeiterklasse. Nach innen neigen solche Organisationen zu Autoritarismus und Hexenjagden und bisweilen sogar zum Führerkult. Sie leiden unter Größenwahn, Paranoia und der Unfähigkeit, der Realität ins Auge zu blicken.

Die zweite Variante kann als kleinbürgerlicher Opportunismus bezeichnet werden. Obwohl sie gelegentlich die „Rolle der Arbeiterklasse“ hervorhebt, nimmt sie das Scheitern ihrer Bemühungen, eine Basis in der Klasse zu etablieren, als gegeben hin und sucht stattdessen nach Ersatz. Es können da Solidaritätsbewegungen mit der Dritten Welt, rebellierende Studenten, Black Power oder die Frauenbewegung sein. Damit einher geht a) ihr Verbleib in einem kleinbürgerlichen Milieu und ihre Anpassung an dieses und b) das Aufschieben der zentralen Aufgabe, in die industrielle Arbeiterklasse vorzudringen und sie zu organisieren, auf eine unbestimmte Zukunft. Die Sekte degeneriert zu einem akademischen Debattierzirkel mit theoretischer Blasiertheit, der für Arbeiter unbewohnbar bleibt.

Beide Varianten des „Trotzkismus“ stützen ihre Parteitheorie vorzugsweise auf den frühen Lenin, nach dem der Sozialismus von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden müsse. Denn das ist genau die Ausrede, die beide als Rechtfertigung für ihre Isolation von der Arbeiterklasse benutzen. In Wirklichkeit sind sie im Namen Lenins und Trotzkis bei einer völligen Karikatur der wirklichen leninistischen und trotzkistischen Parteitheorie angelangt.

Selbstverständlich wäre es unangebracht, Trotzki die Verantwortung für all die Albernheiten zu geben, die seine eifrigen Anhänger später begingen. Trotzdem existiert eine gewisse Kontinuität zwischen den Fehlern, die sein Konzept von der Vierten Internationale aufwies, und ihrer späteren Entwicklung. Um eine Metapher von Trotzki zu benutzen, entzündeten sich die leichten Kratzer in seiner Parteitheorie, die den verheerenden Bedingungen der 1930er Jahre geschuldet waren, und Verfall setzte ein, bis das Konzept der revolutionären Partei als Organisation der fortschrittlichen Arbeiter schließlich aufgegeben wurde.

* * *

Anmerkungen

293. Eine Darstellung der grundlegenden Ursachen für die Entartung der russischen Revolution bietet Harman, Chris, Russland – wie die Revolution scheiterte, http://www.marxists.org/deutsch/archiv/harman/1967/xx/revolution.htm.

294. Trotzki, Leo, Verratene Revolution, TS, Bd. 1.2, S. 992.

295. Marx und Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 482.

296. Es war Parteimitgliedern verboten, mehr als ein festgelegtes Maximum (etwa einen Facharbeiterlohn) zu verdienen. Diese Regelung wurde später von Stalin stillschweigend abgeschafft.

297. Trotzki, Leo, Der neue Kurs, Berlin 1972.

298. Trotzki, Der neue Kurs, S. 14.

299. Trotzki, Der neue Kurs, S. 14.

300. Trotzki, Der neue Kurs, S. 24.

301. Trotzki, Der neue Kurs, S. 29.

302. Trotzki, Der neue Kurs, S. 59–59.

303. Trotzki, Der neue Kurs, S. 33—34.

304. Trotzki, Der neue Kurs, S. 32 f.

305. Trotzki, Der neue Kurs, S. 31.

306. Shachtman, Max, Introduction zu Trotsky, Leon, The New Course, Ann Arbor 1965, S. 3.

307. Trotzki, Leo, Entwurf einer Plattform der Vereinigten Opposition, in: Trotzki Schriften (TS), Bd. 3.2, Hamburg 1997, S. 951–53.

308. Trotzki, Entwurf einer Plattform, TS, Bd. 3.2, S. 962-364.

309. Trotzki, Entwurf einer Plattform, TS, Bd. 3.2, S. 1008.

310. Trotzki, Leo, Verratene Revolution, TS, Bd. 1.2, Hamburg 1988, S. 789–790.

311. Trotzki, Verratene Revolution, TS, Bd. 1.2, S. 791.

312. Trotzki, Verratene Revolution, TS, Bd. 1.2, S. 969.

313. Trotzki, Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der IV. Internationale (Das Übergangsprogramm), Essen 1997, S. 124.

314. Trotzkis Kritik der Politik der Kommunistischen Internationale ist nachzulesen vor allem in: Die III. Internationale nach Lenin, China, Portrait des Nationalsozialismus – Ausgewählte Schriften 1930–1934 und Spanien 1931–39.

315. Trotzki, Leo, Man muss von neuem kommunistische Parteien und eine Internationale aufbauen, 15. Juli 1933, TS, Bd. 3.3, Köln 2001, S. 407.

316. Trotzki, Leo, Gegen den Strom kämpfend, April 1939 http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/04/gegenstrom.html.

317. Cannon, James P., History of American Trotskyism.

318. Zimmerwald war die berühmte Konferenz, auf der sich die internationalistischen Sozialdemokraten neu gruppierten.

319. Diese Taktik wurde als „französische Wende“ bekannt, weil sie erstmalig mit dem Eintritt in die Sozialistische Partei Frankreichs angewendet wurde. In späteren Jahren bot sie Grundlage für die Taktik des „Entrismus“ (Eintritts) vieler trotzkistischer Gruppierungen.

320. Trotzki, Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 128 und 132.

321. Trotsky, Leon, Centrist Alchemy Or Marxism? (24. April 1935), in: The New International, Bd. II, Nr. 4, Juli 1935, http://www.marxists.org/archive/trotsky/1935/04/centrism.htm.

322. Trotzki, Leo, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 83-84.

323. Trotzki, Übergangsprogramm, S. 61.

324. Trotzki, Übergangsprogramm, S. 65.

325. Trotzki, Verratene Revolution, TS, Bd. 1.2, S. 936.

326. Trotzki, Verratene Revolution, TS, Bd. 1.2, S. 931.

327. Trotzki, Übergangsprogramm, S. 116.

328. Trotzki, Leo, Frankreich an der Wende, Vorwort zur französischen Ausgabe von Terrorismus und Kommunismus (1936); siehe http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/03/wende.htm. Siehe auch: Trotzki, Leo, Wohin geht Frankreich?, Essen 1977.

329. Trotzkis Vorhersage, das stalinistische Regime werde in einem Krieg zusammenbrechen, basierte auf seiner Einschätzung, dass die Sowjetbürokratie keine voll ausgebildete gesellschaftliche Klasse war, sondern eine parasitäre Kaste ohne tiefe Wurzeln in der Sowjetgesellschaft. Sie war mit seinen Worten Ausdruck der „Armut der Gesellschaft an Konsumgütern mit dem daraus entstehenden Kampf aller gegen alle“: „Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wird die Schlange sehr lang, muss ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie.“ (Verratene Revolution, TS, 1.2, S. 810.) Die Bürokratie agierte somit in der Verteilungs sphäre. Trotzki verwarf die Vorstellung, dass „die Bürokratie eine historische Zukunft als herrschende Klasse besitzt, die für das entsprechende Wirtschaftssystem unentbehrlich ist“. (Verteidigung des Marxismus, S. 27.) Diese Charakterisierung ergab sich aus Trotzkis Analyse der Sowjetunion als eines degenerierten Arbeiterstaats. Dass die stalinistische Bürokratie vollkommen unerwartet ein hohes Maß an Stabilität und Beständigkeit aufwies, ist ein Beleg für die Fehlerhaftigkeit der Analyse Trotzkis und zeigt, dass die Bürokratie in der Tat eine gesellschaftliche Klasse war, die über einem staatskapitalistischen System waltete. Siehe Cliff, Tony, Staatskapitalismus in Russland – Eine marxistische Analyse, Frankfurt 1975, insbesondere S. 156–165 und S. 237–239.

330. Trotsky, Leon, On the founding of the Fourth International (Rede zur Feier der Gründung der Vierten Internationale, 28. Oktober 1938), in: Fourth International, Monatsmagazin der Socialist Workers Party, USA, Bd. 1, Nr. 5, Oktober 1940, S. 141–142. Siehe das Original der Zeitschrift: http://www.marxists.org/history/etol/newspape/fi/vol01/no05/v01n05-w05-oct-1940.pdf. Gegründet wurde die Vierte Internationale am 3. September 1938 in Paris.

331. Die „Zwischengruppe“ (Meschrajontsi, wörtlich: zwischenbezirkliche sozialdemokratische Organisation), die sich zwischen den Bolschewiki und den Menschewiki verortete, hatte allein in Petersburg eine größere Mitgliedschaft als die meisten Ländersektionen der Vierten Internationale. Dennoch zweifelte niemand daran, dass sie zu klein war, um den Gang der Ereignisse wesentlich zu beeinflussen. Erst durch den Zusammenschluss mit den Bolschewiki konnte Trotzki effektiv an der Gestaltung der Geschichte mitwirken.

332. Trotzki, Leo, Übergangsprogramm, S. 86.

333. Trotzki, Leo, Die Dritte Internationale nach Lenin, Dortmund 1977, S. 183.

334. Trotzki, Übergangsprogramm, S. 132.

335. Cannon, James P., Russian Revolution – Our Appraisal“, in: The Militant, 17. November 1945, S. 7. Siehe das Original der Zeitung hier: http://www.marxists.org/history/etol/newspape/themilitant/1945/v9n46-nov-17-1945.pdf. Siehe auch: Hallas, Duncan, Die Geschichte der Vierten Internationale, Frankfurt am Main (ohne Jahr), S. 39.

336. Mandel, Ernest, The New Imperialist Peace and the Building of the Parties of the FI, in: Workers International News, November/Dezember 1946, http://www.marxists.org/history/etol/newspape/win/vol06/no10/resolution.htm. Siehe auch: Hallas, Duncan, Geschichte der Vierten Internationale, S. 45.

337. Trotzkis Frau Natalia Sedowa unternahm diesen Schritt. Als sie 1951 aus der Vierten Internationale austrat, schrieb sie: „Von alten und überlebten Formeln besessen, fahrt Ihr fort, den stalinistischen Staat als einen Arbeiterstaat zu bezeichnen. Ich kann und werde Euch darin nicht folgen. Im Grunde genommen hat L. D. Trotzki in jedem Jahr seines Kampfes gegen die usurpatorische stalinistische Bürokratie wiederholt, dass dieses Regime sich [...] nach rechts entwickelt. [...] Wenn diese Entwicklung anhält, sagte er, wird es mit der Revolution zu Ende und die Restauration des Kapitalismus erreicht sein. Dies ist es, was sich unglücklicherweise ereignet hat, wenn auch in neuen und unerwarteten Formen. [...] Ihr haltet daran fest, dass die Staaten Osteuropas, über die der Stalinismus während und nach dem Krieg seine Vorherrschaft errichtet hat, ebenfalls Arbeiterstaaten sind. Das ist das Gleiche, wie zu sagen, der Stalinismus habe eine revolutionäre sozialistische Aufgabe durchgeführt. Ich kann und will Euch darin nicht folgen.“ (Der Brief, aus dem dieser Auszug stammt, ist vollständig enthalten in Hallas, Duncan, Trotzki, Frankfurt am Main 1976, S. 18–21) Ein anderer war Tony Cliff, der 1947 die erste vollständig ausgearbeitete Analyse des Staatskapitalismus in Russland hervorgebracht hat: Staatskapitalismus in Russland – eine marxistische Analyse, Frankfurt am Main 1975).




Zuletzt aktualisiert am 21. Dezember 2022